Der Begriff der Komplementarität

Wer hier eine Nähe zum Begriff der Komplementarität in der Physik verspürt, darf seinen Vermutungen ruhig trauen. Also ist an dieser Stelle ein weiterer kurzer Blick auf die Physik und den Begriff der Komplementarität nicht schädlich. Das von Niels Bohr in die Quantenphysik eingeführte Komplementari-tätsprinzip kennzeichnete er selbst mit dem Satz: „Die Begriffe Teilchen und Welle ergänzen sich, in-dem sie sich widersprechen; sie sind komplementäre Bilder des Geschehens.“ Komplementarität ist hier in der Physik als ein Begriff der Erkenntnistheorie veranschlagt, für zwei widersprüchliche, einan-der ausschließende, nicht aufeinander reduzierbare Beschreibungsweisen (Licht als Welle oder Teilchen) oder Versuchsanordnungen, die aber in ihrer wechselseitigen Ergänzung zum Verständnis eines Phänomens oder Sachverhaltes im Ganzen notwendig sind.

Nehmen wir ein Beispiel, in dem Wissen und Verhalten nicht anders denn komplementär zu verstehen ist, außer, man will es falsch verstehen. Wir erleben es selbst in Ausnahmesituationen, dass wir alles daran setzen, einem geregelten Alltag nachzugehen, gleichwohl die Situation alles andere als geeignet dazu ist. In der Ukraine versuchen die Menschen selbst in Städten mit Bombenbeschuss alltäglichen Verrichtungen nachzugehen, wohl wissend, dass die Situation eine Ausnahmesituation ist und jederzeit mit einem Beschuss zu rechnen ist. Notfall-Mediziner wie überhaupt die meisten klinischen Mediziner kennen diese Situationen und nicht auf Kinder-Krebsstationen, die in der Ausübung des Berufs so viel abverlangen, dass eine „Verarbeitung“ in der „Freizeit“ kaum, eher gar nicht möglich ist. Das Wissen um die Außergewöhnlichkeit und das Verhalten, Gewohnheiten herzustellen sind komplementär, kein „Sowohl-als-auch“ oder gar ein kausaler Ablaufprozess. Man weiß um die Ausnahme und verhält sich trotzdem alltäglich. Hier hilft auch keine Psychologie mit Begriffen wie Ver-drängung und Verleugnung. Verdrängt werden können ja nur Emotionen und eine Verleugnung einer extrem belastenden Situation liegt nicht vor im vollständigen Wissen darum. Das meinen wir mit Komplementarität, die beides gleichwertig in den Blick nehmen muss, um ein Verständnis zu erreichen, und dieses Beispiel soll paradigmatisch für viele mögliche Transformationen physikalischer Beobachtungen in die Alltagswelt des menschlichen Daseins stehen.

Dieser Begriff der Komplementarität wurde auf viele Gebiete übertragen und wurde im Laufe der Zeit vieldeutig und meint heute häufig nur noch ein grundsätzliches „Sowohl-als-Auch“, was aber wenig hilfreich, ja sogar falsch ist. Zwei komplementäre Eigenschaften gehören in der ursprünglichen Bestimmung des Begriffs der Komplementarität zusammen, sofern sie dieselbe Referenz haben, also dasselbe „Objekt“ betreffen, jedoch kausal nicht voneinander abhängig sind. Die zwei verwendeten Methoden bzw. Beschreibungen der Beobachtungen unterscheiden sich grundsätzlich im Verfahren und können in der Regel nicht gleichzeitig, sondern nur nacheinander eingesetzt werden.

Kommen wir aber noch einmal auf Martin Heidegger zurück und lesen, dass das Sein allein als Verständnishorizont zu beschreiben jedoch die ontologische Dimension des Begriffs verfehlt. Denn „Sein“ bezeichnet ja das, was ist. Das Sein ist also nicht eine Vorstellung, die wir von den Dingen haben und dann gleichsam über diese werfen, so dass sie uns innerhalb der Welt verständlich werden. Sein und Verstehen fallen vielmehr untrennbar zusammen: nur das, was verstanden ist, ist auch. Und alles, was ist, ist verstanden; das kann auch einschließen etwas falsch zu verstehen. Dies bedeutet, dass die Welt nicht aus singulären Objekten besteht, sondern eine sinnhafte Totalität ist, in der sich immer schon Bezüge unter den Dingen ausgebildet haben. Hinter diese Bezüge kann nicht zurück-gegangen werden.

Das versuchten viele und andere versuchen es heute erneut. Jene begannen ihre Zweifel beim Kind als eines „Sujet enfants“ (Lacan), diese bemühen künstlerisch-kreative Prozesse als unmittelbare Erfah-rungen jenseits von Sprache und Verständnishorizonten. Heidegger weist mit seiner Betonung des Verstehens von Sinn vor allem Vorstellungen der Erkenntnistheorie ab. Diese hatte stets gefragt, wie etwas in Raum und Zeit erkannt wird, wie sich also ein vollkommen bezugsloses Objekt einem Subjekt zeigen kann. (Heideggers Beispiel: Wie ist es möglich, diesen Würfel in Raum und Zeit zu erkennen?) Nun ist jedoch die Welt gerade durch ihre sinnhaften Bezüge bestimmt, die sich nicht nachträglich aus den Dingen konstruieren lassen, sondern dem Verständnis jedes Dings vorausgehen müssen, da-mit wir es überhaupt als Ding (Werkzeug, Zeug etc.) begreifen. Auch das Unverstandene wie auch das Sujet enfants ist daher in das Sein eingebunden, gerade als das, was sich durch seine Sinn- und Bezugslosigkeit auszeichnet.

Wir können also hier festhalten, dass für die Philosophie wie für die Physik ein Verständnishorizont, also eine Idee, bzw. ein Sinnzusammenhang existiert, in dem uns „Objekte“, Seiendes erscheint. Die Physik betrachtet dabei qua Setzung eines Gegenstandes und ihrer Wissenschaft Seiendes bzw. die Welt als eine äußerliche Ansammlung singulärer Objekte, die in irgendeinem Zusammenhang stehen, wobei dieser Zusammenhang sinnvoll nur sein kann, wenn er als eine nachvollziehbare Gesetzmäßigkeit, hier die Naturgesetze, erkannt wird. Ein erkennendes Subjekt, ein auf sich als Sinn konstituierender Wissenschaftler oder ein wissenschaftlicher Diskurs existieren hier noch nicht. In Folge dieser Setzung kommt die Physik dann natürlich auch nicht umhin, sich in die erkenntnistheoretischen Gefilde aufzumachen, um die Trennung zwischen Objekt (Phänomen) und Subjekt (Beschreibung) wieder zusammenzubringen. Man darf daher getrost sagen, dass mit Heisenbergs Unschärferelation die Erkenntnistheorie auch in die Wissenschaft der Physik Einzug gefunden hat. Wir können also bis hierher festhalten, dass das menschliche Dasein in einem „Universum“ von Sinn auftaucht, einem Verständ-nishorizont oder einer Idee, die dem menschlichen Dasein vorgängig ist, die der Mensch zunächst einmal vorfindet als ein Ganzes, eine sinnhafte Totalität an Bezügen zwischen dem, was war, ist und auch zwischen dem, was möglich ist.

Bleiben wir noch ein wenig bei der Physik. Die Experimente in der Physik erlauben es, die guten von den schlechten Ideen zu unterscheiden, ja die schlechten sogar als falsch oder unwahr, für die Zukunft auch als unbrauchbar zu erkennen und damit möglicherweise auch zu transzendieren, zu überwinden. Aber nur, wenn die Ideen unter unterschiedlichen Bedingungen geprüft und die Experimente immer wieder, am besten von unterschiedlichen Wissenschaftlern zu unterschiedlichen Zeiten an unterschiedlichen Orten in der Welt wiederholt werden. Aber wie ist es mit der theoretischen Phy-sik, die ja die Idee, also der Verständnishorizont für die angewandte Physik ist? Deren Ideen lassen sich ja nicht auf diese wissenschaftliche Weise überprüfen. Versuchte man dies, geriete man unweigerlich in einen tautologischen Zirkel und nichts wäre bewiesen. Aber ist es denn so von Nachteil und wenn ja, worin läge dieser, wenn die theoretische Physik und die angewandte Physik beide ein Eigenleben hätten, was sich ja im Verlaufe des letzten Jahrhunderts abzuzeichnen begonnen hat? Wenn dem so ist, dass sich die theoretische Physik mit der Idee des Universums beschäftigt, in der neben den Loops auch noch weit mehr unsere Intuition strapazierenden Begriffe wie Dunkle Materie und Schwarze Löcher auftauchen und dies als reine Spekulation nicht nur möglich, sondern auch notwendig wäre, was wäre dann?

Wir müssen an dieser Stelle an Kants Kritik der reinen Vernunft erinnern, der dort sagte: Anschauungen ohne Begriffe sind blind und Begriffe ohne Anschauungen leer. Die theoretische Physik wäre dann voll von blinden Begriffen und leeren Anschauungen. Aber schauen wir auf die Kraft und die Auswir-kungen, die die theoretische Physik auf deren praktische Disziplin ausgeübt hat und wohl auch weiterhin ausüben wird, dann sieht die Bilanz für die theoretische Physik nicht ganz so miserabel aus.