Die Euro-Einführung in Griechenland, erzählerisch behandelt, wäre ein Schelmenroman; honi soit qui mal y pense! Eine schelmische Erzählung einer modernen Tragödie aus Betrug und Verrat, Lebensfreude bis in den Selbstmord. Und am Ende steht noch die Lynchjustiz. ‚Das Leben lieben und den Tod nicht fürchten‘ ist nicht nur das Leitmotiv des griechischsten aller modernen griechischen Romane: Alexis Sorbas, es ist das Leitmotiv der jüngsten Geschichte Griechenlands mit dem Regime der Obristen, welches nach dem Putsch von 1967 das griechische Lebensgefühl in Gewalt und Unterdrückung erstickte. Geblieben war den Griechen die Furchtlosigkeit vor dem Tod.
Als nach 1974 die Junta die Regierungsmacht verlor, hatten die bis heute nachfolgenden Regierungskasten gelernt, sich hemmungslos aus der Staatskasse zu bedienen, ihre komplette Verwandtschaft in Staat und Wirtschaft unterzubringen und so einem einzigartigen Klientelismus in Europa zu frönen, der nur noch von der italienischen Mafia überboten wird. Die griechische Leitidee wurde zur griechischen Binsenweisheit: Alles, was man brauche, sei ein Offizier. Nachdem die Offiziere sich in Verwaltungsbeamte verwandelt hatten, galt das Wort „Fakilaki“, kleiner Briefumschlag, für alles und jeden im privaten wie im Wirtschaftsleben . In der Zeit nach der ersten, freien Parlamentswahl nach dem Ende der Griechischen Militärdiktatur zwischen 1967 und 1974 und der Einführung des Euros im Jahr 2001 stieg das griechische BIP moderat, um ab 2001 steil anzusteigen bis zur Staatsschuldenkrise 2008, ab der es bis 2016 nur noch den Weg nach unten kannte. Das alles aber besagt wenig in unserem Kontext. Als Griechenland 1981 als 10. Mitglied in die EWG (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft) aufgenommen wurde, musste es auf seine damals recht hohen Importzölle verzichten, die die heimischen Produzenten vor dem ausländischen Wettbewerb schützten. Zwar erhielt das Land einiges an Wirtschafts- und Strukturhilfen, aber das stärkte seine Wettbewerbsfähigkeit wenig.
Das Resultat war, dass ein deutlicher Rückgang der selbständig Beschäftigten zu verzeichnen war, der von 52 Prozent in 1981 auf unter 35 Prozent in 2008 fiel. Die Lücke wurde nicht durch lohnabhängige Erwerbsarbeit geschlossen und das Gesamtbild der griechischen Wirtschaft verzerrt durch die zunehmende Prosperität von großen Konzernen, die als Importeure von Gütern aus europäischen Partnerländern gerne gesehen wurden. Steuern zahlten diese Konzerne wenig und lediglich ein paar Jahre einer vorübergehenden Stimulierung der griechischen Wirtschaft und einem wirtschaftlichen Aufschwung, der hauptsächlich auf Staatsaufträgen beruhte, bescherte dem Land eine realwirtschaftliche Pseudoperspektive.
Griechenland hatte und hat außer dem Tourismus keine nennenswerte Exportwirtschaft. Es hatte und hat bis heute sogar ein riesiges Handelsdefizit im Agrarsektor, was jeden Tourist tagtäglich verwundert, scheinen die klimatischen Bedingungen doch ideal, jedenfalls noch besser als die in Israel, das aus viel weniger Fläche viel mehr an Agrarexporten macht. Man wundert sich, einige der Tomaten kommen aus Holland auf die griechischen Touristentische, raffiniertes Olivenöl aus Deutschland in die Pfanne und natives Olivenöl, ursprünglich aus Kalamata, mit italienischem Markenetikett auf den griechischen Salat und die holländischen Tomaten. Was man auf seinen Frühstückstischen nicht serviert bekommt ist der Kapitalimport, den Griechenland jahrelang nach der Einführung des Euro zu verzeichnen hatte. Ausnahmslos alle Volkswirte werfen Griechenland diesen Kapitalimport vor, insofern sie in ihm die Ursache der Krise Griechenlands sehen. Das liegt nahe. Die europäischen Länder haben das Gros der Kapitalforderungen zu verantworten, vornehmlich Deutschland und Frankreich bzw. die Banken beider Länder. Selbst die USA waren bei der Kreditvergabe an Griechenland wesentlich zurückhaltender, alle anderen, auch die anderen europäischen Länder sogar noch mehr. Für Griechenland war der Geldsegen wie ein später Marshall-Plan nach all den Jahren weit außerhalb der Marktwirtschaft, von der Griechenland so überhaupt nichts wusste, weder zu Zeiten der Monarchie noch bei den Obristen.
Der Monarch lebte von der Ausbeutung von Boden und Menschen, die Obristen, meist reiche Familien, ebenso. Nur die Offiziere und Staatsdiener hatten einigen Nachholbedarf und griffen selbst ordentlich zu, wo immer eine Kasse offenstand. Und der junge, demokratische Staat tat ein Übriges. Die Lohnkosten pro Staatsbediensteten verdoppelten sich fast nach Angaben der OECD im Zeitraum von 1999 und 2008, stiegen um sagenhafte 7,6% pro Jahr. Die Lohnkosten je Beschäftigten beim Staat wuchsen im selben Zeitraum um 62% oder 4,5% p.a.; eine schöne Lohnsteigerung, weit über dem Durchschnitt in der Eurozone, ein kräftiger Schluck aus der Pulle und eine nie enden wollende Party. Kein deutscher oder französischer Banker wollte gemerkt haben, dass allein die Lohnkosten beim griechischen Staat um mehr als 13 Prozent schneller wuchsen als die griechische Volkswirtschaft, die es gerade einmal auf 0,8% Wachstum p.a. brachte. Während die Lohnkosten in Deutschland im Zeitraum um etwa 15 Prozent stiegen, gelang den Griechen ein märchenhafter Wohlstandswachstum von 95 Prozent in den Privathaushalten; es lebe die Politische Ökonomie!
Der Lebensstandard der Griechen erreichte im Jahr 2008 knapp 82% von dem der deutschen Erwerbstätigen und, wen wundert es, die Griechen gaben auch ordentlich Geld aus und zwar wieder verglichen mit der damals drittgrößten Industrienation der Welt etwa über 90 Prozent. Das Rentenniveau eines griechischen Durchschnittsverdieners erreichte im Jahr 2006 nach einer aktiven Erwerbszeit von nur 15 Jahren satte 111% des durchschnittlichen Nettoverdienstes in der aktiven Zeit. Im Vergleich dazu mussten deutsche Erwerbstätige 35 Jahre aktiv Beiträge zahlen, um auf einen Rentenanspruch von 61 Prozent des Nettoverdienstes zu kommen ; dem Kapitalexport der deutschen und französischen Banken sei Dank für die griechischen Segnungen. Und natürlich mussten gerade diese Institute zuerst gerettet werden, als der griechische Staat unter der Schuldenlast zusammenbrach.
Die griechische Staatsverschuldung lag 2017 mit 323 Mrd. Euro bei 160% des BIP, das bei knapp 200 Mrd. Euro lag. Das war also das Ergebnis eines von Banken initiierten europäischen Marshall-Plans, eine Phantasmagorie „blühender Landschaften“ Arkadiens. Stellen Sie sich vor: jeden Morgen klingelt es, Sie öffnen, und jemand hat Ihnen einen Sack Geld vor die Tür gestellt. Was tun Sie? Was tun Sie nach einer langen Zeit der Monarchie, in der Sie von feudalen Großgrundbesitzern beherrscht wurden, die auf ein vierhundert Jahre langes osmanisches Reich folgten? Ende des 19. bis hinein in das 20. Jahrhundert war das griechische Staatsgebiet ein Flickenteppich, der alle paar Jahre durch Krieg und Besatzung sein Aussehen änderte. Als Griechenland den Euro einführte hatte es kleine Etüden der Marktwirtschaft erlernt, vor allem durch einige Jahre intensiver Wirtschaftsbeziehungen mit der BRD. Aber die Bürger Griechenlands waren eher arm, an der Demokratie wie an der Marktwirtschaft völlig unerfahren, was bis heute in Teilen noch anhält. Die griechischen Wähler glaubten Jahrzehnte lang, dass erfolgreiche Neofeudalisten, einige von ihnen auch verehrte Freiheitskämpfer, die aber nie etwas anderes als ihren Vorteil im Sinn hatten, die besten Staatsführer seien; solchen weitverbreiteten Irrglauben gibt es allerdings nicht nur in Griechenland. Selbst die USA hat darin Mehrheiten bei Wahlen.
Als Griechenland in die EU und die gemeinsame Währung aufgenommen wurde, übrigens nur durch die massive Intervention des damaligen Bundeskanzlers Kohl, erfüllte das Land wohl keines der Maastricht-Kriterien. Von einer Konvergenz, einer Übereinstimmung mit marktwirtschaftlichem Wirtschaften und einer auf demokratischen Institutionen aufgebauten Verwaltung des Staates war das Land weit entfernt und ist es in vielen Sachlagen auch heute noch. Eine effiziente Steuerverwaltung gibt es bis heute nicht, Grundbücher, Katasterämter, Aufsichtsbehörden usw. müssen noch aufgebaut werden. Nicht nur die sogenannten Reichen des Landes beherrschen den Staatsbetrug. Steuerhinterziehung hat sich in Griechenland zu dem konstanten und ständig wachsenden Phänomen entwickelt, das verheerende Auswirkungen auf die öffentlichen Einnahmen und damit die öffentlichen Finanzen hat. Die nicht vorhandene Steuermoral ist eine der großen Krankheiten des Landes und die Steuerhinterziehung ihre chronische Ausprägung, die gleichsam der Volkssport der Griechen ist; neben Fußball, versteht sich.
Milliardenbeträge wurden und werden vorbei am Fiskus ins Ausland transferiert. Die Abgabenquote, d.h. die Summe aller Steuern und Sozialbeiträge im Verhältnis zum BIP stieg in den Euro-Ländern im Jahr 2012 auf 40,4 Prozent des BIP, in Griechenland lag sie 2012 bei 33,7 Prozent, also fast sieben Prozent darunter. Selbständige wie Ärzte oder Anwälte rechnen sich unkontrolliert regelmäßig arm, Taxifahrer, Handwerker oder Gärtner gaben nie gerne Quittungen und solche, die auf den lustigen kleinen Draht-Federmännchen auf den Touristentischen sich im sanften Abendwind wiegen, werden, nachdem der letzte Gast die Taverna verlassen hat, komplett in den Müll geschmissen. Kein Wunder, dass die Summe der rechtskräftigen Steuerschulden in Griechenland Anfang 2016 auf den historischen Rekordstand von 85 Milliarden Euro gestiegen war, was etwa die Hälfte der derzeitigen griechischen Wirtschaftsleistung entspricht und zu den insgesamt 290 Mrd. Euro Staatsschulden eigentlich noch hinzugerechnet werden müssten, denn wer soll die wann, wie eintreiben?
6 000 Körperschaften wie Aktiengesellschaften und GmbHs stehen beim griechischen Fiskus mit weiteren 30 Milliarden Euro im Obligo. Allein die Griechischen Staatsbahnen (OSE) vergessen regelmäßig ihre rund 1,6 Milliarden Euro an Steuerschulden; aber Bahnfahren ist wie Busfahren billig in Griechenland und wird es wohl auch bleiben müssen. Keine Regierung hat es auch nur annähernd bislang geschafft, die Steuerhinterziehung effektiv zu bekämpfen und eine funktionierende Verwaltung aufzubauen, Fakilaki sieht man allerorts. Bis heute gibt es keine effektive Finanzverwaltung, was schon erklärt, warum Griechenland bei seiner Aufnahme in die EU, sagen wir mal nur mangelhafte Statistiken über den griechischen Haushalt vorgelegt hat. Das passiert heute noch und wenn man liest, Griechenland macht wieder Schritte auf die internationalen Finanzmärkte zu und legt eine Steigerung des BIPs in Höhe von 2,4% vor, dann darf man die genaue Zahl hinter dem Komma durchaus anzweifeln. Wenn Volkswirte heute höchst genaue Rechnungen vorlegen über den griechischen Schuldenstand und dessen Tragfähigkeit bis 2060 analysieren, dann bleiben solche Rechnungen in weiten Teilen nach wie vor schleierhaft, da der Vollzug des griechischen Haushalts bislang nicht wirklich überwacht wurde, weder von griechischen noch von externen Institutionen wie Eurostat oder der EU-Kommission und noch immer kein Außenstehender weiß, wie prekär die Lage im Land nun wirklich ist.
Griechenland ist auch heute noch ein Land in der EU, in dem die Korruption allgegenwärtig ist, beim Arzt, im Krankenhaus, auf dem Bauamt, in der Fahrprüfung; oft kommt man nur mit „Fakelaki“, einem „Umschläglein“ voller Geldscheine weiter. 13,5 Prozent der Griechen haben in einer Umfrage offen eingeräumt, Fakelaki zu zahlen, rund 1.450 Euro im Jahr im Schnitt. Das muss man beachten und zwar von zwei Seiten. Einerseits treibt es das Land in den Ruin, andererseits ist ohne Fakelaki kein „normales“ Leben für die Bürger Griechenlands möglich. In ihrem Bericht von 2017 stellt „Transparency International“ fest, dass Griechenland beim Korruptionsindex auf Platz 94 von insgesamt 174 Ländern abgerutscht ist und damit innerhalb der EU-Länder den letzten Platz einnimmt, d.h. Griechenland hat die höchste Korruptionsrate in der EU, noch vor Italien; beachtlich! Führend in der EU ist die griechische Vetternwirtschaft. Die Einstellungspolitik im öffentlichen Sektor, hier als die Wirtschaftsbereiche: Öffentliche Verwaltung, Verteidigung, Erziehung und Unterricht, Gesundheits- und Sozialwesen adressiert, mittels Partei- oder Günstlings-Netzen, hat in der griechischen Geschichte Tradition. Die Familien Papandreou, Karamanlis und Mitsotakis regierten in Griechenland, von einer siebenjährigen Militärregierung unterbrochen, seit dem Ende des 2. Weltkriegs. Sie haben Griechenland mit einem dicht geknüpften Netz von Patronage und Vetternwirtschaft überzogen und unter dem Stichwort: Rousfet, Gefälligkeit, wurden Parteigänger in Griechenland mit Beamtenposten belohnt, versorgen Abgeordnete, Bürgermeister, Präfekten und Gemeindevorsteher ihre Wahlhelfer mit Arbeitsstellen inklusive Frührentengarantie. So war und ist der durch Vetternwirtschaft aufgeblähte öffentliche Dienst in Griechenland ein riesiges Problem. Während in Deutschland etwa jeder siebte Beschäftigte eine Anstellung oder eine als Beamter beim Staat hat, ist es in Griechenland jeder Vierte.
Das ist aus einer normalen Volkswirtschaft nicht zu finanzieren. In Griechenland akzeptierte der staatliche Arbeitgeber selbst in den ersten Krisenjahren zwischen 2008 und 2009 eine Lohnsummensteigerung im Sektor der Staatsbediensteten im öffentlichen Sektor um insgesamt fast 20%, während im gleichen Zeitraum bereits die Lohnsumme durch die zur Massenarbeitslosigkeit hin steigende Wirtschaftskrise bis zum Jahr 2014 um knapp ein Viertel sank. Der öffentliche Sektor vollzog also die Krise im privaten Wirtschaftssektor überhaupt nicht mit; wie auch, wäre zur Massenarbeitslosigkeit doch ein großer Teil der Staatsbediensteten von etwa einer Million Beschäftigten hinzugekommen.
Und auch im Sektor Schattenwirtschaft zeigt Griechenland blühende Phantasien und einen beherzten Tanzstil. Jeder vierte Euro wird schwarz erwirtschaftet. Das ist ein europäischer Spitzenwert, den eigentlich jeder bei Italien vermutet hätte. Geschätzt gehen dem griechischen Staat jährlich mehr als 30 Milliarden Euro Steuereinnahmen perdu. Benzinschmuggel, illegaler Kraftstoffhandel Spritpanscherei, im Baugewerbe, in der Landwirtschaft, kaum ein Sektor bleibt von der Schattenwirtschaft verschont und selbst für das Jahr 2019, also nach noch vielen Besuchen der sogenannten Troika, wird noch immer ein Umfang der Schattenwirtschaft in Griechenland von über 19 Prozent des offiziellen Bruttoinlandsprodukts prognostiziert.
Die Erfahrung der Griechen mit der Marktwirtschaft und der Gemeinschaft souveräner Staaten hatte schon eine Menge an akademischen Humor, als Yanis Varoufakis, der über die Liste von SYRIZA ins griechische Parlament gewählt worden war und vom 27. Januar bis zum 6. Juli 2015 das Amt des Finanzministers im Kabinett Alexis Tsipras inne hatte, die 28 Staatsoberhäupter der EU mit der Spieltheorie im Rucksack ein griechisches Modell bedingungslosen Geldausgebens des Staates als eine Entscheidung für die Solidität des Euro aufzutischen versuchte. Varoufakis verteilt heute keine Wahlgeschenke mehr an die Griechen, aber haufenweise Bücher zur Spieltheorie und einem bemitleidenswerten, narzisstischen Schaden, den ihn die Staatschefs damals aus Unkenntnis und Ungläubigkeit ins Ego geschlagen haben; in Deutschland gehen seine Bücher sehr gut über den Ladentisch. Wahlgeschenke verteilt der Chef selbst und zwar üppig und unter den Augen der Troika. Mit 280 Mrd. Euro Schulden aus Sicht der öffentlichen Gläubiger, die ihre Zusagen mit entsprechenden für Reformen verbunden hatten im Sparbuch, spricht Tsipras zu den Seinen von einer „Befreiung“ und meint damit den Weg auf die Bühnen der Finanzmärkte, die Griechenland mit tänzelnden Schritten wieder zu betreten versucht.
Die EU-Vertreter und der IWF sind enttäuscht und schockiert ob der ausgebliebenen Reformen und der finanziellen Freizügigkeit der griechischen Regierung. Die zugesagten Reformen in der griechischen Finanzverwaltung, im Gesundheitswesen, in der öffentlichen Verwaltung sowie verschiedene Privatisierungen sind ganz oder überwiegend ausgeblieben. Es gibt keine Regelung für Privatinsolenzen, was Investoren nicht gerade anlockt. Immer noch sind überschuldetet Wohnungs- und Hausbesitzer weitestgehend geschützt vor einem Besuch eines Beamten zur Zwangsvollstreckung. Kein Wunder, dass gerade diese Klientel sich geradezu ermuntert dazu sieht, Hypothekenkredite einfach mal nicht mehr zu bedienen, obwohl sie es vielfach könnten. Die Forderungen von Gläubigerinstitutionen und Banken nach einer Lockerung der Schutzbestimmungen privater Immobilienbesitzer mit dem Ziel, solche toxischen Kredite schneller abbauen zu können, läuft ins Leere. Die EU hat damit auch in Zukunft diesen ganzen Problembereich quasi im Gepäck, wenn sie unbekanntes Terrain in ihrem Experiment betritt.
Tsipras scheut natürlich unpopuläre Reformen. Aber unpopulär ist eine grandiose Verharmlosung der Situation. Griechenland ist pleite und das bis in hundert Jahren. Und jetzt im Wahlkampf (2019) verspricht der Premier der ältesten Demokratie der Welt, ohne überhaupt auch nur eine Absprache mit den Gläubigern, also den eigentlichen, zwischenzeitlichen Besitzern des griechischen Staates, zu treffen, die Einstellung mehrerer Zehntausend an Staatsbediensteten, erhöhte den Mindestlohn um 11 Prozent und annullierte eine bereits mit den Gläubigern vereinbarte und beschlossene Erhöhung der Mehrwertsteuer per ordre de Mufti. Der ESM, der die Bewilligung zugesagter Gelder an Griechenland steuert, kann, wie im Moment, Gelder aufgrund nicht getätigter Reformen zurückhalten und das sind beileibe keine kleinen Summen, ändern an der Situation in Griechenland kann er politisch nichts. Und das zeigt das Dilemma im europäischen Modell: bereits bei nur einem Land wie Griechenland liegen europäischer Anspruch und Wirklichkeit teilweise weit klaffend auseinander. Die Lebenswirklichkeit der Griechen und das sind ja europäische Bürger und nicht nur Griechen wie bei einem Drittland, diese Lebenswirklichkeit macht es unmöglich, schnell und effizient richtige Entscheidungen umzusetzen, sowohl für die Regierung wie die EU-Institutionen. Wenn gleich auch die Rettungsschirme etwas zu spät installiert wurden, die EZB ihr Mandat überstrapazierte und hinter einer semantischen Verdunkelung staatliche Rettungspolitik in hohem Ausmaße begann, ist doch erkennbar, dass die EU bei aller ungerechtfertigten Schelte dem griechischen Staat sehr weit entgegen gekommen ist und die EU-Bürger, allen voran Deutschland und Frankreich, in eine erhebliche Haftung für griechische Schulden genommen wurden.
Und die griechische Sozialpolitik wird auch weiterhin erhebliche Summen aus fremden Kassen benötigen, um griechische Rentnerinnen und Rentner in einem Rentensystem zu versorgen, welches sich Athen ohne zusätzliche Schulden nicht leisten kann. Während die EU durchschnittlich etwa 13 Prozent der Wirtschaftsleistung an die Rentenkassen überweist, sind das in Griechenland fast 18 Prozent . In Griechenland liegt die Durchschnittsrente bei 960 Euro, was 63 Prozent des Durchschnittseinkommens entspricht. In Deutschland zum Vergleich lag die Durchschnittsrente im Westen Ende 2013 bei 734 Euro und im Osten bei 896 Euro. Folgte man den Analysen des IWF und denen von Sinn (2015), dann müssten die Löhne und Gehälter in Griechenland drastisch reduziert werden wie auch die Preise bei der Herstellung von Gütern und Halbzeugen und zwar in einem Ausmaß von mehr als 30 Prozent, wenn das genügte. Schaut man nur auf die Preise, sind das volkswirtschaftliche Phantasmagorien, denen politisch keine Realität entspricht.
Sinn vergleicht die Preisentwicklung von Griechenland mit der von Irland und kommt so natürlich zu den Schlüssen, die sich aus dieser Perspektive aufdrängen. Griechenland hat im EU-Binnenmarkt keine nennenswerten Wettbewerbschancen, außer im Tourismus. Griechenland kann also die Vorteile stark reduzierter Löhne für die Herstellung exportfähiger Güter und Halbzeuge nicht erreichen, die dann eine Exportwirtschaft ermöglichte, die die Einnahmen des Staates verbessern und auch im Inland zur Substitution eingeführter Waren durch einheimische Produkte käme. Diese Idee einer florierenden Exportindustrie und eines binnenwirtschaftlichen Wachstums mit steigenden Beschäftigungsverhältnissen, besseren Löhnen und Gehältern ist in Griechenland leider nur möglich auf der Grundlage, dass das Land durch eine tiefe Talsohle jahrelang gehen müsste, deren Ausweg keiner kennt, nicht einmal garantieren kann, dass es einen gibt. Was Sinn überhaupt nicht auf seinem Schirm hat, der einzig im Preisvergleich und Lohnsummenspiel der EU-Staaten sich bewegt ist, dass Griechenland erstens gar nicht in der Lage ist, das irische Modell und à la Longe das englische oder amerikanische Modell zu kopieren mit seinen beschönigend klingenden, flexiblen Arbeitsmärkten, die wir eingehend beschrieben haben, mit seinen fast schon zu Tode getrampelten Gewerkschaften und damit von Tariflöhnen, Löhnen und Gehältern, die ein Gesundheits- und Rentenwesen menschlicher Würde garantieren, sondern allein auf der Basis von Lohnkürzungen, Billiglöhnen und Teilzeitjobs wirtschaftliches Wachstum ermöglichen, das als Wohlstand und gesellschaftliche Wohlfahrt immer weniger Menschen zugutekommt und die Spaltung in Arm und Reich vergrößert, die in Europa keiner will.
Was Sinn überraschenderweise völlig übersieht ist, dass das irische Modell sein wirtschaftliches und Exportwachstum eben einem Steueroptimierungsmodell im Outsourcing internationaler Konzerne verdankt, die damals, als es Irland schlecht ging und die Löhne es hergaben, massenhaft Arbeit auf die Insel brachten, von wo sie im Preisdumping weltweit und EU-weit wiederverkauft wurden. Gerade in Deutschland agierende Unternehmen haben diese Chance kreiert und genutzt, Verwaltungen, Rechnungsabteilungen, Call Center etc. nach Irland zu verlagern. Später wurden daraus Steuervermeidungs- bzw. -Hinterziehungsstrategien, mit denen sich donald t. heute frustriert herumschlägt.
Und was Sinn überhaupt nicht in den Sinn zu kommen scheint, da ist er regelrecht vernagelt für solche Themen, ist das Faktum der Spekulation, die auch schon bei den deutschen und französischen Banken als generöse Kreditgeber an den griechischen Staat im Fokus stand. Griechenland macht gerade einmal 2,6 Prozent des BIPs der gesamten Eurozone aus. Und es bleiben Fakten, dass das Land bei der Aufnahme in die Euro-Zone buchhalterisch sehr kreativ gewesen ist und die Statistiker der europäischen Behörde Eurostat seit Jahren an der Nase herumführt, willentlich oder ohne besseres Wissen, dass Griechenland auch enorme Schulden aufgehäuft hat und Reformen nicht durchführt wie vereinbart und theoretisch notwendig. Die griechische Staatskasse aber so richtig erst belastet hat die Spekulation der Finanzmärkte gegen den Euro und damit vor allem gegen Griechenland. Sie trieb die Kosten für die Aufnahme neuer Kredite durch Griechenland an den Finanzmärkten dermaßen in die Höhe, dass Griechenland schließlich die Waffen strecken musste und selbst die Rettungsschirme der EU nicht ausreichten, dem Grauen an den Börsen ein Ende zu breiten. „What ever it takes“ war das Menetekel von Draghi und der EZB, das dem Spuk ein vorläufiges Ende gesetzt hat und Griechenland in eine Schockstarre versetzte; aber es überlebte den völligen Zusammenbruch. Was immer man also auch gegen die EU ins Feld schickt, nichts davon hätte einen Sieg davongetragen, nichts wäre wirksamer gewesen, vielleicht etwas schneller. Die EU hat Griechenland nicht hängen gelassen und selbstverständlich war und ist niemand davon begeistert, auch nicht von den Aussichten in die Zukunft.
Herr Fukuyama versteht die europäische Identität nicht, weil für ihn Identität etwas Identisches ist, etwas Gleiches, etwas in Harmonie. Das gab es in den letzten fünftausend Jahren nicht in Europa. Hier ist alles verschieden, unterschieden, widersprüchlich, gegensätzlich, unvereinbar, unscharf, unsicher und zweifelhaft. Aber alles das ist Europa. Ein Deutscher ist ein Europäer und das ist keine Identität, die dazu kommt, wie etwas von außen. Identität ist; basta. Man ist Europäer als Deutscher, als Italiener, Grieche, Spanier und seit einigen Jahren wieder als Pole, als Slowene und alle die osteuropäischen Länder, die vor nicht allzu langer Zeit noch Teil der Sowjetunion und des Warschauer Pakts waren. Man ist Europäer als eben diese Nicht-Identität, diese Unterschiede, diese Mannigfaltigkeit, von der die deutschen Identitätsphilosophen schlechthin sprechen, als etwas Gleichem in einem anderen; von Fichte, Schelling, Kant und Hegel, um nur ein paar von ihnen zu nennen – wir kommen später darauf zurück. Die Straßen in Europa waren nicht voll von Protest und Tumult, als Griechenland unter die Rettungsschirme kam, anders als die Migration aus Syrien anwuchs. In Madrid geht man gegen die Rebellion der Katalanen und in Barcelona gegen die Anmaßung Kastiliens auf die Straße. Das Baskenland, Nordirland, der ehemalige Balkan-Konflikt, alles das gehört zu Europa wie die fast achthundert Jahre Islam in Al-Andalus oder dessen knapp siebenhundert Jahre auf Sizilien.
Das europäische Modell als ein experimentelles, lernendes Modell tat sich anfangs schwer zu akzeptieren, dass Spekulation auf den Finanzmärkten ein Teil, ein großer, wichtiger Teil der Marktwirtschaft ist; H-W. Sinn tut sich noch etwas schwer damit, er ignoriert diesen Einfluss der Spekulation gegen den Euro in seinem neuen Buch (2015) schlichtweg. Die Griechenland-Krise und die Euro-Krise gehören zusammen wie die Identitäten der Bürger der verschiedenen Staaten Europas. Über neun Prozent Rendite musste Griechenland im Jahr 2010 privaten Anlegern bieten, damit Athen seine Staatsanleihen auf den internationalen Finanzplätzen verkaufen konnte, um seinen defizitären Staatshaushalt refinanzieren zu können. Zwei Jahre zuvor waren es noch rund sieben Prozent und jeder Prozentpunkt mehr, den Griechenland an Zinsen zahlen muss, um Geld an den Kapitalmärkten aufzunehmen, verschärfte die angespannte Finanzsituation weiter, bis Griechenland nicht einmal mehr seine laufenden Staatsausgaben, vor allem die Gehälter für seine üppig bemessenen Staatsdiener bewerkstelligen konnte. Dann kam die Abstufung der griechischen Staatsanleihen durch die Rating-Agenturen auf „Ramschniveau“ und danach gab es von Investoren nur noch Geld gegen exorbitante Zinsen; Griechenland war zahlungsunfähig, ein Schuldenschnitt überfällig, der Sirtaki getanzt.