Wie kann Philosophie die Verwiesenheit des Daseins auf Andere so schnell ĂŒbersehen, und dass dieser Andere nicht allein der sein kann, mit dem ein Mensch notwendig seine Reproduktion bestreiten muss? Wie kann Philosophie ĂŒbersehen, dass Kultur und Zivilisation nicht nur ein Beisammen beschreibt und die Menschen, die notwendige Bedingung fĂŒr eine kulturelle Entwicklung sind, nicht nur zu den Lebenden gehören können? Reicht es wirklich aus, von der FaktizitĂ€t von Geschichte zu sprechen, von etwas VorgĂ€ngigem und dies nicht sogleich auch als hinreichende, sondern nur als notwenige Bedingung zu missverstehen? Worauf baut denn eine Kultur auf, wenn nicht auf die kulturellen Errungenschaften und nicht nur auf die materiellen, sondern auch auf die normativen bis hin zu den Formen im Umgang mit den Toten, die die Toten zu einem selbstverstĂ€ndlichen Bestandteil der Lebenden werden lassen? NatĂŒrlich hat jede Kultur einen Pakt mit den Ahnen und der erschöpft sich bei weitem nicht in Erinnerungskulten. Mehr als alle Vorrednerinnen und Vorredner, die anlĂ€sslich des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus hat Marina Weisband den zentralen Gedanken einer Perspektive im Umgang mit der jĂŒdischen Kultur in Deutschland hervorgehoben; beeindruckend. Sie verweist darauf, dass Erinnerungen nicht zu Ritualen und die Toten nicht zu Fabelwesen werden sollen und die, die an den Holocaust erinnern, nicht zu lebendigen Mahnmalen. Es komme vielmehr fĂŒr die lebende Generation darauf an, unter den Portraits der Eltern und GroĂeltern eine neue Gesellschaft zu bauen, in der âvielleicht einmal eine jĂŒdische Kultur gelebt werden kann und mit einer schlichten SelbstverstĂ€ndlichkeit behandelt wird.â
Von dieser SelbstverstĂ€ndlichkeit eines ganz und gar nicht-selbstverstĂ€ndlichen Sachverhalts sprechen wir also, wenn wir von praktischer Vernunft im andauernden Prozess des Ăbergangs von Zivilisation und Kultur sprechen. Wir können dabei den Blick dahingehend orientieren, welchen zivilisatorischen Stand eine Kultur einnimmt. Dies geht schwer, ohne diesen Stand sogleich zu beurteilen, mit anderen zu vergleichen und dann zu beurteilen, aber wir werden es versuchen, so weit wie möglich als Sachverhalt im Sinne unserer praktischen Vernunft darzustellen mit der Gewichtung auf politische, normative, geistige und kulturelle Sachverhalte.
IN RICHTUNG FREIHEIT
Wir haben eben gesagt, dass Heideggers Begriff der Freiheit defizitĂ€r ist, da er nicht aus einer praktischen Vernunft entspringt. Lassen wir den Namen Heidegger nun weg und beschreiben diesen Freiheitsbegriff einmal als einen geistig-kulturellen Sachverhalt â wir werden synonym dafĂŒr auch die Begriffe Formation und Struktur benutzen, wenn dies der Sache dienlich erscheint. Der beinhaltet das Primat des Denkens, ist also ein hermeneutischer Begriff. Alles steht unter der Perspektive eines Denkens, nicht einer sozialen, kulturellen, ökonomischen Praxis, und bewertet alles, was es denkt, im Sinne des Hypokeimenon, des dem Denken Zugrundeliegende bzw. das, worĂŒber die Rede ist, aus einer hierarchischen Perspektive, deren pyramidale Spitze die Daseinsphilosophie sein soll. Kulturelle Praktiken wie etwa die Kunst und die Wissenschaften etc. begegnen darin als eine Verstehensart, eine Art zu verstehen und somit als Untergruppen, eigenstĂ€ndig im phĂ€nomenologischen bzw. fachwissenschaftlichen Sinne zwar, aber immer als geistige Mangelverwaltung; mehr oder weniger. Als ein mehr oder weniger vollstĂ€ndiges Wissen, wobei es diese vorgestellte VollstĂ€ndigkeit eschatologisch bzw. im Sinne der Entelechie, wie wir mehrfach bereits ausgefĂŒhrt haben, nicht geben kann. Die Frage bleibt dabei natĂŒrlich schon, wie messen wir dieses Mehr oder Weniger, wenn der MaĂstab, mithin das Ganze unbekannt sind?
Dieser Freiheitsbegriff ist hierarchisch auch darin, dass in ihm eine politische Hierarchie sichtbar wird, die im Vorbild der angelsĂ€chsischen Suprematie als Kolonialmacht nach auĂen und als Feudalismus und Rassismus nach innen formuliert ist. Ăkonomisch betrachtet liegt ihr die Idee des Laissez-faire (Band III. Kap. 3 und 5) zugrunde, die eine Bezeichnung fĂŒr eine extreme Form des Liberalismus, des sogenannten Manchesterliberalismus ist, der zufolge der Staat die ökonomische Entwicklung und den Wohlstand der Bevölkerung am besten fördert, indem er nicht in das wirtschaftliche Geschehen eingreift und so den ökonomischen Akteuren, vor allem Banken, Industrie und Privatvermögen freies Spiel auf den nationalen wie internationalen MĂ€rkten inklusive den FinanzmĂ€rkten, in England besonders verbunden mit der City of London und den Kronkolonien, lĂ€sst (Band III. Kap. 4). Zivilisatorisch grĂŒndet dieser Freiheitbegriff im antiken Hedonismus, aus dem heraus sich der Anspruch des Individuums, der âIdiotesâ auf die dauerhafte ErfĂŒllung, Entelecheia, eigener BedĂŒrfnisse, seien diese materieller, psychischer und sinnlicher Art ableitet.
Die begriffliche Ableitung kulminiert dann im Begriff des Utilitarismus, der Erreichung des gröĂtmöglichen Nutzens, dessen maximale Extension in den Erscheinungsformen des grenzenlos akkumulierten Privatvermögens, der ErfĂŒllung von Machtphantasien im privaten und öffentlichen Leben und im geistig-elitĂ€ren Habitus privaten Erfolgs in dessen sichtbaren Insignien erreicht wird; mein Haus, mein Auto, mein Boot, meine Frau â in dieser Reihenfolge. Kurzgefasst, dieser auch heute noch in westlichen und asiatischen Industriegesellschaften am angelsĂ€chsischen Modell orientierten Gesellschaften und deren dominierenden Freiheitsbegriff ist ein zivilisatorisch rĂŒckstĂ€ndiger Begriff. England und die USA, vor allem in den Zeiten von Brexit und donald t. haben dies umfassend und evident belegt.
Philosophie am Beginn des 20. Jahrhunderts hatte durchaus die Möglichkeit, den Begriff von Freiheit aus der Geschichte der bĂŒrgerlichen Revolution, des Bonapartismus als eine autoritĂ€re Herrschaftsform im Unterschied zum bĂŒrgerlichen Parlamentarismus, der expansiven, staats-diktatorischen AuĂenbeziehungen des Kolonialismus, ökonomisch wie ideologisch zu widersprechen, zumal der transatlantische Dreieckshandel aus Menschenhandel und Baumwollhandel sattsam bekannt waren. Gerade der angelsĂ€chsische Freiheitsbegriff war und ist ĂŒberwiegend heute noch ökonomisch, sozial und kulturell derart segregativ, dass damit zu arbeiten und zu denken wenig eintrĂ€glich fĂŒr eine Perspektive, eine Vorstellung einer neuen Gesellschaft ist. Politisch ist er wie damals in fast ganz Europa, dann von den Nazis ĂŒberschrieben und auf die Welt ausgedehnt, in neuer Terminologie gesprochen, auĂenpolitisch unilateral anstelle multilateraler Vereinbarungen, innenpolitisch ist er proprietaristisch , ökonomisch protektionistisch und soziologisch rassistisch. Ein RĂŒckgriff auf eine solche Formation in der Betrachtung von gleichwelchen Sachverhalten ist weder fundamental noch universell brauchbar, ist intellektuell eher kalter Kaffee als coffee to go, selbst wenn dieses MitnahmegetrĂ€nk heute auch nicht allen Geschmacks- und QualitĂ€tsvorstellungen entspricht.
Schon Leibniz geht von einem Freiheitbegriff aus, der zumindest eine Einbettung in der praktischen Vernunft gefunden hat und als Handlungsfreiheit beschrieben wird. Darin unterscheidet sich der freie BĂŒrger vom Sklaven als âlibertĂ© de droitâ , also als Freiheit von Zwang, wenngleich Leibnitz wenig dazu sagt, wie denn der Sklave aus dem Zwang herausfinden soll; wir kennen die Antwort aus GroĂbritannien, das 1833 Sklaverei per Gesetz verbot und den USA, die die Sklaverei 1865 nach dem Sezessionskrieg fĂŒr verfassungswidrig erklĂ€rten. Piketty aber kennt die wahre soziale Dimension der Sklaverei in der politisch-ökonomischen Dimension, die zwar per Gesetz oder qua Verfassung Sklaverei verbietet, aber kulturell durch weitere Gesetze Vorschub leistete fĂŒr einen Rassismus, der bis heute anhĂ€lt und die Grundlage bildet fĂŒr eine dramatische Ungleichheit vor dem Gesetz, im Zugang zur Bildung, bei der Verteilung des gesellschaftlichen Wohlstands qua Arbeit und in den sozialen Vorsorge- und FĂŒrsorge-Systemen (zusammenfasst als sog. struktureller Rassismus), die besonders in den USA derart rĂŒckstĂ€ndig sind, dass eine neue Gesellschaft mit einer antirassistischen SelbstverstĂ€ndlichkeit kaum vorstellbar scheint; jedenfalls wohl nicht in der aktuellen Amtsperiode von PrĂ€sident Biden, der einer proprietaristischen Differenzierung den Kampf angesagt hat.
Was Leibniz noch als positive Freiheit, als âlibertĂ© de faitâ dachte, ist umso wichtiger, als darin ĂŒberhaupt keine soziale Differenzierung mehr enthalten ist, sondern einen einfachen Sachverhalt beschreibt, der einen Kranken von einem Gesunden unterscheidet und eigentlich ein Menschenrecht ist. Ohne zu sehr darauf eingehen zu wollen â wir haben dies auch an anderer Stelle bereits gemacht â sei darauf verwiesen, dass die Charta der Menschenrechte ĂŒberhaupt keine proprietaristischen Vorstellungen enthĂ€lt und juristisch betrachtet wohl an der Spitze der zivilen Entwicklung von einem universellen Rechtsstaat steht, wobei dieser Rechtsstaat schon keine nationalstaatlichen Grenzen mehr kennt und somit den BĂŒrger als WeltbĂŒrger veranschlagt. Die Menschenrechte gelten transnational bzw. global und fĂŒr alle Menschen, was deren IntegritĂ€t und Schutz vor WillkĂŒr betrifft, deren ökonomischer, sozialer, kultureller wie individueller Selbstbestimmung. Es gibt drei Artikel, die durchaus diskussionswĂŒrdig erscheinen. Das ist Artikel 26, Abs. 3. Die Eltern haben ein vorrangiges Recht, die Art der Bildung zu wĂ€hlen, die ihren Kindern zuteilwerden soll. Sicher haben Kinder nicht die Möglichkeit, ĂŒber ihre Bildung bis zu einem bestimmten Alter selbst zu entscheiden, generell aber den Eltern dies rechtlich zu gewĂ€hren, erscheint problematisch. Da ist der Artikel 27, Abs. 2. Jeder hat das Recht auf Schutz der geistigen und materiellen Interessen, die ihm als Urheber von Werken der Wissenschaft, Literatur oder Kunst erwachsen. Wir haben im Zusammenhang mit Copyrights ausfĂŒhrlich darĂŒber diskutiert (Band III. Kap. 4), aber wir finden diesen Artikel im Kern unĂŒberlegt, da der möglichst freie Zugang zum Wissen fĂŒr die Allgemeinheit die kulturelle Auseinandersetzung fördert und damit zivilisatorisch hohen, vielleicht höchsten Rang nach der Subsistenzsicherung hat.
Alle Entwicklungen der Menschheit haben diesen freien Zugang zum Wissen als Voraussetzung, wie anders wollen wir die Buchdruckerkunst von Gutenberg sonst bewerten. HĂ€tte Gutenberg nach heutigen MaĂstĂ€ben ein Copyright bzw. ein Markenrecht auf die Ergebnisse der Druckerpressen der Welt, er wĂ€re sicherlich reich geworden, umgekehrt reziprok in gleichem MaĂe wĂ€re unsere kulturelle Entwicklung aber wahrscheinlich nur schleppend in Tritt gekommen; und dabei haben wir noch nicht einmal die Entwicklung der AufklĂ€rung und der bĂŒrgerlichen Gesellschaft erwĂ€hnt. SchlieĂlich der Artikel 28. Jeder hat Anspruch auf eine soziale und internationale Ordnung, in der die in dieser ErklĂ€rung verkĂŒndeten Rechte und Freiheiten voll verwirklicht werden können. Wir erkennen darin durchaus einen frommen Wunsch, einen Rechtsstatus hat der Artikel aber wohl bis auf weiteres in weiter Ferne der Zukunft nicht. Das ermöglicht uns auf einen Aspekt hinzuweisen, dass jedes Recht auch nur so viel Wert ist, wie es exekutiert und sanktioniert wird. Aber zurĂŒck zur Freiheit.
Bei Kant wird die positive Freiheit gerne als Willensfreiheit verstanden, was so aber nicht ganz richtig ist. Bei Kant beginnt alles Denken, wozu auch und besonders das begriffliche Denken gehört, und damit auch die Rede ĂŒber Freiheit mit einer transzendentalen Bestimmung, also den Bedingungen, die etwas ermöglichen. Freiheit, bei Kant, denkt einen praktischen Freiheitsbegriff, also einen Begriff aus seinen praktischen, hier HandlungszusammenhĂ€ngen. Handlungen, insofern sie frei sind im positiven Sinne, können einen Anfang setzen, etwas beginnen und Kant kommt ohne Umschweif wie selbstverstĂ€ndlich auf den Begriff der SpontaneitĂ€t als Bedingung der Möglichkeit eines Anfangs durch menschliches Handeln, ohne negative Begrenzungen, EinschrĂ€nkungen oder ZwĂ€ngen. SpontaneitĂ€t bezeichnet ein menschlich universelles, kein besonderes, gar persönliches Vermögen, âeinen Zustand von selbst anzufangenâ , in unseren Worten, etwas zu verĂ€ndern. Wie immer bei Kant wundert man sich dann ein wenig, warum dieses Zitat nicht in der Kritik der praktischen, sondern der reinen Vernunft steht. Insofern die reine Vernunft von den transzendentalen Bedingungen handelt, die etwas ermöglichen und etwas verĂ€ndern, könnte man meinen, das Zitat hat hier dann doch seinen rechten Platz. Aber schaut man genauer hin, dann ist es mit der positiven Bestimmung der Freiheit aus einem so gegebenen Sachverhalt, von uns auch Vermögen genannt, doch schnell vorbei und Kants Freiheitsbegriff ein doppelt negativer.
Die erste gleichsam transzendentale Negation ist die Freiheit bei Kant als Idee und Idee bestimmt er als begrifflich negativ zur Erkenntnis und Erfahrung. Kants Freiheit als SpontaneitĂ€t, einen Anfang von etwas zu setzen, etwas zu beginnen und damit zu verĂ€ndern, was wir so gerne so sehen wĂŒrden, wie es ist, wĂ€re eine herrlich einfache Sache, die Freude bereiten kann und etwas nach sich zieht, was andere wieder freut oder auch in Grund und Boden Ă€rgert, weil sie nicht auf diese einfache Idee gekommen sind (verlieren Sie bitte nicht Ihren Humor), kann uns weder bewusst werden als solche und auch nicht aus der Erfahrung erschlossen werden; unschwer zu erkennen, dass Kant hier fast glaubensexegetisch der platonischen Ideenlehre folgt. Kaum war sie da die SpontaneitĂ€t einer Idee, einer Vorstellung, ist sie schon wieder perdu.
Wir erinnern an unseren Jungen, der nach der Tracht PrĂŒgel recht spontan auf die Idee kam, beim nĂ€chsten Kindergartenbesuch einen Freund mit auf den Weg zu nehmen, was auf Ă€hnliche Weise alle Kinder tun könnten, so sie nicht in den Wald fliehen und nicht mehr herauskommen wollen, bevor die Eltern oder andere Erwachsene ihnen Geleit zusichern. Wie also die Freiheit unter den Bedingungen des Möglichen bei Kant sofort als Idee und somit als zwar konstitutiv, aber nie mehr durch intuitives Denken und Erfahrung als solche erreicht werden kann, so geht es auch in der praktischen Vernunft. Allein, wir erinnern daran, nur unter MaĂgabe des Absoluten kann eine Idee als ReprĂ€sentation des Absoluten im Denken und im Handeln bzw. in der Erfahrung negativ bestimmt werden. Ist eine Idee aber das, was sie spontan ist, dann hat sie keine hinreichende nicht einmal eine notwendige Bedingung im Absoluten und ist sofort Bestandteil des Denkens, sei diese auch intuitiv und innerhalb der Erfahrung, sei diese auch antizipativ und somit noch keine absolut sichere Vorstellung oder Idee, die mit gröĂtmöglicher Effizienz auch in ErfĂŒllung geht.
Aus Sicht der praktischen Vernunft ist Kants Begriff der Freiheit auch ein negativer Begriff â muss er ja auch sein, da auch fĂŒr die praktische Vernunft die MaĂgabe des Absoluten gilt â insofern er bestimmt ist als âUnabhĂ€ngigkeit der WillkĂŒr durch die Antriebe der Sinnlichkeitâ . Auch hier sehen wir wieder, dass der Begriff bene nicht aus der praktischen Vernunft, wie wir sie bestimmen, betrachtet wird, sondern aus dem Blickwinkel der reinen Vernunft und somit auch ein reiner Verstandesbegriff ist, der durch Denken und nicht durch einen praktischen Zusammenhang gewonnen wurde mit allen Implikationen und Folgen, die wir der ZirkularitĂ€t moderner SubjektvitĂ€tstheorien nachgewiesen haben. Dass Kant daher als Erstes auf die Beziehung zwischen transzendentalen Bedingungen, dann den konsekutiven Bedingungen des Denkens in praktischen ZusammenhĂ€ngen und zu guter Letzt auf die Antriebe der Sinnlichkeit kommt, ist zwangslĂ€ufig; natĂŒrlich kommen in allen SubjektivitĂ€tstheorien des Denkens zuerst die sinnliche Wahrnehmung und sinnlich-empirischen Angelegenheiten, die ja die ersten Grundlagen bzw. notwendigen Voraussetzungen bilden, dass wir etwas denken bzw. reflektieren, es sei denn, wir denken daselbst ĂŒber die Voraussetzungen nach. Die Sinne sind nun mal das, was die ersten Inhalte des Denkens im praktischen Sinne sind, so man nicht nur die Möglichkeit zu denken gedenkt, sondern auch etwas Konkretes, was man denkt. Es beginnt immer mit der Wahrnehmung, dem Meinen und DafĂŒrhalten, der TĂ€uschung und der Wahrheit, bis an den Rand des Absoluten. In dieser AufwĂ€rtsbewegung weg von der einschrĂ€nkenden zur unbedingten Bestimmung der Freiheit muss auch der Königsberger zuerst die nervenden, willkĂŒrlichen Antriebe der Sinnlichkeiten, gleichsam den âTriebcharakterâ (vgl. S. Freud) des Menschen beiseiteschaffen, um zu einigermaĂen normativen Systemen und zu kulturschaffenden Vermögen zu kommen.
Was Freud noch im Minimalformat nannte: Wo Es war soll Ich werden, ist bei Kant die negative Freiheit der praktischen Vernunft auch Voraussetzung, damit der (gelĂ€uterte) Mensch sich selbst Gesetze zu geben in der Lage ist . Nun endlich angekommen in der praktischen Vernunft ist der vernĂŒnftige Mensch â synonym fĂŒr die Vernunft â in der Lage, unabhĂ€ngig von seinen Trieben, Neigungen und Vorurteilen, auch unabhĂ€ngig von dem, was er nur glauben kann, aber nicht wissen, nicht wissen darf mitunter, zu einem selbstbestimmten Leben, zur sittlichen Vernunft, zur Gesetzgebung und zur Moral aus eigener Ăberzeugung zu gelangen. Was uns trotz einiger MĂŒhen an Kant so gefĂ€llt ist, sein Freiheitsbegriff ist als ein politischer Begriff bestimmt und wenn auch negativ aus einer praktischen Vernunft.
Kants Autonomie bzw. Freiheit als Selbstbestimmung hat zudem noch den ĂŒberwĂ€ltigenden Charme der Dissidenz, ja sogar einer fast anarchistischen Ungehorsamkeit, insofern rechtliche Freiheit âdie Befugnis (ist), keinen Ă€uĂeren Gesetzen zu gehorchen, als zu denen ich meine Beistimmung habe geben können.â Da ist wenig zu vernehmen von einem ewigen Frieden wie der Titel vermuten lĂ€sst; just das Gegenteil klingt aus den Zeilen des Dissidenten aus Königsberg und wahren Verfechter der AufklĂ€rung. Mit Kant macht man durchaus AnfĂ€nge und dabei ist auch eine Französische Revolution kein Grande Malheur. Kein Geringerer als Karl Marx hat das so gesehen: die Kant’sche Philosophie ist „die deutsche Theorie der französischen Revolution“ und selbst Heinrich Heine schrieb noch einige Jahrzehnte spĂ€ter, dass die „Kritik der reinen Vernunft“ die geistige Revolution in Deutschland einleitete und mit den VorgĂ€ngen in Frankreich groĂe Parallelen aufwies, wiewohl Kant selbst sich eindeutig in seiner Philosophie als WeltbĂŒrger bekannte, als ein Kosmopolit im Denken, gleichwohl auch er ein Untertan des PreuĂischen Feudalstaates war; aber wer hindert daran, sich ĂŒber die eigene Situation hinauszudenken, es kommt nur darauf an, dies auch zu tun.
Schelling ist dem gefolgt, zumindest, was das reine Denken angeht. Auch er kennt eine negative und eine positive Freiheit, die er, der groĂe Geheimniswalter, zwischen Natur und Gott ansiedelt. So ist der Mensch nach Schelling deshalb frei, weil er zwischen Natur und Gott steht, weil er von beiden etwas hat bzw. nicht hat. Seine negative Freiheit, Freiheit von etwas, bestimmt er so: âDadurch also, daĂ der Mensch zwischen [âŠ] der Natur und [âŠ] Gott in der Mitte steht, ist er von beiden frei. Er ist frei von Gott dadurch, dass er eine unabhĂ€ngige Wurzel in der Natur hat, frei von der Natur dadurch, daĂ das Göttliche in ihm geweckt ist [âŠ]â . Seine positive Freiheit bestimmt er so: âReligiositĂ€tâ ist die âhöchste Entschiedenheit fĂŒr das Rechte, ohne alle Wahlâ und wie immer bei Schelling bleibt man staunend und rĂ€tselnd zugleich zurĂŒck und fragt sich, wie nach dem ersten dies zweite Zitat folgen konnte.
Heidegger findet gar fĂŒnf Freiheitsbegriffe, eigentlich fĂŒnf unterschiedliche Bestimmungen von negativer und positiver Freiheit in summa in Schellings Philosophischen Untersuchungen: zwei negative; die Ungebundenheit, die Freiheit von (etwas) und als positive, die libertas determinationis, die Freiheit zu und die Freiheit als freiwilliges Sich-Binden an (etwas). Was seit der griechischen Antike sich mit Aristoteles begann abzuzeichnen, dass nĂ€mlich die Sinne uns stĂ€ndig etwas vorgaukeln, was wahr bzw. so sein soll, wie es aussieht, und sinnlich erfahrbar ist, rutschte im Rang der Wahrheitsfindung immer tiefer ab und konnte auch in der Willensfreiheit und anderen Formen von FreiheitsĂ€uĂerungen wenig Gehalt finden. So wurde die Sinnlichkeit und insgesamt die Leiblichkeit in der Philosophie zu einem notwendigen Ăbel auf dem Weg zur Wahrheit und Freiheit, das es zu ĂŒberwinden galt. Das Denken ĂŒbernahm die Regie, wurde zum monopolistischen Anspruch bei der Frage und der Suche: was ist Wahrheit und was ist Freiheit und zu einer ganzen Kultur der UnabhĂ€ngigkeit von allem Sinnlichen, dem der Status der WillkĂŒr nun zukam. Nicht politische WillkĂŒr stand im Zentrum, die Antriebe der Sinnlichkeit wurden zu Interna der Unfreiheit und TĂ€uschung; c’est la Guerre. Und kaum noch vorstellbar ist, dass ein Philosoph nicht asketisch und zölibatĂ€r zugleich sich dem Denken, was ist Wahrheit und was ist Freiheit ĂŒberlassen kann, ganz in der Tradition einer christlichen Metaphysik.
Dass Sinneslust und -freuden neben Weisheit bestehen könnte, wurde unvorstellbar; Entweder-Oder. Aber nicht nur der Auszug von Sinnlichkeit und leiblichen GelĂŒsten, gar triebhaftem Verlangen fĂ€llt uns heute entgegen und bildet sogar in westlichen Gesellschaften einen geradezu fanatischen Triebverzicht als Grundlage von âpolitical correctnessâ und ziviler Anpassung. Es liegt schon in der Sache selbst begrĂŒndet, wenn alles, was in das Feld der sinnlichen BezĂŒge zu anderen Menschen und zur Natur gehört, einfach aus den Betrachtungen fĂ€llt, auch nur abgewertet wird als tĂ€uschend nebensĂ€chlich, als dem Wahren und Guten abtrĂ€glich, dann fĂ€llt nicht nur die Wahrnehmung alles Sinnlichen auf der Skala des Wahren und Guten in Richtung des Schönen, so die Sinne ihrer LĂ€uterung nichts wirklich entgegensetzen. Das Sinnliche wird allenfalls dann noch als schöner Schein gehandelt und Teile der Kunst degradiert zur marktgĂ€ngigen correctness. Wenn so sehr alles, was den Sinnen und den leiblichen GelĂŒsten eigen ist, vor allem das Momentum:
âWerd ich zum Augenblicke sagen:
Verweile doch! Du bist so schön!
Dann magst du mich in Fesseln schlagen,
dann will ich gern zu grunde gehen!â (Goethe)
dann wird selbstverstĂ€ndlich auch alle Vernunft, die die Sinne miteinschlieĂt, vielleicht noch zur âschönsten Nebensache der Weltâ depraviert, aber der Zugang zur Welt in der Art, wie er betrachtet, gar reflektiert wird, wird nach MaĂgabe seiner intellektuellen Betrachtungsweise je mehr aufgewertet erscheinen, je weniger die Sinne und die leiblichen GelĂŒste und Leidenschaften darin eine bedeutende Rolle spielen, gar einen Sinn vermitteln.
Eine Rolle spielen sie noch in eben der Bedeutung einer Anpassung an korrekte Umgangsformen bis hin zu den Perversionen der Haute Couture und der Haute Cuisine, die noch ins Bild passen. Die Haute Couture mit der höchsten Form der rigorosen Ăsthetisierung des weiblichen Körpers in der anorektischen, zum Abbild ausgetriebener Sinnlichkeit stolzierenden Weiblichkeit, die Haute Cuisine als die höchste Form der exzentrischen LuxuskĂŒche mit ihren Exzessen des Nouveau RĂ©alisme, der Essen und KĂŒche des Volkes zur Arte Povere deklariert. Kein Zufall, dass beide, Haute Cuisine und Haute Couture fĂŒr den Nouveau RĂ©alisme, den neuen Realismus stehen, in dem eine kleine exklusive Gruppe, ein exklusives Feld aus Designern und Köchen, ihrer Entourage und eines irrlichternd herumreisenden Publikums aus Superreichen ein autopoietisches, sich also selbsterhaltendes Feld bilden, auf dem sich die bizarrsten und verrĂŒcktesten Formen der Phantasien eines selbstbestimmten Lebens reproduzieren. Was da an Supermodells und SupermĂ€nnern mit Privatjets und Koks in Massen im PilotengepĂ€ck herumreisen zu den exklusivsten Sterne-Cucinas und den handverlesenen Laufstegen inszenierter SelbstmĂ€chtigkeitsphantasien zeigt immer, wenn Bilder herausdringen aus den Enklaven, ein Gesicht, welches unweigerlich lĂ€cherlich wirkt ob der ĂŒbersteigerten Perversion, den Alltag und dessen Sinnlichkeit auszuschlieĂen und anstelle dessen die eigenen Vorstellungen eines besseren Lebens zu setzen; es bleibt dann eben schwer, wenn nicht blöd. Gleichwohl, mit der Depravation von sinnlicher Wahrnehmung, Leiblichkeit und AlltĂ€glichkeit ist das Momentum des sinnlichen Erlebens, des Möglichen im AlltĂ€glichen und auch alle praktische Vernunft unter die RĂ€der gekommen. Und zwar eine praktische Vernunft, die auĂerhalb etablierter Umgangsformen sich ausbildet im Umgang mit Menschen ebenso wie im Umgang mit den geltenden Regeln der praktischen Vernunft.
Wir verfolgen einen praktischen, positiven und interaktiven Freiheitsbegriff, einen der praktischen Vernunft, die sich öffnet zum Diskurs, wobei der Diskurs nicht notwendig ein akademischer Diskurs sein muss. Er kann diskursiv, also methodisch und logisch schlussfolgernd sein und ist dabei nicht zugleich auch wertstellend im Sinne von beurteilend. Er kann erörternd stattfinden wie die meisten Diskurse, die sich in privaten GesprĂ€chen wie in öffentlichen Diskussionen entwickeln. Diskurse können auch nach der ursprĂŒnglichen Bedeutung des Ausdrucks: discursus âumherlaufenâ bzw. âhin und her gehendes GesprĂ€châ mithin als GesprĂ€che mit verschiedenen anderen Menschen betrachtet werden, worin die gesamte Palette zwischenmenschlicher Beziehungen mitgeht, mitumherlĂ€uft.
Diskurse in der praktischen Vernunft kommen ohne eine Ăffnung zum Anderen nicht aus. In ihnen liegt die Möglichkeit, einen gemeinsamen Weg zu finden bzw. zu suchen grundsĂ€tzlich angelegt, eingebettet auch was einen Kompromiss einschlieĂt. Aber nicht einen Kompromiss nur auf etablierte Formen des Umgangs mit Menschen oder einen Sachverhalt, sondern einen Kompromiss auf etwas Neues, von dem niemand weiĂ, wie es sich in der Interaktion mit Anderen entwickeln wird. Der Kompromiss, so verstanden, kann daher am Anfang einer Interaktion keinem Urteil, keiner Bewertung abschlieĂend unterzogen werden, auĂer einer Beurteilung und Bewertung der Ziele bzw. Zwecke, auf die hin eine Praxis gerichtet ist. In der praktischen Vernunft geht es, wie Kant sagte, erst einmal darum, einen Anfang zu setzen, einen Anfang mit etwas und mit jemandem zu machen. Mit jemandem meint daher eine Interaktion, gleichwohl ein Anfang auch von einer einzelnen Person ausgehen kann. Die praktische Vernunft ist aber nicht wie Habermas dies gerne sah, ein âSchauplatz kommunikativer RationalitĂ€tâ, gar ein Denksystem, in dem die diskrete Rolle der Macht wirkt. Was Michel Foucault in jeden Diskurs hineindenkt, nĂ€mlich eine Vernunft, in der sich âunpersönliche und kontingente Machtwirkungenâ verstecken, kommt eher aus seinem strukturalistischen Ansatz als aus der Erfahrung in der Sache; die einzig wirklich wahre Macht, die institutionalisierte politische Vernunft, ĂŒberall zu vermuten, grenzt eher schon an paranoide Vorstellungen. Gleichwohl, auch wir kommen nicht umhin, einen positiven wie einen negativen Freiheitsbegriff voneinander abzugrenzen.
âFreiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden.â Dieser Satz, in Messinglettern seitlich der BĂŒrgersteige am Berliner Rosa-Luxemburg-Platz in den Boden eingelassen, ist zweifelsohne ein Satz, der die Anderen in vollem Umfang einbezieht, also ein Satz, der sich wohltuend von allâ den rekursiven, auf sich selbst bezogenen SĂ€tze absetzt, die in der Freiheit die Abwesenheit von Zwang und Herrschaft sowie von einschrĂ€nkender Macht sehen wollen, von Ă€uĂeren, politischen Bedingungen, die die Selbst-Erfahrung von Freiheit begrenzen. Gleichwohl, ohne solche Begrenzungen ist die Freiheit des einen doch auch begrenzt durch die Freiheit eines anderen Menschen. Das aber ist recht dĂŒrftig, ist es doch ein recht unbestimmter Begriff und somit unbedeutend und mit keinem Sinn beseelt, betrachtete man nicht den Kontext, in dem er steht. Man kann, wie Sarah Wagenknecht gerne interpretiert, noch mitgehen, wenn man diesem Satz Toleranz beiliest. Das ist durchaus im Rahmen der Interpretation, aber ist diese Bedeutung des Satzes auch wirklich gemeint? Man darf da erhebliche Zweifel anmelden, wie dies der Potsdamer Historiker Ernst Piper ausfĂŒhrlich dargelegt hat.
Politisch betrachtet geht das Zitat nicht ĂŒberein mit einer Frau, die offen fĂŒr die Diktatur des Proletariats und gegen freie, gleiche und geheime Wahlen eintrat und die von der Nationalversammlung sagte, sie sei: âein ĂŒberlebtes ErbstĂŒck bĂŒrgerlicher Revolutionen, eine HĂŒlse ohne Inhalt, ein Requisit aus den Zeiten kleinbĂŒrgerlicher Illusionen vom ,einigen Volkâ, von der ,Freiheit, Gleichheit und BrĂŒderlichkeitâ des bĂŒrgerlichen Staatesâ. Man mag stehen zum BĂŒrger und seinen Illusionen wie man/Frau will, aber mit Toleranz hat diese Haltung nichts zu tun wie auch nicht mit einer Freiheit fĂŒr alle Menschen, so sie nicht zum Proletariat gehören. Diese Auflassungen sind entsetzlich unreflektiert, nicht einmal intuitiv richtig; im Gegenteil.
Man konnte damals schon vermuten, was ein paar Tage spĂ€ter, am 23. Dezember 1918 dem ersten Zitat folgen sollte: âDie Nationalversammlung ist eine gegenrevolutionĂ€re Festung, die gegen das revolutionĂ€re Proletariat aufgerichtet wird. Es gilt also, diese Festung zu berennen und zu schleifen.â Von Toleranz und demokratischer Vernunft zeugt dieses Zitat nicht, eher von einer Umkehrung staatlicher Gewalt in einen bolschewistischen Terrorstaat, der seine âKinderâ in die Revolution treibt und sie sofort nach dem Staatsstreich frisst wie einst nach der Französischen Revolution Danton und dessen AnhĂ€nger durch den Terror des Jakobiners Robespierre auf der Guillotine landeten. Der Terror der Intoleranz hatte damals seine erste und fand im bolschewistischen Terror seine gröĂte Ausbreitung: wer nicht fĂŒr uns ist, ist gegen uns. Die Generalformel der Intoleranz und des Terrors haben beide nichts auch nur im Entferntesten zu tun mit Toleranz und lassen auch nichts gelten als ihren Selbstbezug, den man politisch Diktatur oder den unbedingten Willen zur Macht nennen muss; unbedingt, weil mit niemandem geteilt und von niemandem frei gewĂ€hlt, nicht einmal in Form einer begrenzten Freiheit, die eine demokratische Mehrheitsentscheidung nun einmal ist.
FĂŒr Hannah Arend war die Befassung mit dem Begriff der Freiheit keine rein akademische, noch eine diskret ideologische Herausforderung, sie war eine realpolitische Herausforderung fĂŒr einen Freiheitsbegriff, der, unschwer zu verstehen, ein existenzieller Begriff einer jĂŒdischen Denkerin und Autorin war. Sein Kontext kam aus den historischen Beispielen der Französischen und der Amerikanischen Revolution und fand daher auch seinen Sinn in einer praktischen Vernunft, der Idee der Freiheit aus der Befreiung aus UnterdrĂŒckung. Befreiung ist fĂŒr Arend wesentliche Bedingung fĂŒr Freiheit, Freiheit fĂ€ngt also mit der Befreiung aus HerrschaftsverhĂ€ltnissen an und hat so auch ihre BegrĂŒndung in politischen, nicht in hermeneutischen, soziologischen oder phĂ€nomenologischen Kategorien. Durch ihr VerstĂ€ndnis, dass Freiheit in realpolitischen Kategorien gedacht werden soll, die âdie Freiheit, frei zu seinâ, also ein VerstĂ€ndnis der politischen Befreiung erfordern, in dem also der Wunsch oder die Sehnsucht nach Freiheit im Zentrum politischer Aktion stehen, hat sie den Begriff der Freiheit interaktiv bestimmt, als Interaktion von Menschen, die gegen Unfreiheit aufstehen. Darin findet kein positives VerstĂ€ndnis von Freiheit Platz, fĂŒllt die Auflehnung gegen Unfreiheit doch den gesamten politischen Raum. Gleichwohl dies aktueller erscheint, als sie selbst wissen oder gar vermuten konnte, fehlt diesem VerstĂ€ndnis von Freiheit als Befreiung doch ein wesentlicher Aspekt, der neben anderen wichtigen Aspekten in allen modernen Formen der Auflehnung gegen Unfreiheit eine ganz bedeutende Rolle spielt. In den LĂ€ndern des sogenannten âArabischen FrĂŒhlingsâ, in Hong Kong, am Tiananmen Platz, auf dem Maidan in Kiew usw. hat sich gezeigt, dass soziale Interaktion auch im Sinne einer Auflehnung durch die modernen Formen der Kommunikation heute ein besonderes Gewicht bekommen haben.
Nehmen wir das Beispiel Tunesien. Hier war der Auslöser der Unruhen die sich rasch ĂŒber die modernen, digitalen Medien verbreitende Nachricht ĂŒber die Selbstverbrennung des GemĂŒsehĂ€ndlers Mohamed Bouazizi am 17. Dezember 2010 in Sidi Bouzid, die in kĂŒrzester Zeit die Menschen auf die StraĂen brachte und dessen Folge war, dass das tunesische Staatsoberhaupt Zine el-Abidine Ben Ali das Land am 14. Januar 2011 verlassen musste. Befreiung wie eine praktische Vernunft im Allgemeinen brauchen Zeit, Zeit, um zu kommunizieren, sich auszutauschen ĂŒber Vorstellungen und Ideen, um sich abzusprechen, zu verabreden, Erfahrungen auszutauschen und, wie in den meisten FĂ€llen, die GrĂŒnde fĂŒr negative Erfahrungen zu finden und negative Erfahrung so schnell wie möglich zu umgehen. Wie im Falle unseres Jungen im Beispiel ist dieser Umgang mit Erfahrung ein ganz zentraler Punkt in einer praktisch geleiteten Vernunft.
Erfahrung, besonders deren intuitiver Umgang im Ereignis mit seinen sozialen, kooperativen und kommunikativen Umgangsformen, die wir zusammenfassend als Interaktion bezeichnet haben, waren noch bis vor wenigen Jahrzehnten im zivil-gesellschaftlichen Umfeld kaum erfolgreich umzusetzen; sie waren extrem teuer, einseitig angewiesen auf öffentliche und privatrechtliche Kommunikation (man sprach von Kommunikations-KanĂ€len), unglaublich zeitaufwendig und hoch anfĂ€llig fĂŒr kommunikative Falsch- und Fehlinformationen sowie einseitiger Informations- und Kommunikationslenkung. Die Kommunikationsdefizite waren so erheblich, dass eine zivile Kommunikation nie wirklich möglich war; das Ă€nderte das Internet. Nun war kommunikatives Handeln in einer Art möglich, die weit ĂŒber die TrĂ€ume einer dualen Kommunikation auf der Basis öffentlicher und privatrechtlicher KanĂ€le hinausging; jeder konnte mit allen ĂŒber die nationalen Grenzen von Ort und Zeit zu fast keinen Kosten, nicht spĂŒrbaren Zeitverzögerungen ungelenkt kommunizieren.
Brauchte die praktische Vernunft bislang enorme Zeitaufwendungen, hohen Geldeinsatz und die Ăberwindung von erheblichen Zugangsbarrieren, so funktionierte es mit dem Internet prinzipiell und in den ersten dreiĂig Jahren, bevor Wirtschaft und Regierungen sich groĂer Teile des Internets bemĂ€chtigten, wie in den TrĂ€umen der reinen Vernunft; alles geschah auf einer Zeitebene der gleichzeitigen-Ungleichzeitigkeit (Band I. Kap. 5) in einem virtuellen Raum, der mit den satelittengestĂŒtzten und weiteren extraterrestrischen Kommunikationstechnologien weit ĂŒber den Erdball hinausreichte. Hinzu kam ein weiterer, der wichtigste Faktor der neuen Kommunikationstechnologien, ohne den eine praktische Vernunft im Sinn einer zivilen Praxis zwar denkbar, aber in der Umsetzung sehr schwer erscheint; die Kommunikation ĂŒberwand nicht nur die Raum-Zeit-Grenzen, sondern zugleich auch die Zutrittsbarrieren. Open Accessibility (siehe Band V. Kap. 1), der weltweite Zugang zu den neuen Technologien und damit zu allen Kommunikationsmöglichkeiten, zu allen erreichbaren Inhalten â Web-Inhalte, Contents, waren bis vor der EinfĂŒhrung von Intranets durch die Wirtschaft â fĂŒr jeden voll zugĂ€nglich. Diese ZugĂ€nglichkeit war eine Revolution, weil ab da jeder mit jedem und alle gemeinsam interaktiv kommunizieren konnten und damit alle Zugangsbarrieren zu Inhalten gefallen waren; jedenfalls so ĂŒberwiegend, dass auf der Ebene des Web-Contents von Open Content â in Anlehnung an Open Source – gesprochen werden konnte.
Open Content, auch bekannt als Creative Commons in dessen rechtlichen Mittelpunkt, bezeichnet Zugang zu Inhalten, deren kostenloser Nutzung, VerĂ€nderung, Bearbeitung, Zusammenstellung und Weiterverbreitung, so dies urheberrechtlich erlaubt ist; heute muss man leider feststellen, dass immer mehr Diktaturen und autokratische Regierungsformen sowohl den Open Access wie die Verbreitung von Inhalten zu verhindern wissen. Man muss heute somit feststellen, dass dies paradigmatisch gilt und wir von einer negativen Freiheit sprechen, wenn es um Meinungsfreiheit in dem Sinne geht, dass jemand seine Meinung frei Ă€uĂern darf, ohne von anderen z.B. durch Zensur daran gehindert wird. Und so gilt ebenso paradigmatisch, dass wir von einer positiven Freiheit sprechen, wenn die modernen, multilateralen Kommunikationstechnologien offen erreichbar sind und zur freien MeinungsĂ€uĂerung uneingeschrĂ€nkt zur VerfĂŒgung stehen und zwar so, dass eine freie MeinungsĂ€uĂerung nicht nur prinzipiell möglich ist, sondern dass Meinungen auch tatsĂ€chlich geĂ€uĂert werden, Kommunikation und kommunikative Interaktion auch tatsĂ€chlich stattfindet; wir haben dies und die darin liegende Problematik bereits am Beispiel der Hass-Posts angesprochen, wir kommen darauf zurĂŒck.
FĂŒr die praktische Vernunft erhellt sich nicht nur aus der Betrachtung der neuen digitalen Daten-Technologien, wie wichtig es ist, dass Zugang zur Kommunikation uneingeschrĂ€nkt fĂŒr jeden möglich ist. Im weitesten Sinne bezeichnet man einen solchen âZustandâ, eher Prozess der Kommunikation, als herrschaftsfreie Kommunikation, aber nicht wie Habermas meint, als negative Freiheit, sondern ganz im Sinne des altgriechischen áŒÎœÎ±ÏÏία – anarchĂa âHerrschaftslosigkeitâ, als eine positive Freiheit, welche sich etymologisch herleitet von áŒÏÏία – archĂa âHerrschaftâ mit verneinendem Alpha privativum, was somit einen Zustand der Abwesenheit von Herrschaft im Sinne von Herrschaftslosigkeit, keineswegs Unordnung und Chaos meint, was als Anomie bezeichnet wird. Positiv ĂŒbersetzt ist also Anarchie eine Ordnung ohne Herrschaft, wie dies Pierre-Joseph Proudhon kundig ĂŒbernommen und ausformuliert hat. Ohne nĂ€her auf Proudhon und andere Autoren eingehen zu wollen, halten wir in deren Geiste fest, dass Anarchie die Vorstellung einer Ordnung ohne Herrschaft in den politischen Diskurs gebracht hat, eine Vorstellung, in der eine gesellschaftliche Ordnung sich selbst organisiert und selbst regelt, idealerweise ĂŒber freie ĂbereinkĂŒnfte aller Mitglieder im Sinne von funktionalen Entscheidungen, also keineswegs konnotierend mit Gesetzlosigkeit und WillkĂŒr- bzw. Gewaltherrschaft.
Was wir mitnehmen ist die Einbeziehung aller Menschen in die praktische Vernunft, die keine gesellschaftliche Segregation akzeptiert. Nehmen wir kurz an dieser Stelle âSein und Zeitâ in den Blick, dann sehen wir schnell, dass eine Rede von einem âMitsein mit Anderenâ denkerisch auf die komplett abschĂŒssige, schiefe Bahn gerĂ€t, wenn man eine Gesellschaft in soziale Segregationsfelder aufteilt. So generell richtig auch das Zitat erscheint: âSofern Dasein ĂŒberhaupt ist, hat es die Seinsart des Miteinanderseinsâ , so weit entfernt von sich selbst und falsch erscheint es, wenn dann in der âAlltĂ€glichkeitâ das âManâ unversehens die Regie ĂŒbernimmt. Alles, was zum âgroĂen Haufenâ gehört, der nicht in der NĂ€he des Besorgens im Kontakt mit dem Anderen steht, âabstĂ€ndigâ ist, ein Neutrum, eben das âManâ, das neben einem in der âöffentlichen Umweltâ, den âöffentlichen Verkehrsmittelnâ z.B. anonym mitfĂ€hrt, in der âVerwendung des Nachrichtenwesens (Zeitung), in denen alle die gleichen Nachrichten lesen, wo also âjeder andere wie der Andere istâ, erkennen wir nicht nur die Depravation des Anderen, der Menschen im Alltag einer GroĂstadt gegenĂŒber dem einzelnen SpaziergĂ€nger durch die schwarzen WĂ€lder und Holzwege der Natur. Jene, die tatsĂ€chlich an Achtung nicht gerade ĂŒppig versorg sind, erhalten in SuZ eine zweite Verachtung im âManâ, im âJedermannâ.
Immerhin sieht man in jenen noch Menschen, die anscheinend lesen und schreiben können, einer industrialisierten Form der Erwerbsarbeit nachgehen, gleichwohl ist deren Bedeutung gleich Null, eine rein statistische Bedeutung. Wenn Heidegger kurz vorher schreibt: âDas Vorfinden einer Anzahl von âSubjektenâ wird selbst nur dadurch möglich, dass die zunĂ€chst in ihrem Mitsein begegnenden Anderen lediglich noch als âNummernâ behandelt werden. Solche Anzahl wird nur entdeckt durch ein bestimmtes Mit- und Zueinandersein. Dieses ârĂŒcksichtsloseâ Mitsein ârechnetâ mit den Anderen, ohne dass es ernsthaft âauf sie zĂ€hltâ oder auch nur mit ihnen âzu tun habenâ möchte.â So sehr man auch jeden Satz aus dem Zitat hier aus vielfachen aktuellen Erfahrungen unterschreiben möchte, so wenig Bedeutung aber hat er fĂŒr Sein und Zeit und das Denken Heideggers im Ganzen. Wie wir eben an Rosa Luxemburg gezeigt haben, ist eine Satz-Hermeneutik nicht aussagekrĂ€ftig, ohne Wissen um den Kontext und die Perspektive, in der eine Aussage erscheint. Das Sein und die Zeit Heideggers waren geprĂ€gt von hierarchischen Ordnungsformationen, von Kaiserreich und groĂen KlassenkĂ€mpfen auf den StraĂen der Weimarer Republik, von rest-feudalen Herrschaftsformen und industrieller Arbeit, von extremen Bildungsschichten mit sozialer und kultureller Bedeutung, den bildungsfernen, abhĂ€ngigen Arbeiterklassen und den gebildeten Klassen von Entscheidern.
Die Gesellschaft war festgefĂŒgt aus einer hierarchischen Ordnung, an deren Spitze sich ein Kaiser lĂ€nger wĂ€hnte, als ihm sein feudales und damit auch politisches Ende gewahr wurde. Aus einer Regierung, die ebenfalls ihren Untergang nicht sehen wollte und sehenden Auges mit dem Untergang paktierte, bis man sie nicht mehr brauchte und abservierte. Die, die man brauchte, die Industrie, machte nur allzu gerne mit beim groĂen Spiel um die Weltherrschaft und mit ihnen ging ein ganzes Volk zugrunde, eigentlich sogar zweimal. Von diesem Volk als âManâ und âJedermannâ zu sprechen, trifft es somit doppelt, wird die Philosophie zum letzten, intellektuellen Totschlagsargument in der totalen Entqualifizierung und Entpersönlichung im âNiemandâ. Es fĂ€llt schwer die Zeilen zu lesen, ohne dass sich einem der Magen und der Geist zugleich umdrehen . Der Kontext und die Perspektive dieses Denkens ist ein elitĂ€res VerstĂ€ndnis der Welt und des Mitseins, als solches ist es âausgezeichnetâ im doppelten Sinne, gesellschaftlich anerkannt in den Entscheider-Eliten und in den Bildungs-Eliten sowie festgeschrieben und festgehalten in der Ideologie und Struktur einer Klassengesellschaft.