Die praktische Vernunft

Wie kann Philosophie die Verwiesenheit des Daseins auf Andere so schnell übersehen, und dass dieser Andere nicht allein der sein kann, mit dem ein Mensch notwendig seine Reproduktion bestreiten muss? Wie kann Philosophie übersehen, dass Kultur und Zivilisation nicht nur ein Beisammen beschreibt und die Menschen, die notwendige Bedingung für eine kulturelle Entwicklung sind, nicht nur zu den Lebenden gehören können? Reicht es wirklich aus, von der Faktizität von Geschichte zu sprechen, von etwas Vorgängigem und dies nicht sogleich auch als hinreichende, sondern nur als notwenige Bedingung zu missverstehen? Worauf baut denn eine Kultur auf, wenn nicht auf die kulturellen Errungenschaften und nicht nur auf die materiellen, sondern auch auf die normativen bis hin zu den Formen im Umgang mit den Toten, die die Toten zu einem selbstverständlichen Bestandteil der Lebenden werden lassen? Natürlich hat jede Kultur einen Pakt mit den Ahnen und der erschöpft sich bei weitem nicht in Erinnerungskulten. Mehr als alle Vorrednerinnen und Vorredner, die anlässlich des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus hat Marina Weisband den zentralen Gedanken einer Perspektive im Umgang mit der jüdischen Kultur in Deutschland hervorgehoben; beeindruckend. Sie verweist darauf, dass Erinnerungen nicht zu Ritualen und die Toten nicht zu Fabelwesen werden sollen und die, die an den Holocaust erinnern, nicht zu lebendigen Mahnmalen. Es komme vielmehr für die lebende Generation darauf an, unter den Portraits der Eltern und Großeltern eine neue Gesellschaft zu bauen, in der „vielleicht einmal eine jüdische Kultur gelebt werden kann und mit einer schlichten Selbstverständlichkeit behandelt wird.“

Von dieser Selbstverständlichkeit eines ganz und gar nicht-selbstverständlichen Sachverhalts sprechen wir also, wenn wir von praktischer Vernunft im andauernden Prozess des Übergangs von Zivilisation und Kultur sprechen. Wir können dabei den Blick dahingehend orientieren, welchen zivilisatorischen Stand eine Kultur einnimmt. Dies geht schwer, ohne diesen Stand sogleich zu beurteilen, mit anderen zu vergleichen und dann zu beurteilen, aber wir werden es versuchen, so weit wie möglich als Sachverhalt im Sinne unserer praktischen Vernunft darzustellen mit der Gewichtung auf politische, normative, geistige und kulturelle Sachverhalte.

IN RICHTUNG FREIHEIT

Wir haben eben gesagt, dass Heideggers Begriff der Freiheit defizitär ist, da er nicht aus einer praktischen Vernunft entspringt. Lassen wir den Namen Heidegger nun weg und beschreiben diesen Freiheitsbegriff einmal als einen geistig-kulturellen Sachverhalt – wir werden synonym dafür auch die Begriffe Formation und Struktur benutzen, wenn dies der Sache dienlich erscheint. Der beinhaltet das Primat des Denkens, ist also ein hermeneutischer Begriff. Alles steht unter der Perspektive eines Denkens, nicht einer sozialen, kulturellen, ökonomischen Praxis, und bewertet alles, was es denkt, im Sinne des Hypokeimenon, des dem Denken Zugrundeliegende bzw. das, worüber die Rede ist, aus einer hierarchischen Perspektive, deren pyramidale Spitze die Daseinsphilosophie sein soll. Kulturelle Praktiken wie etwa die Kunst und die Wissenschaften etc. begegnen darin als eine Verstehensart, eine Art zu verstehen und somit als Untergruppen, eigenständig im phänomenologischen bzw. fachwissenschaftlichen Sinne zwar, aber immer als geistige Mangelverwaltung; mehr oder weniger. Als ein mehr oder weniger vollständiges Wissen, wobei es diese vorgestellte Vollständigkeit eschatologisch bzw. im Sinne der Entelechie, wie wir mehrfach bereits ausgeführt haben, nicht geben kann. Die Frage bleibt dabei natürlich schon, wie messen wir dieses Mehr oder Weniger, wenn der Maßstab, mithin das Ganze unbekannt sind?

Dieser Freiheitsbegriff ist hierarchisch auch darin, dass in ihm eine politische Hierarchie sichtbar wird, die im Vorbild der angelsächsischen Suprematie als Kolonialmacht nach außen und als Feudalismus und Rassismus nach innen formuliert ist. Ökonomisch betrachtet liegt ihr die Idee des Laissez-faire (Band III. Kap. 3 und 5) zugrunde, die eine Bezeichnung für eine extreme Form des Liberalismus, des sogenannten Manchesterliberalismus ist, der zufolge der Staat die ökonomische Entwicklung und den Wohlstand der Bevölkerung am besten fördert, indem er nicht in das wirtschaftliche Geschehen eingreift und so den ökonomischen Akteuren, vor allem Banken, Industrie und Privatvermögen freies Spiel auf den nationalen wie internationalen Märkten inklusive den Finanzmärkten, in England besonders verbunden mit der City of London und den Kronkolonien, lässt (Band III. Kap. 4). Zivilisatorisch gründet dieser Freiheitbegriff im antiken Hedonismus, aus dem heraus sich der Anspruch des Individuums, der „Idiotes“ auf die dauerhafte Erfüllung, Entelecheia, eigener Bedürfnisse, seien diese materieller, psychischer und sinnlicher Art ableitet.
Die begriffliche Ableitung kulminiert dann im Begriff des Utilitarismus, der Erreichung des größtmöglichen Nutzens, dessen maximale Extension in den Erscheinungsformen des grenzenlos akkumulierten Privatvermögens, der Erfüllung von Machtphantasien im privaten und öffentlichen Leben und im geistig-elitären Habitus privaten Erfolgs in dessen sichtbaren Insignien erreicht wird; mein Haus, mein Auto, mein Boot, meine Frau – in dieser Reihenfolge. Kurzgefasst, dieser auch heute noch in westlichen und asiatischen Industriegesellschaften am angelsächsischen Modell orientierten Gesellschaften und deren dominierenden Freiheitsbegriff ist ein zivilisatorisch rückständiger Begriff. England und die USA, vor allem in den Zeiten von Brexit und donald t. haben dies umfassend und evident belegt.

Philosophie am Beginn des 20. Jahrhunderts hatte durchaus die Möglichkeit, den Begriff von Freiheit aus der Geschichte der bürgerlichen Revolution, des Bonapartismus als eine autoritäre Herrschaftsform im Unterschied zum bürgerlichen Parlamentarismus, der expansiven, staats-diktatorischen Außenbeziehungen des Kolonialismus, ökonomisch wie ideologisch zu widersprechen, zumal der transatlantische Dreieckshandel aus Menschenhandel und Baumwollhandel sattsam bekannt waren. Gerade der angelsächsische Freiheitsbegriff war und ist überwiegend heute noch ökonomisch, sozial und kulturell derart segregativ, dass damit zu arbeiten und zu denken wenig einträglich für eine Perspektive, eine Vorstellung einer neuen Gesellschaft ist. Politisch ist er wie damals in fast ganz Europa, dann von den Nazis überschrieben und auf die Welt ausgedehnt, in neuer Terminologie gesprochen, außenpolitisch unilateral anstelle multilateraler Vereinbarungen, innenpolitisch ist er proprietaristisch , ökonomisch protektionistisch und soziologisch rassistisch. Ein Rückgriff auf eine solche Formation in der Betrachtung von gleichwelchen Sachverhalten ist weder fundamental noch universell brauchbar, ist intellektuell eher kalter Kaffee als coffee to go, selbst wenn dieses Mitnahmegetränk heute auch nicht allen Geschmacks- und Qualitätsvorstellungen entspricht.

Schon Leibniz geht von einem Freiheitbegriff aus, der zumindest eine Einbettung in der praktischen Vernunft gefunden hat und als Handlungsfreiheit beschrieben wird. Darin unterscheidet sich der freie Bürger vom Sklaven als „liberté de droit“ , also als Freiheit von Zwang, wenngleich Leibnitz wenig dazu sagt, wie denn der Sklave aus dem Zwang herausfinden soll; wir kennen die Antwort aus Großbritannien, das 1833 Sklaverei per Gesetz verbot und den USA, die die Sklaverei 1865 nach dem Sezessionskrieg für verfassungswidrig erklärten. Piketty aber kennt die wahre soziale Dimension der Sklaverei in der politisch-ökonomischen Dimension, die zwar per Gesetz oder qua Verfassung Sklaverei verbietet, aber kulturell durch weitere Gesetze Vorschub leistete für einen Rassismus, der bis heute anhält und die Grundlage bildet für eine dramatische Ungleichheit vor dem Gesetz, im Zugang zur Bildung, bei der Verteilung des gesellschaftlichen Wohlstands qua Arbeit und in den sozialen Vorsorge- und Fürsorge-Systemen (zusammenfasst als sog. struktureller Rassismus), die besonders in den USA derart rückständig sind, dass eine neue Gesellschaft mit einer antirassistischen Selbstverständlichkeit kaum vorstellbar scheint; jedenfalls wohl nicht in der aktuellen Amtsperiode von Präsident Biden, der einer proprietaristischen Differenzierung den Kampf angesagt hat.

Was Leibniz noch als positive Freiheit, als „liberté de fait“ dachte, ist umso wichtiger, als darin überhaupt keine soziale Differenzierung mehr enthalten ist, sondern einen einfachen Sachverhalt beschreibt, der einen Kranken von einem Gesunden unterscheidet und eigentlich ein Menschenrecht ist. Ohne zu sehr darauf eingehen zu wollen – wir haben dies auch an anderer Stelle bereits gemacht – sei darauf verwiesen, dass die Charta der Menschenrechte überhaupt keine proprietaristischen Vorstellungen enthält und juristisch betrachtet wohl an der Spitze der zivilen Entwicklung von einem universellen Rechtsstaat steht, wobei dieser Rechtsstaat schon keine nationalstaatlichen Grenzen mehr kennt und somit den Bürger als Weltbürger veranschlagt. Die Menschenrechte gelten transnational bzw. global und für alle Menschen, was deren Integrität und Schutz vor Willkür betrifft, deren ökonomischer, sozialer, kultureller wie individueller Selbstbestimmung. Es gibt drei Artikel, die durchaus diskussionswürdig erscheinen. Das ist Artikel 26, Abs. 3. Die Eltern haben ein vorrangiges Recht, die Art der Bildung zu wählen, die ihren Kindern zuteilwerden soll. Sicher haben Kinder nicht die Möglichkeit, über ihre Bildung bis zu einem bestimmten Alter selbst zu entscheiden, generell aber den Eltern dies rechtlich zu gewähren, erscheint problematisch. Da ist der Artikel 27, Abs. 2. Jeder hat das Recht auf Schutz der geistigen und materiellen Interessen, die ihm als Urheber von Werken der Wissenschaft, Literatur oder Kunst erwachsen. Wir haben im Zusammenhang mit Copyrights ausführlich darüber diskutiert (Band III. Kap. 4), aber wir finden diesen Artikel im Kern unüberlegt, da der möglichst freie Zugang zum Wissen für die Allgemeinheit die kulturelle Auseinandersetzung fördert und damit zivilisatorisch hohen, vielleicht höchsten Rang nach der Subsistenzsicherung hat.
Alle Entwicklungen der Menschheit haben diesen freien Zugang zum Wissen als Voraussetzung, wie anders wollen wir die Buchdruckerkunst von Gutenberg sonst bewerten. Hätte Gutenberg nach heutigen Maßstäben ein Copyright bzw. ein Markenrecht auf die Ergebnisse der Druckerpressen der Welt, er wäre sicherlich reich geworden, umgekehrt reziprok in gleichem Maße wäre unsere kulturelle Entwicklung aber wahrscheinlich nur schleppend in Tritt gekommen; und dabei haben wir noch nicht einmal die Entwicklung der Aufklärung und der bürgerlichen Gesellschaft erwähnt. Schließlich der Artikel 28. Jeder hat Anspruch auf eine soziale und internationale Ordnung, in der die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten voll verwirklicht werden können. Wir erkennen darin durchaus einen frommen Wunsch, einen Rechtsstatus hat der Artikel aber wohl bis auf weiteres in weiter Ferne der Zukunft nicht. Das ermöglicht uns auf einen Aspekt hinzuweisen, dass jedes Recht auch nur so viel Wert ist, wie es exekutiert und sanktioniert wird. Aber zurück zur Freiheit.

Bei Kant wird die positive Freiheit gerne als Willensfreiheit verstanden, was so aber nicht ganz richtig ist. Bei Kant beginnt alles Denken, wozu auch und besonders das begriffliche Denken gehört, und damit auch die Rede über Freiheit mit einer transzendentalen Bestimmung, also den Bedingungen, die etwas ermöglichen. Freiheit, bei Kant, denkt einen praktischen Freiheitsbegriff, also einen Begriff aus seinen praktischen, hier Handlungszusammenhängen. Handlungen, insofern sie frei sind im positiven Sinne, können einen Anfang setzen, etwas beginnen und Kant kommt ohne Umschweif wie selbstverständlich auf den Begriff der Spontaneität als Bedingung der Möglichkeit eines Anfangs durch menschliches Handeln, ohne negative Begrenzungen, Einschränkungen oder Zwängen. Spontaneität bezeichnet ein menschlich universelles, kein besonderes, gar persönliches Vermögen, „einen Zustand von selbst anzufangen“ , in unseren Worten, etwas zu verändern. Wie immer bei Kant wundert man sich dann ein wenig, warum dieses Zitat nicht in der Kritik der praktischen, sondern der reinen Vernunft steht. Insofern die reine Vernunft von den transzendentalen Bedingungen handelt, die etwas ermöglichen und etwas verändern, könnte man meinen, das Zitat hat hier dann doch seinen rechten Platz. Aber schaut man genauer hin, dann ist es mit der positiven Bestimmung der Freiheit aus einem so gegebenen Sachverhalt, von uns auch Vermögen genannt, doch schnell vorbei und Kants Freiheitsbegriff ein doppelt negativer.
Die erste gleichsam transzendentale Negation ist die Freiheit bei Kant als Idee und Idee bestimmt er als begrifflich negativ zur Erkenntnis und Erfahrung. Kants Freiheit als Spontaneität, einen Anfang von etwas zu setzen, etwas zu beginnen und damit zu verändern, was wir so gerne so sehen würden, wie es ist, wäre eine herrlich einfache Sache, die Freude bereiten kann und etwas nach sich zieht, was andere wieder freut oder auch in Grund und Boden ärgert, weil sie nicht auf diese einfache Idee gekommen sind (verlieren Sie bitte nicht Ihren Humor), kann uns weder bewusst werden als solche und auch nicht aus der Erfahrung erschlossen werden; unschwer zu erkennen, dass Kant hier fast glaubensexegetisch der platonischen Ideenlehre folgt. Kaum war sie da die Spontaneität einer Idee, einer Vorstellung, ist sie schon wieder perdu.

Wir erinnern an unseren Jungen, der nach der Tracht Prügel recht spontan auf die Idee kam, beim nächsten Kindergartenbesuch einen Freund mit auf den Weg zu nehmen, was auf ähnliche Weise alle Kinder tun könnten, so sie nicht in den Wald fliehen und nicht mehr herauskommen wollen, bevor die Eltern oder andere Erwachsene ihnen Geleit zusichern. Wie also die Freiheit unter den Bedingungen des Möglichen bei Kant sofort als Idee und somit als zwar konstitutiv, aber nie mehr durch intuitives Denken und Erfahrung als solche erreicht werden kann, so geht es auch in der praktischen Vernunft. Allein, wir erinnern daran, nur unter Maßgabe des Absoluten kann eine Idee als Repräsentation des Absoluten im Denken und im Handeln bzw. in der Erfahrung negativ bestimmt werden. Ist eine Idee aber das, was sie spontan ist, dann hat sie keine hinreichende nicht einmal eine notwendige Bedingung im Absoluten und ist sofort Bestandteil des Denkens, sei diese auch intuitiv und innerhalb der Erfahrung, sei diese auch antizipativ und somit noch keine absolut sichere Vorstellung oder Idee, die mit größtmöglicher Effizienz auch in Erfüllung geht.
Aus Sicht der praktischen Vernunft ist Kants Begriff der Freiheit auch ein negativer Begriff – muss er ja auch sein, da auch für die praktische Vernunft die Maßgabe des Absoluten gilt – insofern er bestimmt ist als „Unabhängigkeit der Willkür durch die Antriebe der Sinnlichkeit“ . Auch hier sehen wir wieder, dass der Begriff bene nicht aus der praktischen Vernunft, wie wir sie bestimmen, betrachtet wird, sondern aus dem Blickwinkel der reinen Vernunft und somit auch ein reiner Verstandesbegriff ist, der durch Denken und nicht durch einen praktischen Zusammenhang gewonnen wurde mit allen Implikationen und Folgen, die wir der Zirkularität moderner Subjektvitätstheorien nachgewiesen haben. Dass Kant daher als Erstes auf die Beziehung zwischen transzendentalen Bedingungen, dann den konsekutiven Bedingungen des Denkens in praktischen Zusammenhängen und zu guter Letzt auf die Antriebe der Sinnlichkeit kommt, ist zwangsläufig; natürlich kommen in allen Subjektivitätstheorien des Denkens zuerst die sinnliche Wahrnehmung und sinnlich-empirischen Angelegenheiten, die ja die ersten Grundlagen bzw. notwendigen Voraussetzungen bilden, dass wir etwas denken bzw. reflektieren, es sei denn, wir denken daselbst über die Voraussetzungen nach. Die Sinne sind nun mal das, was die ersten Inhalte des Denkens im praktischen Sinne sind, so man nicht nur die Möglichkeit zu denken gedenkt, sondern auch etwas Konkretes, was man denkt. Es beginnt immer mit der Wahrnehmung, dem Meinen und Dafürhalten, der Täuschung und der Wahrheit, bis an den Rand des Absoluten. In dieser Aufwärtsbewegung weg von der einschränkenden zur unbedingten Bestimmung der Freiheit muss auch der Königsberger zuerst die nervenden, willkürlichen Antriebe der Sinnlichkeiten, gleichsam den „Triebcharakter“ (vgl. S. Freud) des Menschen beiseiteschaffen, um zu einigermaßen normativen Systemen und zu kulturschaffenden Vermögen zu kommen.

Was Freud noch im Minimalformat nannte: Wo Es war soll Ich werden, ist bei Kant die negative Freiheit der praktischen Vernunft auch Voraussetzung, damit der (geläuterte) Mensch sich selbst Gesetze zu geben in der Lage ist . Nun endlich angekommen in der praktischen Vernunft ist der vernünftige Mensch – synonym für die Vernunft – in der Lage, unabhängig von seinen Trieben, Neigungen und Vorurteilen, auch unabhängig von dem, was er nur glauben kann, aber nicht wissen, nicht wissen darf mitunter, zu einem selbstbestimmten Leben, zur sittlichen Vernunft, zur Gesetzgebung und zur Moral aus eigener Überzeugung zu gelangen. Was uns trotz einiger Mühen an Kant so gefällt ist, sein Freiheitsbegriff ist als ein politischer Begriff bestimmt und wenn auch negativ aus einer praktischen Vernunft.
Kants Autonomie bzw. Freiheit als Selbstbestimmung hat zudem noch den überwältigenden Charme der Dissidenz, ja sogar einer fast anarchistischen Ungehorsamkeit, insofern rechtliche Freiheit „die Befugnis (ist), keinen äußeren Gesetzen zu gehorchen, als zu denen ich meine Beistimmung habe geben können.“ Da ist wenig zu vernehmen von einem ewigen Frieden wie der Titel vermuten lässt; just das Gegenteil klingt aus den Zeilen des Dissidenten aus Königsberg und wahren Verfechter der Aufklärung. Mit Kant macht man durchaus Anfänge und dabei ist auch eine Französische Revolution kein Grande Malheur. Kein Geringerer als Karl Marx hat das so gesehen: die Kant’sche Philosophie ist „die deutsche Theorie der französischen Revolution“ und selbst Heinrich Heine schrieb noch einige Jahrzehnte später, dass die „Kritik der reinen Vernunft“ die geistige Revolution in Deutschland einleitete und mit den Vorgängen in Frankreich große Parallelen aufwies, wiewohl Kant selbst sich eindeutig in seiner Philosophie als Weltbürger bekannte, als ein Kosmopolit im Denken, gleichwohl auch er ein Untertan des Preußischen Feudalstaates war; aber wer hindert daran, sich über die eigene Situation hinauszudenken, es kommt nur darauf an, dies auch zu tun.

Schelling ist dem gefolgt, zumindest, was das reine Denken angeht. Auch er kennt eine negative und eine positive Freiheit, die er, der große Geheimniswalter, zwischen Natur und Gott ansiedelt. So ist der Mensch nach Schelling deshalb frei, weil er zwischen Natur und Gott steht, weil er von beiden etwas hat bzw. nicht hat. Seine negative Freiheit, Freiheit von etwas, bestimmt er so: „Dadurch also, daß der Mensch zwischen […] der Natur und […] Gott in der Mitte steht, ist er von beiden frei. Er ist frei von Gott dadurch, dass er eine unabhängige Wurzel in der Natur hat, frei von der Natur dadurch, daß das Göttliche in ihm geweckt ist […]“ . Seine positive Freiheit bestimmt er so: „Religiosität“ ist die „höchste Entschiedenheit für das Rechte, ohne alle Wahl“ und wie immer bei Schelling bleibt man staunend und rätselnd zugleich zurück und fragt sich, wie nach dem ersten dies zweite Zitat folgen konnte.

Heidegger findet gar fünf Freiheitsbegriffe, eigentlich fünf unterschiedliche Bestimmungen von negativer und positiver Freiheit in summa in Schellings Philosophischen Untersuchungen: zwei negative; die Ungebundenheit, die Freiheit von (etwas) und als positive, die libertas determinationis, die Freiheit zu und die Freiheit als freiwilliges Sich-Binden an (etwas). Was seit der griechischen Antike sich mit Aristoteles begann abzuzeichnen, dass nämlich die Sinne uns ständig etwas vorgaukeln, was wahr bzw. so sein soll, wie es aussieht, und sinnlich erfahrbar ist, rutschte im Rang der Wahrheitsfindung immer tiefer ab und konnte auch in der Willensfreiheit und anderen Formen von Freiheitsäußerungen wenig Gehalt finden. So wurde die Sinnlichkeit und insgesamt die Leiblichkeit in der Philosophie zu einem notwendigen Übel auf dem Weg zur Wahrheit und Freiheit, das es zu überwinden galt. Das Denken übernahm die Regie, wurde zum monopolistischen Anspruch bei der Frage und der Suche: was ist Wahrheit und was ist Freiheit und zu einer ganzen Kultur der Unabhängigkeit von allem Sinnlichen, dem der Status der Willkür nun zukam. Nicht politische Willkür stand im Zentrum, die Antriebe der Sinnlichkeit wurden zu Interna der Unfreiheit und Täuschung; c’est la Guerre. Und kaum noch vorstellbar ist, dass ein Philosoph nicht asketisch und zölibatär zugleich sich dem Denken, was ist Wahrheit und was ist Freiheit überlassen kann, ganz in der Tradition einer christlichen Metaphysik.
Dass Sinneslust und -freuden neben Weisheit bestehen könnte, wurde unvorstellbar; Entweder-Oder. Aber nicht nur der Auszug von Sinnlichkeit und leiblichen Gelüsten, gar triebhaftem Verlangen fällt uns heute entgegen und bildet sogar in westlichen Gesellschaften einen geradezu fanatischen Triebverzicht als Grundlage von „political correctness“ und ziviler Anpassung. Es liegt schon in der Sache selbst begründet, wenn alles, was in das Feld der sinnlichen Bezüge zu anderen Menschen und zur Natur gehört, einfach aus den Betrachtungen fällt, auch nur abgewertet wird als täuschend nebensächlich, als dem Wahren und Guten abträglich, dann fällt nicht nur die Wahrnehmung alles Sinnlichen auf der Skala des Wahren und Guten in Richtung des Schönen, so die Sinne ihrer Läuterung nichts wirklich entgegensetzen. Das Sinnliche wird allenfalls dann noch als schöner Schein gehandelt und Teile der Kunst degradiert zur marktgängigen correctness. Wenn so sehr alles, was den Sinnen und den leiblichen Gelüsten eigen ist, vor allem das Momentum:
„Werd ich zum Augenblicke sagen:
Verweile doch! Du bist so schön!
Dann magst du mich in Fesseln schlagen,
dann will ich gern zu grunde gehen!“ (Goethe)

dann wird selbstverständlich auch alle Vernunft, die die Sinne miteinschließt, vielleicht noch zur „schönsten Nebensache der Welt“ depraviert, aber der Zugang zur Welt in der Art, wie er betrachtet, gar reflektiert wird, wird nach Maßgabe seiner intellektuellen Betrachtungsweise je mehr aufgewertet erscheinen, je weniger die Sinne und die leiblichen Gelüste und Leidenschaften darin eine bedeutende Rolle spielen, gar einen Sinn vermitteln.

Eine Rolle spielen sie noch in eben der Bedeutung einer Anpassung an korrekte Umgangsformen bis hin zu den Perversionen der Haute Couture und der Haute Cuisine, die noch ins Bild passen. Die Haute Couture mit der höchsten Form der rigorosen Ästhetisierung des weiblichen Körpers in der anorektischen, zum Abbild ausgetriebener Sinnlichkeit stolzierenden Weiblichkeit, die Haute Cuisine als die höchste Form der exzentrischen Luxusküche mit ihren Exzessen des Nouveau Réalisme, der Essen und Küche des Volkes zur Arte Povere deklariert. Kein Zufall, dass beide, Haute Cuisine und Haute Couture für den Nouveau Réalisme, den neuen Realismus stehen, in dem eine kleine exklusive Gruppe, ein exklusives Feld aus Designern und Köchen, ihrer Entourage und eines irrlichternd herumreisenden Publikums aus Superreichen ein autopoietisches, sich also selbsterhaltendes Feld bilden, auf dem sich die bizarrsten und verrücktesten Formen der Phantasien eines selbstbestimmten Lebens reproduzieren. Was da an Supermodells und Supermännern mit Privatjets und Koks in Massen im Pilotengepäck herumreisen zu den exklusivsten Sterne-Cucinas und den handverlesenen Laufstegen inszenierter Selbstmächtigkeitsphantasien zeigt immer, wenn Bilder herausdringen aus den Enklaven, ein Gesicht, welches unweigerlich lächerlich wirkt ob der übersteigerten Perversion, den Alltag und dessen Sinnlichkeit auszuschließen und anstelle dessen die eigenen Vorstellungen eines besseren Lebens zu setzen; es bleibt dann eben schwer, wenn nicht blöd. Gleichwohl, mit der Depravation von sinnlicher Wahrnehmung, Leiblichkeit und Alltäglichkeit ist das Momentum des sinnlichen Erlebens, des Möglichen im Alltäglichen und auch alle praktische Vernunft unter die Räder gekommen. Und zwar eine praktische Vernunft, die außerhalb etablierter Umgangsformen sich ausbildet im Umgang mit Menschen ebenso wie im Umgang mit den geltenden Regeln der praktischen Vernunft.

Wir verfolgen einen praktischen, positiven und interaktiven Freiheitsbegriff, einen der praktischen Vernunft, die sich öffnet zum Diskurs, wobei der Diskurs nicht notwendig ein akademischer Diskurs sein muss. Er kann diskursiv, also methodisch und logisch schlussfolgernd sein und ist dabei nicht zugleich auch wertstellend im Sinne von beurteilend. Er kann erörternd stattfinden wie die meisten Diskurse, die sich in privaten Gesprächen wie in öffentlichen Diskussionen entwickeln. Diskurse können auch nach der ursprünglichen Bedeutung des Ausdrucks: discursus ‚umherlaufen‘ bzw. „hin und her gehendes Gespräch“ mithin als Gespräche mit verschiedenen anderen Menschen betrachtet werden, worin die gesamte Palette zwischenmenschlicher Beziehungen mitgeht, mitumherläuft.
Diskurse in der praktischen Vernunft kommen ohne eine Öffnung zum Anderen nicht aus. In ihnen liegt die Möglichkeit, einen gemeinsamen Weg zu finden bzw. zu suchen grundsätzlich angelegt, eingebettet auch was einen Kompromiss einschließt. Aber nicht einen Kompromiss nur auf etablierte Formen des Umgangs mit Menschen oder einen Sachverhalt, sondern einen Kompromiss auf etwas Neues, von dem niemand weiß, wie es sich in der Interaktion mit Anderen entwickeln wird. Der Kompromiss, so verstanden, kann daher am Anfang einer Interaktion keinem Urteil, keiner Bewertung abschließend unterzogen werden, außer einer Beurteilung und Bewertung der Ziele, auf die hin eine Praxis gerichtet ist. In der praktischen Vernunft geht es, wie Kant sagte, erst einmal darum, einen Anfang zu setzen, einen Anfang mit etwas und mit jemandem zu machen. Mit jemandem meint daher eine Interaktion, gleichwohl ein Anfang auch von einer einzelnen Person ausgehen kann. Die praktische Vernunft ist aber nicht wie Habermas dies gerne sah, ein „Schauplatz kommunikativer Rationalität“, gar ein Denksystem, in dem die diskrete Rolle der Macht wirkt. Was Michel Foucault in jeden Diskurs hineindenkt, nämlich eine Vernunft, in der sich „unpersönliche und kontingente Machtwirkungen“ verstecken, kommt eher aus seinem strukturalistischen Ansatz als aus der Erfahrung in der Sache; die einzig wirklich wahre Macht, die institutionalisierte politische Vernunft, überall zu vermuten, grenzt eher schon an paranoide Vorstellungen. Gleichwohl, auch wir kommen nicht umhin, einen positiven wie einen negativen Freiheitsbegriff voneinander abzugrenzen.

„Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden.“ Dieser Satz, in Messinglettern seitlich der Bürgersteige am Berliner Rosa-Luxemburg-Platz in den Boden eingelassen, ist zweifelsohne ein Satz, der die Anderen in vollem Umfang einbezieht, also ein Satz, der sich wohltuend von all‘ den rekursiven, auf sich selbst bezogenen Sätze absetzt, die in der Freiheit die Abwesenheit von Zwang und Herrschaft sowie von einschränkender Macht sehen wollen, von äußeren, politischen Bedingungen, die die Selbst-Erfahrung von Freiheit begrenzen. Gleichwohl, ohne solche Begrenzungen ist die Freiheit des einen doch auch begrenzt durch die Freiheit eines anderen Menschen. Das aber ist recht dürftig, ist es doch ein recht unbestimmter Begriff und somit unbedeutend und mit keinem Sinn beseelt, betrachtete man nicht den Kontext, in dem er steht. Man kann, wie Sarah Wagenknecht gerne interpretiert, noch mitgehen, wenn man diesem Satz Toleranz beiliest. Das ist durchaus im Rahmen der Interpretation, aber ist diese Bedeutung des Satzes auch wirklich gemeint? Man darf da erhebliche Zweifel anmelden, wie dies der Potsdamer Historiker Ernst Piper ausführlich dargelegt hat.
Politisch betrachtet geht das Zitat nicht überein mit einer Frau, die offen für die Diktatur des Proletariats und gegen freie, gleiche und geheime Wahlen eintrat und die von der Nationalversammlung sagte, sie sei: „ein überlebtes Erbstück bürgerlicher Revolutionen, eine Hülse ohne Inhalt, ein Requisit aus den Zeiten kleinbürgerlicher Illusionen vom ,einigen Volk‘, von der ,Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit‘ des bürgerlichen Staates“. Man mag stehen zum Bürger und seinen Illusionen wie man/Frau will, aber mit Toleranz hat diese Haltung nichts zu tun wie auch nicht mit einer Freiheit für alle Menschen, so sie nicht zum Proletariat gehören. Diese Auflassungen sind entsetzlich unreflektiert, nicht einmal intuitiv richtig; im Gegenteil.
Man konnte damals schon vermuten, was ein paar Tage später, am 23. Dezember 1918 dem ersten Zitat folgen sollte: „Die Nationalversammlung ist eine gegenrevolutionäre Festung, die gegen das revolutionäre Proletariat aufgerichtet wird. Es gilt also, diese Festung zu berennen und zu schleifen.“ Von Toleranz und demokratischer Vernunft zeugt dieses Zitat nicht, eher von einer Umkehrung staatlicher Gewalt in einen bolschewistischen Terrorstaat, der seine „Kinder“ in die Revolution treibt und sie sofort nach dem Staatsstreich frisst wie einst nach der Französischen Revolution Danton und dessen Anhänger durch den Terror des Jakobiners Robespierre auf der Guillotine landeten. Der Terror der Intoleranz hatte damals seine erste und fand im bolschewistischen Terror seine größte Ausbreitung: wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Die Generalformel der Intoleranz und des Terrors haben beide nichts auch nur im Entferntesten zu tun mit Toleranz und lassen auch nichts gelten als ihren Selbstbezug, den man politisch Diktatur oder den unbedingten Willen zur Macht nennen muss; unbedingt, weil mit niemandem geteilt und von niemandem frei gewählt, nicht einmal in Form einer begrenzten Freiheit, die eine demokratische Mehrheitsentscheidung nun einmal ist.

Für Hannah Arend war die Befassung mit dem Begriff der Freiheit keine rein akademische, noch eine diskret ideologische Herausforderung, sie war eine realpolitische Herausforderung für einen Freiheitsbegriff, der, unschwer zu verstehen, ein existenzieller Begriff einer jüdischen Denkerin und Autorin war. Sein Kontext kam aus den historischen Beispielen der Französischen und der Amerikanischen Revolution und fand daher auch seinen Sinn in einer praktischen Vernunft, der Idee der Freiheit aus der Befreiung aus Unterdrückung. Befreiung ist für Arend wesentliche Bedingung für Freiheit, Freiheit fängt also mit der Befreiung aus Herrschaftsverhältnissen an und hat so auch ihre Begründung in politischen, nicht in hermeneutischen, soziologischen oder phänomenologischen Kategorien. Durch ihr Verständnis, dass Freiheit in realpolitischen Kategorien gedacht werden soll, die „die Freiheit, frei zu sein“, also ein Verständnis der politischen Befreiung erfordern, in dem also der Wunsch oder die Sehnsucht nach Freiheit im Zentrum politischer Aktion stehen, hat sie den Begriff der Freiheit interaktiv bestimmt, als Interaktion von Menschen, die gegen Unfreiheit aufstehen. Darin findet kein positives Verständnis von Freiheit Platz, füllt die Auflehnung gegen Unfreiheit den gesamten politischen Raum. Gleichwohl dies aktueller erscheint, als sie selbst wissen oder gar vermuten konnte, fehlt diesem Verständnis von Freiheit als Befreiung doch ein wesentlicher Aspekt, der neben anderen wichtigen Aspekten in allen modernen Formen der Auflehnung gegen Unfreiheit eine ganz bedeutende Rolle spielt. In den Ländern des sogenannten „Arabischen Frühlings“, in Hong Kong, am Tiananmen Platz, auf dem Maidan in Kiew usw. hat sich gezeigt, dass soziale Interaktion auch im Sinne einer Auflehnung durch die modernen Formen der Kommunikation heute ein besonderes Gewicht bekommen haben.
Nehmen wir das Beispiel Tunesien. Hier war der Auslöser der Unruhen die sich rasch über die modernen, digitalen Medien verbreitende Nachricht über die Selbstverbrennung des Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi am 17. Dezember 2010 in Sidi Bouzid, die in kürzester Zeit die Menschen auf die Straßen brachte und dessen Folge war, dass das tunesische Staatsoberhaupt Zine el-Abidine Ben Ali das Land am 14. Januar 2011 verlassen musste. Befreiung wie eine praktische Vernunft im Allgemeinen brauchen Zeit, Zeit, um zu kommunizieren, sich auszutauschen über Vorstellungen und Ideen, um sich abzusprechen, zu verabreden, Erfahrungen auszutauschen und, wie in den meisten Fällen, die Gründe für negative Erfahrungen zu finden und negative Erfahrung so schnell wie möglich zu umgehen. Wie im Falle unseres Jungen im Beispiel ist dieser Umgang mit Erfahrung ein ganz zentraler Punkt in einer praktisch geleiteten Vernunft.

Erfahrung, besonders deren intuitiver Umgang im Ereignis mit seinen sozialen, kooperativen und kommunikativen Umgangsformen, die wir zusammenfassend als Interaktion bezeichnet haben, waren noch bis vor wenigen Jahrzehnten im zivil-gesellschaftlichen Umfeld kaum erfolgreich umzusetzen; sie waren extrem teuer, einseitig angewiesen auf öffentliche und privatrechtliche Kommunikation (man sprach von Kommunikations-Kanälen), unglaublich zeitaufwendig und hoch anfällig für kommunikative Falsch- und Fehlinformationen sowie einseitiger Informations- und Kommunikationslenkung. Die Kommunikationsdefizite waren so erheblich, dass eine zivile Kommunikation nie wirklich möglich war; das änderte das Internet. Nun war kommunikatives Handeln in einer Art möglich, die weit über die Träume einer dualen Kommunikation auf der Basis öffentlicher und privatrechtlicher Kanäle hinausging; jeder konnte mit allen über die nationalen Grenzen von Ort und Zeit zu fast keinen Kosten, nicht spürbaren Zeitverzögerungen ungelenkt kommunizieren.

Brauchte die praktische Vernunft bislang enorme Zeitaufwendungen, hohen Geldeinsatz und die Überwindung von erheblichen Zugangsbarrieren, so funktionierte es mit dem Internet prinzipiell und in den ersten dreißig Jahren, bevor Wirtschaft und Regierungen sich großer Teile des Internets bemächtigten, wie in den Träumen der reinen Vernunft; alles geschah auf einer Zeitebene der gleichzeitigen-Ungleichzeitigkeit (Band I. Kap. 5) in einem virtuellen Raum, der mit den satelittengestützten und weiteren extraterrestrischen Kommunikationstechnologien weit über den Erdball hinausreichte. Hinzu kam ein weitere, der wichtigste Faktor der neuen Kommunikationstechnologien, ohne den eine praktische Vernunft im Sinn einer zivilen Praxis zwar denkbar, aber in der Umsetzung sehr schwer erscheint; die Kommunikation überwand nicht nur die Raum-Zeit-Grenzen, sondern zugleich auch die Zutrittsbarrieren. Open Accessibility (siehe Band V. Kap. 1), der weltweite Zugang zu den neuen Technologien und damit zu allen Kommunikationsmöglichkeiten, zu allen erreichbaren Inhalten – Web-Inhalte, Contents, waren bis vor der Einführung von Intranets durch die Wirtschaft – für jeden voll zugänglich. Diese Zugänglichkeit war eine Revolution, weil ab da jeder mit jedem und alle gemeinsam interaktiv kommunizieren konnten und damit alle Zugangsbarrieren zu Inhalten gefallen waren; jedenfalls so überwiegend, dass auf der Ebene des Web-Contents von Open Content – in Anlehnung an Open Source – gesprochen werden konnte.

Open Content, auch bekannt als Creative Commons in dessen rechtlichen Mittelpunkt, bezeichnet Zugang zu Inhalten, deren kostenloser Nutzung, Veränderung, Bearbeitung, Zusammenstellung und Weiterverbreitung, so dies urheberrechtlich erlaubt ist; heute muss man leider feststellen, dass immer mehr Diktaturen und autokratische Regierungsformen sowohl den Open Access wie die Verbreitung von Inhalten zu verhindern wissen. Man muss heute somit feststellen, dass dies paradigmatisch gilt und wir von einer negativen Freiheit sprechen, wenn es um Meinungsfreiheit in dem Sinne geht, dass jemand seine Meinung frei äußern darf, ohne von anderen z.B. durch Zensur daran gehindert wird. Und so gilt ebenso paradigmatisch, dass wir von einer positiven Freiheit sprechen, wenn die modernen, multilateralen Kommunikationstechnologien offen erreichbar sind und zur freien Meinungsäußerung uneingeschränkt zur Verfügung stehen und zwar so, dass eine freie Meinungsäußerung nicht nur prinzipiell möglich ist, sondern dass Meinungen auch tatsächlich geäußert werden, Kommunikation und kommunikative Interaktion auch tatsächlich stattfindet; wir haben dies und die darin liegende Problematik bereits am Beispiel der Hass-Posts angesprochen, wir kommen darauf zurück.

Für die praktische Vernunft erhellt sich nicht nur aus der Betrachtung der neuen digitalen Daten-Technologien, wie wichtig es ist, dass Zugang zur Kommunikation uneingeschränkt für jeden möglich ist. Im weitesten Sinne bezeichnet man einen solchen „Zustand“, eher Prozess der Kommunikation als herrschaftsfreie Kommunikation, aber nicht wie Habermas meint, als negative Freiheit, sondern ganz im Sinne des altgriechischen ἀναρχία – anarchía „Herrschaftslosigkeit“, als eine positive Freiheit, welche sich etymologisch herleitet von ἀρχία – archía „Herrschaft“ mit verneinendem Alpha privativum, was somit einen Zustand der Abwesenheit von Herrschaft im Sinne von Herrschaftslosigkeit, keineswegs Unordnung und Chaos meint, was als Anomie bezeichnet wird. Positiv übersetzt ist also Anarchie eine Ordnung ohne Herrschaft, wie dies Pierre-Joseph Proudhon kundig übernommen und ausformuliert hat. Ohne näher auf Proudhon und andere Autoren eingehen zu wollen, halten wir in deren Geiste fest, dass Anarchie die Vorstellung einer Ordnung ohne Herrschaft in den politischen Diskurs gebracht hat, eine Vorstellung, in der eine gesellschaftliche Ordnung sich selbst organisiert und selbst regelt, idealerweise über freie Übereinkünfte aller Mitglieder im Sinne von funktionalen Entscheidungen, also keineswegs konnotierend mit Gesetzlosigkeit und Willkür- bzw. Gewaltherrschaft.

Was wir mitnehmen ist die Einbeziehung aller Menschen in die praktische Vernunft, die keine gesellschaftliche Segregation akzeptiert. Nehmen wir kurz an dieser Stelle ‚Sein und Zeit‘ in den Blick, dann sehen wir schnell, dass eine Rede von einem „Mitsein mit Anderen“ denkerisch auf die komplett abschüssige, schiefe Bahn gerät, wenn man eine Gesellschaft in soziale Segregationsfelder aufteilt. So generell richtig auch das Zitat erscheint: “Sofern Dasein überhaupt ist, hat es die Seinsart des Miteinanderseins“ , so weit entfernt von sich selbst und falsch erscheint es, wenn dann in der „Alltäglichkeit“ das „Man“ unversehens die Regie übernimmt. Alles, was zum „großen Haufen“ gehört, der nicht in der Nähe des Besorgens im Kontakt mit dem Anderen steht, „abständig“ ist, ein Neutrum, eben das „Man“, das neben einem in der „öffentlichen Umwelt“, den „öffentlichen Verkehrsmitteln“ z.B. anonym mitfährt, in der „Verwendung des Nachrichtenwesens (Zeitung), in denen alle die gleichen Nachrichten lesen, wo also „jeder andere wie der Andere ist“, erkennen wir nicht nur die Depravation des Anderen, der Menschen im Alltag einer Großstadt gegenüber dem einzelnen Spaziergänger durch die schwarzen Wälder und Holzwege der Natur. Jene, die tatsächlich an Achtung nicht gerade üppig versorg sind, erhalten in SuZ eine zweite Verachtung im „Man“, im „Jedermann“.

Immerhin sieht man in jenen noch Menschen, die anscheinend lesen und schreiben können, einer industrialisierten Form der Erwerbsarbeit nachgehen, gleichwohl ist deren Bedeutung gleich Null, eine rein statistische Bedeutung. Wenn Heidegger kurz vorher schreibt: „Das Vorfinden einer Anzahl von „Subjekten“ wird selbst nur dadurch möglich, dass die zunächst in ihrem Mitsein begegnenden Anderen lediglich noch als „Nummern“ behandelt werden. Solche Anzahl wird nur entdeckt durch ein bestimmtes Mit- und Zueinandersein. Dieses „rücksichtslose“ Mitsein „rechnet“ mit den Anderen, ohne dass es ernsthaft „auf sie zählt“ oder auch nur mit ihnen „zu tun haben“ möchte.“ So sehr man auch jeden Satz aus dem Zitat hier aus vielfachen aktuellen Erfahrungen unterschreiben möchte, so wenig Bedeutung aber hat er für Sein und Zeit und das Denken Heideggers im Ganzen. Wie wir eben an Rosa Luxemburg gezeigt haben, ist eine Satz-Hermeneutik nicht aussagekräftig, ohne Wissen um den Kontext und die Perspektive, in der eine Aussage erscheint. Das Sein und die Zeit Heideggers war geprägt von hierarchischen Ordnungsformationen, von Kaiserreich und großen Klassenkämpfen auf den Straßen der Weimarer Republik, von rest-feudalen Herrschaftsformen und industrieller Arbeit, von extremen Bildungsschichten mit sozialer und kultureller Bedeutung, den bildungsfernen, abhängigen Arbeiterklassen und den gebildeten Klassen von Entscheidern.

Die Gesellschaft war festgefügt aus einer hierarchischen Ordnung, an deren Spitze sich ein Kaiser länger wähnte, als ihm sein feudales und damit auch politisches Ende gewahr wurde. Aus einer Regierung, die ebenfalls ihren Untergang nicht sehen wollte und sehenden Auges mit dem Untergang paktierte, bis man sie nicht mehr brauchte und abservierte. Die, die man brauchte, die Industrie, machte nur allzu gerne mit beim großen Spiel um die Weltherrschaft und mit ihnen ging ein ganzes Volk zugrunde, eigentlich sogar zweimal. Von diesem Volk als „Man“ und „Jedermann“ zu sprechen, trifft es somit doppelt, wird die Philosophie zum letzten, intellektuellen Totschlagsargument in der totalen Entqualifizierung und Entpersönlichung im „Niemand“. Es fällt schwer die Zeilen zu lesen, ohne dass sich einem der Magen und der Geist zugleich umdrehen . Der Kontext und die Perspektive dieses Denkens ist ein elitäres Verständnis der Welt und des Mitseins, als solches ist es „ausgezeichnet“ im doppelten Sinne, gesellschaftlich anerkannt in den Entscheider-Eliten und in den Bildungs-Eliten sowie festgeschrieben und festgehalten in der Ideologie und Struktur einer Klassengesellschaft.