Arte factum. Seite 352ff

Nie war She vom Tao abgebogen, unvorstellbar. Und nun soll dies hier das Ende seines Weges sein, unvorstellbar. Nie war She schwach geworden, wenn sein Weg den des Westens kreuzte und nun laufen alle Wege hier zusammen, oh, welch bösartiger, unheilbringender Betrug, welch ein schnöder Trick. She schaute gar nicht hin, als Honecker und seine Frau sich ihm näherten, Honecker zischelte etwas Sächsisches, aber She verstand es nicht, alles zu undeutlich. Und seine Margot war bei She nie aufgefallen, eine reichlich boshafte, trotzdem irrelevante Person, also zogen beide weiter, wie sie dies seit Ewigkeiten taten. Nicht ziellos, immer hinter der Macht und ihren Spuren her, aber niemand wollte mit ihnen reden, niemand in die Dialektik der Herrschaft eintreten. So erlebten sie, was sie zeitlebens für unmöglich erachteten, nämlich die Asymmetrie der Dialektik, dass doch eine Seite entscheidend abhängiger ist von der andern, der überlegenen Seite der Herrschaft. Willfährige Knechte finden sich überall, zumal es genug schon unter den Mächtigen davon gibt, die sich mit der überlegenen Macht nur allzu gerne identifizieren; Herrschaft und Knechtschaft werden nie in einen gleichberechtigten Prozess zueinander eintreten, welch ein Irrtum, dachte She.
She konzentrierte seine Sinne wieder auf das beißende Gebrüll des Ungeheuers und schon konnte er es riechen, diesen widerlichen Gestank verbreitend, der wohl am Ende alles Westliche umweht, ihm war es gleichgültig und so schrie er hinaus in die Richtung, von der er das Ungeheuer sich nähern dachte: „Komm her, du übelriechendes Monster, weißt du nicht, wie sehr wir Chinesen Gestank verachten?“ Das war nicht immer so, dachte She, aber unter seiner Führung hatte man dem Gestank den Kampf angesagt. In den Zügen und den Küchen, auf Feldern und in den Städten hatte She Reinlichkeit, Hygiene verordnet. Besonders die persönliche Hygiene von Körper, Kleidung bis zu den Schuhen war ihm ein ganz persönliches Anliegen. Gerüche von Schweiß, Knoblauch und Spargel, von Gülle und Abwässer waren für ihn ein Zeichen der chinesischen Rückständigkeit, die er erfolgreich bekämpft hatte, nurmehr sah man Fortschritt und es roch überall besser, wenn nicht angenehm.
Nicht überall war es ihm gelungen, vor allem nicht auf den von Chinesen und Besuchern beiderseits beliebten Straßenmärkten, wo man bis heute noch stinkendes Chòu Dòufu in Öl frittiert mit einer süß-scharfen Soße serviert, was man im Umkreis von fünfhundert Metern noch deutlich aus allen anderen olfaktorischen Unterschieden herausriecht. Tofu ist der Münsterkäse der Chinesen, gesund, aber eben nicht nur feineren Nasen zugängig. She hatte auf diesem Feld der Macht nur Niederlagen erlebt und roch es nun hier permanent. Dieser Gestank, den die Durian, die Königin der Früchte, verströmt, die oben im Frühjahr und Sommer aus Thailand importiert wurde, sie roch er nun hier unten permanent. Wie er das hasste, eine Frucht, unförmig, groß wie ein Fußball und mit dicken Stacheln, die von außen nicht gerade eine Schönheit ist, wird innen noch schlimmer. Eine Frucht birgt im Inneren drei bis fünf dicke, gelbe, weiche Würste, die diesen unvergleichlichen Gestank weit in die Umgebung verströmen. Durian ist die Königin der Früchte, weil das gelbe, weiche Fruchtfleisch nicht nur fein und süß ist, sondern auch ganz besonders nahrhaft und beliebt bei den Chinesen ist. Einmal, als She noch nicht Präsident war, roch er die Frucht, die viele Chinesen morgens, mittags und abends, gerne auch in der U-Bahn essen. Immerhin hatte She es geschafft, dass Chinesen die Frucht zwar noch kaufen, danach aber sofort und eher diskret verzehren, jedenfalls nicht mehr so oft in U-Bahnen, Bussen und Wartehallen, das machen jetzt eher Touristen und haben schnell den ganzen Wagen, den Bus und den Raum für sich allein.
So saß She nun hier unten, umgeben von all den Gerüchen, die er oben verboten und abgeschafft hatte, von Tofu, Duran, den Gerüchen von getrocknetem Fisch und Muscheln, von fangfrischem Aal und fliegenbehangenem Schweinefleisch. Er sann darüber nach, ob denn sein Volk, wenn es denn einen Platz hier unten bei ihm hätte, diesen Platz mit ihm und den Gerüchen teilen würde; wohl eher nicht. Sein Volk hatte ihn verlassen, war ihm letztlich doch nicht bedingungslos gefolgt, war rückständig geblieben in seinen Augen. Es hatte sich seinen Führer nicht verdient; im Gegenteil. Mit den Gerüchen stiegen unmittelbar alte Gedanken und Erfahrungen wieder auf und er erinnerte sich an seinen Besuch in der Stadt Shaoxing, die er als junger Mann einst besucht hatte. Shaoxing bietet etwa fünf Millionen Menschen ein Zuhause, von denen aber weniger als die Hälfte im städtischen Siedlungsgebiet leben. Für chinesische Verhältnisse ist die malerische Kanalstadt, deren Einwohner in Europa sie zu einer Großstadt gezählt hätten, für chinesische Verhältnisse eher ein kleines Städtchen und genau so fühlt sie sich tatsächlich an, klein, pittoresk, verschlafen, altmodisch.
Als She die alte, wohl seit über zweitausendfünfhundert Jahre alte und unter verschiedenen Namen existierende Kanalstadt besuchte, war sie bereits eine berühmte Stadt für Kultur und Bildung. Viele berühmte Personen wie der Schriftsteller Lu Xun, der Politiker Zhou Enlai oder der Kalligrafie-Meister Wang Xizhi wurden hier geboren oder lebten hier. She ging die rund anderthalb Kilometer lange Straße entlang mit ihren Imbissständen, Cafés, den pittoresken Fassaden und dem unverwechselbaren Gesamtbild einer alten Kanalstadt, die nicht den Baggern des Fortschritts zum Opfer gefallen war. In Shaoxings Gassen herrschte damals kein Gedränge, kein Geschiebe, sondern eine entspannte und leise Atmosphäre, durchzogen von dem allgegenwärtigen Gestank des Chòu Dòufu. She erinnerte sich nun wieder genau an den Geruch von modrigen, umgekippten Seen, von offener Kanalisation und den engen Gassen, durch die der Tofu Gestank zog und als ein Geschmack von unausgemisteten Kuhstall im Gaumen hängen blieb. Damals beschloss She, dem Gestank den Kampf anzusagen und mit ihm auch der Legende des Stinktofu, die wohl von einem gewissen Mann namens Wang Zhihe erfunden beziehungsweise gefunden wurde. Eine Legende, die die gesamte Geschichte Chinas im Kern festhält, als Land von Armut und Rückständigkeit, was seit damals mit dem Namen Wang Zhihe eng verbunden ist, der der Legende nach bei der kaiserlichen Beamtenprüfung in Peking durchgefallen war und sich fortan als Tofu Verkäufer durchs Leben hat schlagen müssen. Diesen Konnex von Geschichte und Gestank wollte She als Präsident beseitigen, was ihm auch leidlich gelungen war. Nur lebte sein Land, lebte sein Volk nach wie vor auf Inseln der Geschichte, wo sein langer Arm anscheinend doch nicht lang genug war, um dorthin zu reichen, was ihm nun olfaktorisch ins Gesicht zurückschlug. Da war er wieder, der Gestank der Geschichte, dieses gammelige Tofu Zeug und der üble, erniedrigende Geruch der Rückständigkeit, die ihn ausgerechnet hier wieder erreichten. Der Gestank von Tofu trug die Handschrift seines Volkes und war diese fragwürdige Spezialität, die die Erfolgsgeschichte seiner Macht zersetzte, das war ihm nun klar geworden, auch für ihn gab es also kein Entrinnen.