Ohne Angst – Ohne Sorge

Die Daseinsphilosophie ging stets von dem aus, was das Dasein nicht ist. Es ist nicht autark, nicht suffizient, nicht vollkommen, nicht abschließend intelligibel, nicht autonom in seinen Entscheidungen und Handlungen, nicht frei in seinem Willen, nicht Herr über sein Bewusstsein, nicht selbstbewusst in seinem Begehren und sexuellen Handlungen, die Liste wäre beliebig verlängerbar. Seit Platon wissen wir, wir werden unsere wichtigsten Ideen nie wirklich erreichen im Sinne der Vollkommenheit, wir können nur danach streben, sie zu erreichen. Dieses Streben verkörpere am meisten die Kunst und die Philosophie und seit Aristoteles kommt die Wissenschaft hinzu.

Seit Aristoteles denken wir in Ordnungen und Unterschieden, die sich auf jeweils eine Ordnung beziehen, etwa der Ordnung der Lebewesen; heute sprechen wir von Systematiken richtigerweise, da konsequent der systemische Charakter von Ordnungen damit hervorgehoben ist. Die Biosystematik gibt es seit Kurzem auch in zweifacher Form, einmal die klassische Systematik, die sich hauptsächlich mit der Erstellung einer systematischen Einteilung (Einteilung eines Systems wird auch Taxonomie genannt) sowie der Benennung (Nomenklatur) und der Identifizierung (Bestimmung) der Lebewesen beschäftigt. Das moderne System der Lebewesen, die natürliche Systematik, (Stuessy 1990) richtet sich nach der Rekonstruktion der Stammesgeschichte der Lebewesen (Phylogenie) sowie der Erforschung der Prozesse, die zu der Vielfalt an Organismen führen (Evolutionsbiologie).

Vergleichen wir die Taxonomie des Aristoteles mit der natürlichen Biosystematik, dann sprechen wir nicht von graduellen oder semantischen Unterschieden, sondern von einem völlig neuen System und von einem völlig neuen Blick auf die Phänomene der Biologie. Einteilung, Nomenklatur und Bestimmungen sind deshalb so andersartig und neu, weil eine mehrere Hundert Jahre andauernde Forschung ganz andere Zusammenhänge zwischen den biologischen Klassen und den Arten untereinander beobachtet hat; ein Name steht hier paradigmatisch, der von Charles Darwin. Wir haben am Beispiel von Darwin (Band I. Kap. 1-4) bereits auf die prinzipielle Tragweite seiner Forschung hingewiesen, die nicht zuletzt und bis heute einige Wissenschaften in anhaltenden Aufruhr hält und in den religiösen Lehren wie auch in politischen Systemen wie dem der USA einigen Widerspruch nach wie vor hervorruft.

Wir stellen fest, neue wissenschaftliche Erkenntnisse, so sie systemischer Natur sind, werden nicht wie selbstverständlich von allen Wissenschaften übernommen, ändern nicht sofort bestehende Ideologien, religiöse nicht, aber auch schwer nur kulturelle und politische Ideologien. Sie bleiben oft über Jahrhunderte Bestandteile selbst in sogenannten aufgeklärten Denkentwürfen und sind also für alle weiteren Diskurse von Bedeutung. Die wichtigste Bedeutung dabei liegt darin, dass epistemologischer Fortschritt, also die Entwicklung des Denkens insgesamt, weder linear noch homogen fortschreitet, was man an den zahlreichen Einschlüssen unterschiedlicher Denkmodelle und überholter Erkenntnisse erkennen kann. Die Einschlüsse, gleichsam abgestorbene Wissensrelikte wie Biomasse in einem Bernstein in unserem Denken geben aber nicht nur den Blick auf Irrtümer und unwissenschaftliche Denkmodelle frei, sondern auch auf liebgewonnene Traditionen, von denen viele Menschen nicht lassen wollen, gleichwohl sie keinen materiellen Nutzen mehr haben; oft sogar das Gegenteil davon. Welchen Nutzen haben wir oder bestimmte Menschen, bestimmte Gruppen davon, an solchen Einschlüssen wissenschaftlich abgelaufener Traditionen festzuhalten? Der Frage wollen wir nachgehen.

Wir haben dieses Kapitel mit einer Liste an Alpha Privativa begonnen. An oberster Stelle, gleichsam leitend und differenzierend steht Platons Idee, aus der heraus ein ewiger Drang nach Wissen entspringt. Denken will nicht stehenbleiben, nicht per se; eher im Gegenteil. Denken will wissen, das ist vielleicht die stärkste Antriebskraft im Dasein des Menschen. Und dieser Antrieb ist wie auch sonst kein Antrieb aus einem A-Privativum, ob aus einem Mangel, einer Angst oder einer Sorge entsprungen. Mangel und Angst, die beiden essenziellen ontologischen Grundbegriffe und ontischen Grundbefindlichkeiten bzw. Gestimmtheiten des Daseins selbst, sind semantische Derivate, aber keine wirklichen existenzialen Phänomene. Wir haben das menschliche Dasein grundsätzlich schon immer bestimmt als einen Prozess, der sich im sozialen Umfeld, also intersubjektiv und interaktiv vollzieht. Nun fügen wir dem einen weiteren Antrieb hinzu, der sich der Intersubjektivität und Interaktion des Menschen nahtlos einreiht, die Neugier. Wir denken nicht aus Mangel an Wissen, aus Mangel an Erkenntnis, aus Mangel an Vollkommenheit im Denken, sondern schlicht aus Neugier. Sie besteht von Beginn des Daseins an und bleibt uns allen erhalten bis zum Schluss, ist also universell.