TĂĽrmer – Seite 215ff

Immer, wenn Türmer beim Schreiben auf Albertine traf, meldete sie sich mittlerweile, trat in sein Turmzimmer, bekleidet mit einem Morgenmantel aus feinster, chinesischer Seide: „Ich will dich nicht stören bei deiner Kunst“, aber kaum hatte sie die Worte gesprochen, hatte Türmer nur noch den Blick auf ihre Erscheinung. Wie schön sie war und wie sie dastand, beschämt ob ihres Auftretens, für dessen Wirkung sie nicht allein verantwortlich war. Aber ihre Scham war echt und so ihre Worte: „Ich werde dich nicht verlassen, werde immer da sein, wenn du mich brauchst. Denn ohne meine Hilfe wir dir dein Roman nicht gelingen, oder?“ Die Frage am Ende des Satzes war rein rhetorisch und trotzdem war sie von einer umwerfend überzeugenden Wahrheit.

Türmer war sich bewusst, dass er den Roman ohne Albertine nicht schreiben konnte, zugleich aber spülte ihre Anwesenheit alles an Leiden und Kummer wieder an die Oberfläche seines Bewusstseins, was er vorher glaubte, einigermaßen gezähmt und eingehegt zu haben. „Ich verlasse dich nicht mehr“, war jene Zusage, die ihm den Roman ermöglichte, sein Leben aber wieder den Stürmen seiner Liebe und Ängste aussetzte. Ihre Anwesenheit war wie eine leichte, verführerische Erinnerung, die jenes quälende Gift der Angst, verlassen zu werden, mit sich brachte. So wie sie nun ihm in seinen Erinnerungen erschien, als er beschlossen hatte, ihr in seinem Roman unbegrenzt zu begegnen, war das quälende Gift wie das heilsame Gegengift zugleich in ihr präsent und um des Schreibens willen, musste er von beidem trinken, so viel wie möglich wieder zulassen, was sich in seinen Erinnerungen abspielte.

Türmer wandte sich heute der Phase seines Lebens zu, als er ein Hochstapler wurde und er war froh und enttäuscht zugleich, am Morgen Albertine nicht in ihrem seidenen Morgenkleid begrüßen zu müssen; diskret blieb sie fern von jenem Kapitel seines Lebens, wie wohl sie gerne etwas mehr darüber erfahren hätte. Türmer beschäftigte die Frage, ob er, ob ein Hochstapler nun die Menschen eher verachtet oder ob in seinem Verhalten nicht auch etwas von einer tiefen Menschenliebe enthalten sein könnte. Seine erste, spontane Antwort fiel so aus, wie wohl jeder erwartet hätte, Hochstapler können ihrem Wesen nach keine Menschenfreunde sein. Aber hat er da nicht den Betrüger mit dem Menschen in einen Topf geworfen, dem es im Kern ausschließlich um die Anerkennung seiner Mitmenschen geht und für den die Hochstapelei nur ein Mittel ist, um diesen Zweck seines Verhaltens schnellstmöglich zu erreichen?

Er schrieb es, verpackt in eine Geschichte eines Protagonisten, und reflektierte dabei den zeitlichen Faktor, der maßgeblich war für seine Entwicklung zum Hochstapler. Türmer wurde zum Hochstapler in einer zeitlichen Phase der Geschichte, in der nur der etwas in der Gesellschaft galt und Anerkennung verdiente, wer in einem wirtschaftlichen Sinne erfolgreich war und dies belegen konnte. Die Belege waren Beruf und Vermögen, also Geld, das jemand verdient hatte, zudem kamen noch materielle Besitztümer wie immaterielle, die aber allesamt sekundärer Art waren. Es war die Zeit des Wirtschaftswunders und des steil aufsteigenden Bürgertums, welches sich diesen Werten, diesen rein materiellen Werten verpflichtet hatte und ihnen fast bedingungslos folgte.

In der Phase seines Lebens, in der auch für ihn allein der materielle Erfolg zählte, kamen also seine Zeit und die Zeit der gesellschaftlichen Entwicklung zu einer Überschneidung. Was hier zählte, zählte jetzt auch dort. Der Wert einer Person wurde an ihrem ökonomischen Erfolg gemessen, hierarchisch quer durch alle gesellschaftlichen Gruppen, vom Intellektuellen mit der Hochschulprofessur an der Spitze, bis zum Handwerker und Facharbeiter. Auch horizontal galt die gleiche Skala der Erfolgsmessung, denn angesehener war mehr der, der im Vergleich zu denen in seiner Berufs- und Standesgruppe mehr erreicht hatte. Und das Erreichte musste messbar und sichtbar sein.

Türmer begriff, indem er beim Schreiben die damaligen Verhältnisse zwischen sich, seinen und den Werten der Gesellschaft verglich, dass nicht nur in ihm, sondern in allen Bürgern dieselbe Kraft wirkte, jene dynamische Kraft, beziehungsweise die individuelle Bereitschaft zur Leistung und die Fähigkeit zum wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg. So war er, der doch in den früheren Lebensphasen vollständig gegenläufig zum gesellschaftlichen Trend gelebt hatte, ein wahrer Repräsentant des allgemeinen Laufs der Dinge geworden.

Und wer Erfolg haben wollte, musste die Fähigkeit und den Willen dazu belegen. Das war einerseits seine Karriere als Akademiker, aber mehr noch, als er die Alma Mater verlassen hatte, zählten nachweisliche Erfolge auf einer Vergleichsskala, die das bislang Erreichte übergewichtete.
Niemand hatte zu dieser Zeit großes Interesse an Menschen, die weniger Erfolg hatten oder gar im Mittelmaß steckengeblieben waren. Die galt nicht in einem horizontalen Maßstab, sondern das Maß ging zu jener Zeit durch die gesamte bürgerliche Gesellschaft. Jeder wollte einen Porsche 911er fahren, ein freistehendes Haus mit Garten und Pool, artige, lernbegeisterte Kinder und eine hübsche Frau, die im roten Samtkleid die Gäste zu unterhalten vermochte, ja ein wenig begehrenswert erschien.
So lächelten die Dame des Hauses etwas kokett, ein wenig frivol, ein bisschen erotisch anziehend und gebildet den Hausgästen, den Berufskollegen ihres Gatten zu, gewiss und mit angedeutetem Stolz, ob ihrer gepflegten Schönheit und ihrer sozialen Errungenschaften, die für alle sichtbar im erfolgreichen Gatten, in Villa mit Garten und den süßen kleinen Mädchen mit Zöpfen und Couture Bekleidung im frühen Alter imponierten.