Platons Begriff der Wahrheit: Aletheia
Platons Lehre von der Wahrheit ist von Heidegger ausfĂŒhrlich gewĂŒrdigt worden. Heidegger macht in seiner ErlĂ€uterung des platonischen Höhlen-Gleichnisses auf die mannigfache Verwendung des Begriffes Aletheia in mehreren Steigerungsformen aufmerksam (alethes = Positiv, alethestera bzw. alethesteron = Komparativ, alethestata = Superlativ).
In jeder Stufe des Höhlengleichnisses herrscht eine andere Weise der Aletheia (Unverborgenheit), und diese ĂbergĂ€nge in eine jeweils andere Stufe markiert Platon mit den verschiedenen Steigerungsformen: zuerst erblickt der Mensch die Schatten, von denen er meint, sie seien das Unverborgene (alethes); der Befreite wendet dann seinen Blick auf die Sachen selbst, auf das Unverborgenere (alethestera), und erlangt darauf die nĂ€chste Stufe auĂerhalb der Höhle, wo das Unverborgene noch unverborgener (alethesteron) ist, bis hin zum Unverborgensten (alethestata) im Bereich der Ideen. Wir werden dieser Denkfigur spĂ€ter wieder begegnen im Begriff der Aufhebung bei Hegel, einem Begriff, der einen dialektischen Denkprozess vorstellt, bei dem man zu einem immer „höheren“ Grad der Erkenntnis gelangt und an den ein so erbitterter Gegner des Deutschen Idealismus wie Karl Marx explizite festgehalten hat.
Das griechische Wort Aletheia wird normalerweise mit Wahrheit ĂŒbersetzt; Heidegger vermeidet aber diese Ăbersetzung und verwendet statt dessen den Terminus Unverborgenheit, um das VerstĂ€ndnis vom Wesen der Wahrheit bei den Griechen genauer zu bestimmen. Und zwar indem er vor allem auf das a-privativum der a-letheia verweist, den Hervorgang aus der Verborgenheit in die Unverborgenheit.
âDas Unverborgene muĂ einer Verborgenheit entrissen, dieser in gewissem Sinne geraubt werden. Weil fĂŒr die Griechen anfĂ€nglich die Verborgenheit als ein Sichverbergen das Wesen des Seins durchwaltet und somit auch das Seiende in seiner Anwesenheit und ZugĂ€nglichkeit (»Wahrheit«) bestimmt, deshalb ist das Wort der Griechen fĂŒr das, was die Römer »veritas« und wir »Wahrheit« nennen, durch das a-privativum (a-letheia) ausgezeichnet. Wahrheit bedeutet anfĂ€nglich das einer Verborgenheit Abgerungene. Wahrheit ist also Entringung jeweils in der Weise der Entbergung. (*GA 9, 223)
Heidegger entdeckt bei Platon, wie der ursprĂŒngliche Vorgang der Aletheia selbst nun wiederum gegegen eine Bestimmung von Wahrheit als Dialektik von Sein und Schein immer mehr zurĂŒcktritt.
âDas Wesen der Idee liegt in der Schein- und Sichtbarkeit.â (*GA 9, 225) und weiter: „Das, was jede Idee zu einer Idee tauglich macht, platonisch ausgedrĂŒckt, die Idee aller Ideen, besteht deshalb darin, das Erscheinen alles Anwesenden in all seiner Sichtsamkeit zu ermöglichen.“ (*GA 9, 228)
Warheit bei Platon ist eng verbunden, identisch, mit Dauer. Was heute wahr ist, kann morgen nicht falsch sein. Sie liegt auch nicht in unserer Welt, der sinnlich zugĂ€nglichen Welt, und ist somit gegenstandslos, also geistig. Also transzendieren die Ideen Raum und Zeit. Aber wie kommen wir dorthin an den UnOrt der Ideen? NatĂŒrlich nur durch denken. Hier trennen sich dann die Wege von Platon und Heidegger. Aber bleiben wir noch einen Augenblick bei dem geistigen Urvater abendlĂ€ndischen philosophischen Denkens.
Platons Begriff des Seins: Ousia
Neben dem Begriff der Aletheia steht im platonischen Denken der Begriff der OusiaOusia zentral. Man kann allein schon in einer groben etymologischen Betrachtung dieses Begriffes einge der Wegmarken unseres Denken klarer sehen. Im Altgriechischen ist âousiaâ ein Substantiv, das vom Partizip „seiend“ abgeleitet ist. Die dem Altgriechischen am nĂ€hesten kommende Bedeutung von Ousia wĂ€re demnach: Seiendheit, was aber kaum jemand heute sagen wĂŒrde.
„Schon der seit dem Beginn der Metaphysik bei Platon gelĂ€ufige Name fĂŒr das Sein: ousia (ÎżáœÏία), verrĂ€t uns, wie das Sein gedacht, d.h. in welcher Weise es gegen das Seiende unterschieden wird. […] ousia heiĂt Seiendheit und bedeutet so das Allgemeine zum Seienden“ (*Martin Heidegger: Nietzsche, Bd. II, 5. Aufl. 1989, S. 211).
In der Philosophiegeschichte finden wir aber auch andere Ăbersetzungen von Ousia, etwa „Substanz“ und die schöpft ihre Bedeutung aus dem lateinischen Verb „substare“, was so viel heisst wie: darunter sein, dabei sein, darin vorhanden sein. Seine altgriechische Bedeutung hat „Substanz“ im Begriff „Hypokeimenon“ , dem Zugrundeliegenden und diese Definition des Begriffs „Substanz“ hat sich durch die philosophisch bedeutende, viel gelesene Kategorienschrift des Aristoteles fest etabliert.
Cicero, Quintilian, Thomas von Aquin und andere Philosophen der sog. Scholastik ĂŒbersetzen die „Ousia“ ins Lateinische unter Bezugnahme auf die Wortbedeutung Seiendheit mit „essentia“. Das zu diesem Substantiv gehörende lateinische Verb „esse“ bedeutet: sein, vorhanden sein, existieren, da sein, am Leben sein. Auf die Scholastik gehen wir an dieser Stelle nicht nĂ€her ein, aber die im Altgriechischen maĂgebliche Konnotation von Ousia mit Vermögen und Besitzstand ist im Begriff der Essentia völlig verloren gegangen.
„Ousia ist dort aber ein Wort der lebendigen Sprache und meint so etwas wie einen Besitzstand, also alles das, was zu einem Hof gehört, Haus und Scheune, KĂŒhe und GerĂ€te und die arbeitenden Menschen, die zur Familie gehören. Das alles ist Ousia, und nur wenn man das lebendig vollzieht – und fĂŒr den Griechen war das selbstverstĂ€ndlich – kann man begreifen, was Ousia als ein philosophischer Ausdruck fĂŒr die Frage des Seins ist: etwas, was so selbstverstĂ€ndlich und zuverlĂ€ssig da ist, wie der eigene Besitzstand da isttâ (*Hans-Georg Gadamer: Die Gegenwartsbedeutung der Griechischen Philosophie, in: Hermeneutische EntwĂŒrfe)
Ousia so verstanden, stellt uns die Seiendheit, also das Allgemeine zum Seienden als intelligible und gleichzeit als erfahrbare, empirische Gesamtheit, Vermögen und Besitzstand des Logos vor, was sich auch mit der lateinischen essentia gut vertrÀgt. Der Lesart, dass arbeitende Menschen, auch die, die zur Familie gehören, zum Vermögen oder Besitzstand, und so zum Begriff der Ousia gehören, wollen wir nur bedingt folgen.
Wir focussieren im platonischen Denken mehr auf die folgende Bestimmung: Die Gesamtheit der Ideen erschlieĂt sich allein aus der Gesamtheit der Relationen der Ideen untereinander. Auch wenn Platon dieser Denkfigur nicht konsequent weiter gefolgt ist, bleibt er fĂŒr uns an dieser Stelle ein Ă€uĂerst moderner Denker und dieser Aspekt der Ideenlehre die geistige Grundlegung unserer modernen Kybernetik – wir kommen darauf zurĂŒck.
Werner Heisenberg wies 1958 in seinem Aufsatz ĂŒber die Quantentheorie und die AnfĂ€nge der Atomlehre darauf hin, dass die Elementarteilchen im Timaios „letzten Endes nicht Stoff, sondern mathematische Form seien. DiesbezĂŒglich sieht Heisenberg Ăhnlichkeiten und Ăbereinstimmungen zwischen Platon, Pythagoras und der Quantentheorie.
1978 las die deutsche Altphilologin Karin Alt Platons Philosophie und besonders dessen Konzeption des Materiellen auf der Grundlage einer, von ihr so genannten Ă€lteren und einer neueren Perspektive. Im Rahmen der Ă€lteren Perspektive, die von der Denkweise des 19. Jahrhunderts geprĂ€gtist, wirke Platons Konzeption des Materiellen abwegig und naiv, von den Voraussetzungen der neueren Physik her sei sie hingegen zugĂ€nglich und faszinierend. Seine Vorstellung des Körperlich-RĂ€umlichen sei von der Struktur bestimmt und könne insofern „in aufregendem MaĂe modern genannt werden“. Allerdings wirke in seiner DurchfĂŒhrung und Anwendung der Konzeption einiges unklar, widersprĂŒchlich und absonderlich. (*Karin Alt: Die Ăberredung der Ananke zur ErklĂ€rung der sichtbaren Welt in Platons Timaios. In: Hermes 106, 1978, S. 426â466, hier: 460, 463.)
Hans GĂŒnter Zekl bezeichnete 1992 die Materie- und Raumtheorie des Timaios als produktive Transformation der Theoreme der damals modernen Atomistik. Der Vortrag des Timaios biete eine groĂe Synthese aller bisherigen Naturforschung, die den aufgenommenen Stoff auf ein höheres Reflexionsniveau hebe. (*Hans GĂŒnter Zekl (Hrsg.): Platon: Timaios, Hamburg 1992, S. LXX.)
Carl Friedrich von WeizsĂ€cker hielt 1970 einen Vortrag ĂŒber die Geschichte der platonischen Naturwissenschaft. In seiner Art umsichtig und ĂŒber den eigenen Tellerand hinausschauen stellte er fest: die moderne Physik gehe gleichsam rekapitulierend die verschiedenen, bei Platon entworfenen Gedanken durch, allerdings mit einer anderen Auffassung von der Zeit – wir werden uns mit dem Begriff Zeit an anderer Stelle eingehen beschĂ€ftigen.
Im Timaios habe Platon ein Derivationssystem entworfen, mit dem er das, was das Wesen eines Elements ausmache, ĂŒber die Dreiecke und ĂŒber die Linie auf die Zahl zurĂŒckfĂŒhre, was ĂŒbrigens einige andere Autoren ebenfalls ausdrĂŒcklich gewĂŒrdigt haben. Von WiezsĂ€cker sieht darin nichts weniger als einen Versuch einer Grundlegung einer deduktiven Naturwissenschaft.
Dahinter stehe der Gedanke der Einheit der Natur, wie in der modernen Physik, deren Entwicklung auf die Entdeckung einer Einheit als Grundprinzip zusteuere. Eine Vollendung der Physik, „so wie sie heute als möglich am Horizont zu stehen scheint“, verlangt nach von WeizsĂ€ckers EinschĂ€tzung eine philosophische Reflexion, die der platonischen „als Partner gegenĂŒberstehen wĂŒrde“. (*Carl Friedrich von WeizsĂ€cker: Platonische Naturwissenschaft im Laufe der Geschichte. In: Carl Friedrich von WeizsĂ€cker: Der Garten des Menschlichen, 2. Auflage, MĂŒnchen 1977, S. 319â345, hier: 339, 343â345 (Erstveröffentlichung als Vortragstext 1971).
So sehr die wohlgemeinten Verweise der Vertreter der modernen Naturwissenschaften auf die platonische Philososphie hin auch schmeicheln mögen, was ja eher selten vorkam und vorkommt, und richtig sind, hat ihr Denken ja auch seinen Ursprung in der Geschichte, so bleibt die Frage, was damit gewonnen wurde, wenn die Natur als systemische Einheit und konsistente Ordnung gedacht wurde.
Schaut man zurĂŒck in die Geschichte der griechischen Mythologie, etwa in die Zeit der Minoer, dann erkennt man unschwer, dass darin kein Ordnungsprizip der Vernunft herrscht, also keine Idee einer auf dem Logos basierenden Ordnung, auch nicht in der Natur. Gerade die Ursprungsmythen sind voll von Blitz und Donner, von Lust- und Gewaltexzessen, Ereignissen aller Art unter den göttlichen Familienmitgliedern, von Vermischungen mit Götterwelten der Ă€gyptischen, der hetitischen und anderen Kulturen. Die Geburt der Natur als einer Einheit sowie der Wissenschaften der Natur war noch nicht gelungen.
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Aletheia – a-privativum – Ousia – Timaios
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