Grenzen überwinden – Sehnsuchtsorte der Freiheit

Trotzdem ist mit der Digitalisierung der Arbeit auch neben deren Globalisierung die Entgrenzung der Arbeit ins Privatleben verbunden; nun nach den Erfahrungen aus der Corona-Krise umso mehr. Es droht ein Konflikt, der nicht allein auf der Basis von Kosten und Vergütungen stattfindet, wenn Unternehmen ihren Angestellten zukünftig keinen eigenen Platz mehr im Büro zur Verfügung stellen. Ob nun Homeoffice, mobiles Arbeiten oder Flex Office; Unternehmen in Deutschland können sich nicht einfach aus der Tarifpartnerschaft und der vertraglich vereinbarten Arbeitsweisen ihrer Mitarbeiter, worunter auch eine Trennung von Arbeits- und Freizeit fällt, aus der Affäre ziehen, sie müssen bislang mit ihren Angestellten oder den berufenen Betriebsräten eine Vereinbarung über die neuen Formen digitaler Arbeit treffen. Wenn Unternehmen ihre Angestellten von zu Hause arbeiten lassen möchten, sind sie zur Übernahme der Kosten für einen voll ausgestatteten Arbeitsplatz verpflichtet. Anders gestaltet sich das bei den Begriffen „mobiles Arbeiten“, „mobile Office“, „flexibles Arbeiten“ oder „Flex Office“. Hierbei ist kein fester Arbeitsplatz vorgesehen. Die Mitarbeitenden können hierbei frei entscheiden, von wo sie arbeiten, etwa in der Bahn, im Hotel oder einem Café. Einen Arbeitsplatz muss der Arbeitgeber in diesen Fällen nicht einrichten. Aber sind dann schon die unternehmerische Freiheit und die Freiheit der Erwerbstätigkeit gesichert, sind sie in einem fairen Ausgleich vereinbart? Und was ist, wenn in anderen Ländern hochwahrscheinlich ein solcher Ausgleich nicht stattfindet, wenn dadurch deren Kosten deutlich sinken und somit deren Wettbewerbsfähigkeit bei den Lohnstückkosten? Wir erleben gerade, wie der Brexit und damit GB bzw. England sich gerade aus diesem Teil des regulierten Europas auf dem Arbeitsmarkt verabschieden möchte und alles unternimmt, damit die europäischen Arbeitsmarktstandards demnächst für GB nicht mehr gelten und so ein europäischer Wettbewerber auf einer europäischen Insel vor dem europäischen Kontinent entsteht.

War vor noch nicht allzu langer Zeit der Begriff der offenen Gesellschaft positiv konnotiert mit Entgrenzung, mit dem körperlich-physischem Überschreiten von Grenzen, etwa im Leistungssport, beim hochalpinen Klettern und Bergsteigen wie in andern Arten von Hochleistungssport zu Lande, zu Wasser und in der Luft. Auch die Transzendierung der Grenzen des Bewusstseins, die Überwindung statischer physikalischer Grenzen, einfach jede Form der Entgrenzung war willkommen, selbst in der Arbeitswelt, die lange Jahrhunderte als ein Gegenpol zur Kunst und zur kulturellen Grenzüberschreitung galt, wurde Entgrenzung zum Prinzip von Wachstum und Innovation. Heute fallen jene Formen von Entgrenzung, die mit Arbeit, Kapital, Kultur, Kommunikation und Information etc. zu tun haben, schnell ins Gegenteil. Indem der Mensch sich mehr für die Zukunft fit macht, leidet er unter den Entgrenzungen, die die Zukunft heute von ihm verlangt; der Mensch befindet sich in einem „Social Dilemma“[2]. Das soziale Dilemma resultiert nicht nur aus den Folgen des Einflusses sozialer Medien auf die Gesellschaft, wobei Themen wie Meinungsmanipulation und Fake News eine bedeutende Rolle spielen, sondern hat auch eine konkrete, für viele Menschen fatale Seite, einen Einfluss auf die Psyche des Individuums durch soziale Medien. Wieso zählen wir heute mehr depressive junge Menschen als jemals zuvor? Wie manipulieren die Sozialen Medien und ihre Teilnehmer unsere Wahrnehmung und welche Auswirkungen haben sie auf das soziale Verhalten?

Das alles sind keine Fragen mehr, die eine Randgruppe adressieren, was man auch daran erkennen mag, dass eine steigende Zahl an Forschern sich mit dem möglichen Zusammenhang von Sozialen Medien und psychischen Veränderungen beschäftigen; für viele von ihnen steht ein Zusammenhang gar außer Frage. Sie erkennen ihn bereits an der Relation zwischen der steigenden Zahl psychischer Erkrankungen und der Nutzung Sozialer Medien. Neurologen, immer auf der Suche nach der Evidenz im Gehirn, erkennen dort mal wieder messbare Veränderungen, die auf die Mediennutzung zurückzuführen sind, auffällige Farbänderungen in den bildgebenden Diagnoseverfahren sollen dies belegen; ich blinke, also bin ich.

Mit rund 4 Milliarden täglichen Social-Media-Nutzern betrifft das hypothetisch psychisch wirksame Phänomen rechnerisch bereits nahezu jeden zweiten Menschen auf der Erde, und dies mit steigender Tendenz; sind die Sozialen Medien so etwas wie riesige Psycho-Automaten, Umerziehungsmaschinen oder negative Bildungseinrichtungen? Ziehen wir nun noch ins Kalkül, dass es starke Unterschiede in der globalen Netzverfügbarkeit gibt, dürfen wir davon ausgehen, dass in Industrieländern deutlich mehr Menschen gefährdet sind als es der rechnerische Schnitt nahelegen würde. Werden somit gerade die Erfinder der Sozialen Medien zu deren ersten Opfern? Das besonders Beklemmende an Orlowskis Film entwickelt sich aus der Tatsache, dass er jene Menschen zu Wort kommen lässt, die die Sozialen Medien in wichtigen Positionen bei Facebook, Instagram, Twitter, Pinterest und anderen Anbietern überhaupt erst erschaffen haben. Die liefern überaus ernüchternde Erkenntnisse, wie etwa Ex-Googler Tristan Harris, wenn er sagt, „dass ganze Teams von Entwicklern daran arbeiten, Ihre Psychologie gegen Sie einzusetzen.“ Etwas ungeschickt formuliert, suggeriert der Film hier etwas, was eher dem Autorenteam zukommt, oder sind die Sozialen Medien wirklich diese Paranoia-Maschinen, die das Leistungsprinzip einer Gesellschaft und der Marktwirtschaft abgelöst haben hinsichtlich der Folgen überbordenden Anpassungsdrucks? Was äußerst bedenklich am Ende doch stimmt ist, dass man, um den Film sehen zu können, natürlich Netflix-Abonnent sein muss.

Dass wir der Perspektive des Films nur sehr bedingt folgen können, haben wir in den letzten Bänden unserer Philosophie hinlänglich dargelegt. Nichtsdestotrotz werden auch wir im nächsten Band nicht umhinkommen, uns auch mit den psychischen Folgen zu beschäftigen, die unser alltägliches Leben uns bereitet, Folgen, die offensichtlich nicht mehr als Fälle der Arbeits- oder der Individualpsychologie gutgeschrieben werden können, sowenig wie die Klimaveränderung eine Frage der Politik allein ist. Klimapolitik ist Politik in jeder Hinsicht und betreibt einen Umbau nationaler Formen des Wirtschaftens wie von individuellen Formen der Lebensgestaltung. So, wie die Digitalisierung in alle Fasern unseres Daseins sich einwebt, so wirkt darin Politik als Politische Ökonomie auch über Klima- und Umweltpolitik. Politik sitzt demnächst auch mit am Tisch, wenn wir in ein Restaurant gehen und dort unser Essen elektronisch bezahlen in einer neuen Währung, die vielleicht dann E-Euro heißt. Überall ist Politik, zu Ende die Jahrhunderte seit der Französischen Revolution, als der Bürger nicht nur seine Regierung wählen, sondern zugleich auch vor dieser geschützt wurde.

Politik durfte sich nie mit dem „Zehnten“ an jedem Privatvergnügen der Bürger bedienen, das war „heilig“ und dessen Tabernakel das Bargeld. Die Marktwirtschaft, auch mit der nie so ganz und konsequent geführten Tarifautonomie, war weitgehend frei von staatlichem Willen, sich dort mehr als gewährt zu bedienen oder gar mehr als durch die Schaffung gesetzlicher bzw. regulatorischer Rahmenbedingungen hineinzuregieren. Die Fabriktore blieben wie die Wohnungstüre solange für den Staat geschlossen, solange kein richterlicher Beschluss vorlag für eine Hausdurchsuchung oder einer Durchsuchung von Firmenräumen, stets war der begründete Verdacht einer Straftat Voraussetzung. Wie so vieles scheint auch hier das Schuldprinzip umgekehrt zu werden und die permanente Einsicht in die Lebensverhältnisse und Lebensweisen der Bürger wie auch die permanente Inspektion unternehmerischer Tätigkeiten zum Prinzip zu werden, aus dem heraus sich ein Verdacht schnell begründet und die Justitia nach sich zieht. Was war das früher schön, zwanzigtausend D-Mark einfach einem Freund überweisen zu können, der in finanziellen Schwierigkeiten war, heute greift sofort das Geldwäschegesetz und damit der Verdacht auf illegale Geschäfte oder Steuerhinterziehung etc. Viele werden es nicht wissen, aber glauben Sie nicht daran, dass die Transfergrenze noch bei zehntausend Euro sich befindet; ab 3.500 Euro bereits erfolgt eine Überprüfung der Überweisung durch Ihre Bank. Und machen Sie das bloß nicht zweimal hintereinander!

Unser Geld, unsere Arbeit, unsere Wirtschaft und die Unternehmen, unsere Gesundheit und unser Konsum- und Freizeitverhalten werden längst schon oben auf der staatlichen Agenda diskutiert, sind zu zentralen Themen der Politik geworden. Politik mischt sich ein, überall und jederzeit; dazu aber hat sie kein Mandat von den Bürgern bislang, im Gegenteil. Und sie mischt sich sogar in fremde Staaten ein bei Wahlen wie etwa 2016 und aktuell in die US-Präsidentschaftswahlen. Nun könnte man meinen, dass ist weit weg und kommt aus Russland, betrifft aber westliche Demokratien nicht; weit gefehlt. Und uns geht auch nicht nur um den staatlichen Einfluss auf Wahlen in anderen Ländern, sondern, da dies sozusagen die Spitze des Eisbergs ist, interessieren uns natürlich gerade alle die anderen staatlichen Einflussnahmen in fremde Politik, Wirtschaft und in die wichtigen Themen einer Gesellschaft, die man allenthalben feststellen muss. Und was ist mit den Bürgern? Was machen die dagegen bzw. für ihre eigene Autonomie und Freiheit? Natürlich musss uns der politische Wille wie auch der soziale Nihilismus der Bürger, vornehmlich in Europa und Deutschland interessieren, zumal, wenn richtig ist, dass keine andere gesellschaftliche oder politische Kraft sich für eine Veränderung der Verhältnisse, in denen wir leben, einsetzt. Richtigerweise müssten wir präzisieren: Politik setzt sich für Veränderungen ein, aber Veränderungen in ihrem Sinne, sie tut, was sie tut, was ihr nützt und wenn sie etwas für die Bürger tut, so auch dies nur, wenn es ihren politischen Zielen entgegenkommt. Den Bürgern bleiben in einer solchen politischen Situation nur die Straße und die dort stattfindenden Proteste; hat das nicht die Bewegung: Friday for Future gezeigt? War die Bewegung der Attac-Aktivisten auch eine solche Bewegung, oder lassen sich Unterschiede zur Friday-Bewegung herausfinden, die unterschiedliche Formen der bürgerlichen Proteste qualifizieren lassen in Hinblick auf demokratische Willensbildung und politisches Handeln?

Wir werden also im sechsten Band unserer Philosophie uns mit den Bürgerinnen und Bürgern als Zoon politikon, als Lebewesen und als Lebensformen in der Polis Gemeinschaft unserer modernen westlichen Demokratien beschäftigen. Die großen Transformationsbewegungen der letzten Jahrzehnte in Politik, Wirtschaft, Technik und Technologie, im Feld der Arbeit, für Wohlstand und Wohlfahrt von Bürger und Gesellschaft und schließlich der Ausblick in eine bereits weit fortgeschrittene, aber hinsichtlich der Bedeutung und des Sinns des Daseins der Menschen durch Künstliche Intelligenz noch lange nicht abgeschlossenen oder klar absehbaren Transformation des Denkens, das allem Verhalten in der Gesellschaft vorausgeht, muss uns beschäftigen.