Alles umsonst?

Mit der stetigen Erhöhung der Target-Salden steuert Europa in eine Transferunion bzw. ist schon mitten darin. Das war nie im deutschen Sinne und steht auch mit keiner Zeile in den Maastrichter Vertägen; im Gegenteil. Die Frage, die an dieser Stelle aufkommt, ist die: haben die Unterzeichner der Maastricht-Verträge, allen voran Kanzler Kohl und die deutsche Regierung dieses Problem übersehen? Konnten sie wirklich davon keine Ahnung haben, was uneingeschränkte Kotokorrentkredite bei dem ein oder anderen Schulder bewirken können?

Waren unsere Politiker zu phantasielos, sich das vorzustellen, was jeder Mensch aus den Erfahrungen seiner unmittelbaren privaten Umgebung weiss, dann käme das einem Offenbarungseid politischer Kompetenz gleich. Unterstellen wir aber genügend Erfahrung und Expertise – es gab ja auch einige warnende Stimmen – dann bleibt die Fragen offen, warum Deutschland dem zugestimmt hat? Was wäre, wenn diese Zustimmung der Preis für die Einheit Deutschlands gewesen ist? Dem widerspricht aber, dass die EURO-Krise ja nicht nur Deutschland, sondern auch Länder wie die Niederlande und Finnland betrifft.

Heute, jedenfalls, ist die Lage unübersichtlich, was den Ausweg aus der strukturellen Schuldenkrise betrifft. Es bleibt bislang ein unbeschränkter Zugang der Kreditinstitute zu den Geldern der EZB, mit denen sowohl die Importüberschüsse, also der schuldenfinanzierte Wohlstand, als auch die Kapitalflucht der privaten Vermögen der Peripherieländer, also die Sicherung des vorhandenen privaten Wohlstands finanziert werden. Hinzu kommt, dass die Austeritätspolitik1 nicht greift, gleichwohl gerade jetzt vor den Bundestagswahlen eine Meldung nach der anderen vom sagenhaften Aufschwung der Wirtschaft und der Sanierung der systemrelevanten Banken in Italien und dergleichen in Griechenland und Spanien die Runde machen.

Tatsache aber bleibt, dass bei allem zur Schau gestellten Reformeifer die wettbewerbsrelevante Kennzahl der Lohnstückkosten sowohl in Italien als auch in Frankreich in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen ist, Spanien die Defizitziele notorisch verfehlt2, Frankreich dem in keinerlei Hinsicht nachsteht und die anvisierte Inflationsrate in den meisten europäischen Ländern, ausser in der BRD, von der Zielgröße meilenweit entfernt ist, gleichwohl die lockere Geldpolitik der EZB ihrem Ende langsam entgegensieht. In der Schule käme jetzt: eine Versetzung in die nächste Klasse ist gefährdet.

Was sicher ist, ist, dass Deutschland, die Niederlande, Finnland und m.E. auch Österreich dem Zuwachs der Target-Salden nicht tatenlos zusehen wollen; aber was können sie dagegen unternehmen? Weder ein Auseinanderbrechen der EURO-Zone noch ein Schuldenschnitt, keine Transferunion, kein Staatsbankrott und auch keine Erhöhung von Abgaben und Steuern in den sog. Geberländern wird aus der Schuldenkrise herausführen. Die nette Idee von einem Europa der zwei Geschwindigkeiten ist sympathisch, zumal sie ja auch neuerdings von den Franzosen aufgewärmt wird. Aber nicht immer schmeckt Aufgewärmtes besser als frisch gekocht und wie im Topf das Charolais-Rind am nächsten Tag noch dasselbe ist, so bleiben die strukturelle Probleme der Schuldenkrise auf diesem Weg unangetastet.

So sind wir ab jetzt wie immer in solchen Situationen angewiesen auf unsere Vorstellungskraft und wissen, dass nach Stand und Lage der Dinge alle Möglichkeiten, die Target-Salden zurückzuführen, theoretischer Natur sind. Das ist nicht schlimm, es sein denn, wir bedienen uns in unserer Vorstellung Rezepten aus Omas Küche, die von den Erungenschaften des überregionalen Lebensmittelhandels wenig Erfahrung hatte. Und so kocht die Volkswirtschaft uns aktuell Gerichte, die allein schon bei der Lektüre ihrer Zusammensetzung wenig verdaulich erscheinen.

Bei wenig eigener Phantasie schauen wir gerne mal über den Teich; mals sehen, was die Amerikaner machen, sind die ja geradezu Meister im Schuldenmachen. Dort ist man zu der Lösung gekommen, dass jene Bundesstaatten mit negativen Target-Salden aus ihren Portfolios Staatsanleihen an jene Staaten mit positiven Salden übertragen. Und das jährlich. So halten die US- Staaten ein einigermaßen tragfähigen Schuldengleichgewicht und ein basales Vertrauen untereinander, was noch wichtiger ist.

Aber diese US-Modell ist nicht auf Europa übertragbar. Die EURO-Zone hat zwar eine einheitliche Währung, aber keine einheitliche auf einer zentralen Geldpolitik aufbauenden Fiskalpolitik, was ein Grund u.a. dafür ist, dass sich die Staaten in Europa in dieser Situation überhaupt befinden. Würde man das US-Modell trotzdem auf Europa übertragen, hieße das, die Bundesbank würde von der griechischen Notenbank zum Ausgleich ihrer Target-Schulden ziemlich wertlose Griechenland-Bonds erhalten und es verwundert doch einigermaßen, wie solch ein Vorschlag auftauchen konnte und von einigen Ländern der EU bis heute noch als ein gangbarer Weg diskutiert wird. Selbst wenn darauf veriesen wird, dass diese wertlosen Bonds ja in der Zukunft vielleicht einmal werthaft werden könnten, mutet er an wie ein religiöses Erlösungsversprechen, nur dass die Vorstellung vom Paradies darin verbindlich ist.

Sinn, dem das Verdienst der detaillierten Darstellung des Target-Problems zu verdanken ist, macht den Vorschlag, die Regierungen der Euro-Zone sollten staatliche Pfandbriefe ausgeben, die nach einheitlichen Kriterien mit Immobilien oder vorrangigen Ansprüchen auf künftige Steuereinnahmen des Emissionslandes besichert sind.3
Nachdem er einsehen musste, dass bei einem Auseinanderbrechen der Währungsunion die Bundesbank mit ihren Forderungen gegenüber einer griechischen Regierung steht, die auch dann weder Geld hat noch Lust verspüren dürfte, ihre Schulden zu begleichen, erweiterte er seine Idee um den Gedanken einer Verbriefung jener Staatsanleihen, um sie so handelbar zu machen.

Hätte er nur den nächsten Schritt auch noch gemacht, nämlich das ganze nun mit CDS, Credit Default Swaps, also mit verbrieften Kreditausfallsversicherungspaketen noch zu hinterlegen, dann hätten wir komplett jenen Markt auferstehen sehen, der in Form von Hypothekenkrediten die Welt bzw. einige Volkswirtschaften schon einmal vor nicht all zu langer Zeit in eine tiefreichende Krise gestürzt hat.

Und was Sinn auch übersehen hat, ist, dass, wenn ein privater Investor in diesen Staatsschuldenmarkt überhaupt einsteigt, was sollte dann anderes passieren als im Falle von Argentinien, das von einer Gruppe von Gläubigern, angeführt von dem zum Elliott-Finanzimperium des US-Milliardärs Paul Singer gehörenden New Yorker Hedgefonds NML Capital in einer Art juristisch legitimierter Erpressung und Enteignung von Gemeineigentum in die Knie bzw. zum „Kompromiss“ vor den US-Gerichten gezwungen wurde.

Es ist richtig, dass die Beschlagnahme von Schiffen und anderem Staatseigentum den Pleitstaat Argentinien sogar von einer erkleckliche Summe seiner Schulden schlussendlich ‚befreit‘ hat. Das geschah aber, nachdem die Schuldentitel schon an sich wertlos waren, also Argentienien nach seiner Staatsinsolvenz eigentlich gerade dabei war, bei Null wieder anfangen zu können. Aus dieser Null haben Singer und Konsorten, „Holdouts“ genannt, noch erheblichen Gewinn gepresst.
Anstelle einer Insolvenz, bei der die Gläubiger auf einen Teil ihrer Forderungen verzichten, ist die „Holdoutsgruppe“ den Weg gegangen, sehr preiswert fast wertlose Anleiheschulden aufzukaufen, um dann umgehend deren ursprüngliche Gesamtschuldhöhe vor US-Gerichten einzuklagen.

Argentinien weigerte sich über Jahre beharrlich, die von der ehemaligen Staatschefin Cristina Fernández de Kirchner als „Aasgeier“ und „Finanzterroristen“ bezeichneten Hedgefonds auszuzahlen und nahm sogar ein Urteil aus den USA in Kauf, das untersagte, neues Geld bei Investoren einzusammeln und andere Gläubiger zu bedienen.
So blokierte sie Argentinien vor einem neuerlichen Schritt auf die Finanzmärkte. Staatschef Mauricio Macri einigte sich nach Einsicht in die Aussichtslosigkeit bzw. dem double bined Zustand Argentiniens mit den Hedgefonds rasch auf einen Kompromiss.

Den Befreiungsschlag, durch den die gerichtliche Zahlungs-Blockade gelöst und der Weg zurück an die Märkte geebnet wurde, musste sich Argentinien aber einiges kosten lassen. Die Holdouts Hedgefonds wurden letztlich wesentlich besser gestellt als die Gläubiger, die die Umschuldungen der Jahre 2005 und 2010 akzeptierten. Sie mussten im Schnitt über 70 Prozent ihrer Forderungen abschreiben, während SSinger und Konsorten ordentliche Renditen einstrichen.

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AusteritätspolitikGriechenland-BondsHoldouts Hedgefonds


1 Austeritätspolitik meint im Kern eine restriktive Fiskal- und Sparpolitik. Der Begriff wird vor allem in ökonomischen Zusammenhängen gebraucht und ist eine Bezeichnung für eine strenge staatliche Haushaltspolitik, die einen ausgeglichenen Staatshaushalt und eine Verringerung der Staatsschulden anstrebt.
2 Statt mit 3,1 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) wird Spanien 2017 mit einem Defizit von 3,5 Prozent schließen. Das ist zwar besser als 2016, als es 4,7 Prozent waren, aber nicht gut genug. 2018 dürfte sich die Lage weiter eintrüben (2,9 Prozent statt 2,2 Prozent). Einnahmen- wie ausgabenseitig muss die rechtskonservative Minderheitsregierung unter Premier Mariano Rajoy (Partido Popular, PP) unter dem Strich elf Milliarden Euro mehr aufbringen – in derstandard.at vom 15. Februar 2017
3 Sinn, ebenda


Inflationsrate Italien von 2007-20017
Inflationsrate Italien von 2007-20017

 

Inflationsrate Spanien von 2007-20017
Inflationsrate Spanien von 2007-20017

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