Anschauen – nicht anfassen!

„Der Sachverständigenrat unterstützt die Bemühungen um ein Regelwerk, das unter Beibehaltung des freien Kapitalverkehrs die Stabilität des internationalen Finanzsystems (…) gewährleistet. Die vielfältigen Diskussionen haben klargemacht, dass eine völlig neue Finanzordnung nicht gebraucht wird und dass ein Übermaß an Regulierung mehr Nachteile als Vorteile hätte.“ 1
Nicht, dass der Sachverständigenrat ohne Zweifel gewesen wäre und spricht also an gleicher Stelle von „(…) festgestellten Funktionsmängeln (…)“ und hält abschließend fest: „Einen Königsweg zur Vermeidung von Finanzkrisen in der Zukunft gibt es allerdings nicht.“ Die Funktionsmängel aber sollen allein an „konreter Stelle“ behoben werden, also durch allokative Optimierungen und deuten keinswegs auf Inponderabilitäten im System hin. Im Zweifel überwiegt also dann doch das Vertrauen in die Stabilität der Marktprozesse.

Dies befördert zusätzlich auch noch die immer weiter in Richtung Mathematik getriebene Wissenschaft, die einmal als sog. Rationale-Erwartungs-Ökonomik und in einem Spezialfall dessen als stochastischer Ansatz zur Markteffizienzhypothese imponieren. Die erstere wurde von John F. Muth (1961) entwickelt und später von Robert E. Lucas verbreitet, die andere wurde im Jahr 2013 von Eugene Fama zusammen mit Robert J. Shiller und Lars Peter Hansen entwickelt. Selbstverständlich gab es reichlich Nobelpreise dafür für alle, wobei die Anwendungs- bzw. Validierungszeiten solcher Theoreme immer kürzer werden, bevor die Nobelpreise deren Richtigkeit vermuten und auszeichnen. Beide Ansätze haben frühere in die Geschichte der widerlegten oder nicht eingetreten Hypothesen geschickt, so das Ricardo-Barro-Äquivalenztheorem wie auch die interventionistischen Annahmen, die mit dem Namen Keyns zwar nicht ganz zurecht, aber mittlerweile diskursiv verbunden sind.

Schaut man sich die Entwicklung der Volkswirtschaften unter methodologischen Gesichtspunkten an, dann kann man feststellen, dass zunehmend eine Hauptrichtung sich dahingehend entwickelt, was man andernorts Big Data Mining nennt. Ob es sich dabei um die neoklassische Gegenposition zur Ricardianische Äquivalenz-Hypothese und dessen ordopolitischen bzw. fiskalischen Implikationen handelt, die dann weiterentwickelt von Barro zum Versuch der Begründung der konjunkturellen Wirkung des keynesianischen Deficit spending wurde, oder ob es sich wie bei der Markteffizienzhypothese im Kern um die effiziente Verwendung von Informationen handelt, in beiden Fällen haben emprische Untersuchungen einerseits nachgewiesen, dass die ordopolitschen Maßnahmen des Deficit spendings nicht immer so griffen wie vermutet und erwünscht2 und andererseit war nicht genügend empirisches Material vorhanden, um stochastische Verfahren überhaupt sinnvoll bzw. verlässlich einsetzen zu können.

Dabei müssen wir feststellen, dass, je mehr die einen sich in die Mathematik vergraben, die Politik ihr ’noli me tangere‘ alternativlos postuliert. Die Auferstehung der Politik aus einer bloßen Leitlinien-Kompetenz zu einem, mittlerweile auf allen wirtschaftsrelevanten Ebenen aktiv mitspielenden Akteur wird andererseits in einem immer müder werdenden Experten- und Empfehlungswesen konterkariert mit der schon fast flehentlichen Bitte, doch weitgehend auf jede Form der Intervention in die Märkte zu verzichten. Das Beste, was Makropolitik überhaupt zu Stand bringen könnte, wäre eben ein an Preisstabilität und Schulden- bzw. Haushaltskonsolidierung orientes Handeln. Gleichfalls übt man den großen Katau vor dem „Arbeitgeber“, ind em man im SVR festhält:
„Den Schlüssel für die Stabilität der internationalen Finanzordnung – darüber herrscht Einvernehmen – liegt bei den einzelnen Staaten selbst; sie müssen bei den Marktteilnehmern positive Erwartungen in Bezug auf Konsistenz und Verlässlichkeit ihrer Wirtschaftspolitik erzeugen.“3

Wie man weiß, stirbt in schwierigen Zeiten der Freundschaft die Hoffnung zuletzt, aber dieses zwischen Politik und Wirtschaftswissenschaften bindende Prinzip Hoffnung  scheint nun etwas ausgeleiert, also für die Politik kaum mehr brauchbar zu sein. Denn, was man der Wissenschaft von seiten der Politik noch einigermaßen verzeihen konnte, war die Schwankungsbreite der fundamentalen Wirtschafts- und Konjunktur- bzw. Arbeitsmarktdaten und -Prognosen. Dass sie aber trotz einer recht aufwendigen und hoch dekorierten, einvernehmlich auftretenden Wissenschaft kein Wort der rechtzeitigen ‚Warnung‘ vor dem Eintreten der Finanzmarktkrise haben verlautbaren lassen, außer an ihren akademisch ungeschätzten Rändern, wo ein paar Dissidenten spuken, das hat man in Politikkreisen nicht vergessen.

Das methodisch erzeugte Markt- und Stabilitätsvertrauen war also entweder methodisch fehlgeleitet oder bei aller methodischen und empirischen Präzision nicht vorhersehbar. Wie dem auch sei, entweder war man wissenschaftlich valide, aber politisch unbrauchbar, weil man es eben nicht besser wissen konnte, oder der ganze akademische Apparat war bis dato nicht in der Lage zur Formulierung brauchbarer Eintrittswahrscheinlichkeiten bei der Betrachtung künftiger Entwicklungen. Für die Politik kam dies einer Selbst-Delegitimisierung gleich, woraus sie die Legitimität nunmehr für selbst herauslas, es doch vielleicht selbst besser zu können.

Bevor man in der Politik aber auch nur kleinste Anstrengungen der Fehleranlayse unternommen hatte, setzte man sich gleich in Szene. Zwar, ohne großen wissenschaftlichen Anspruch, aber mit der Politik eigenen Begabung, die fehlende Kompetenz durch Macht zu ersetzen und politisch auf die Pauke zu hauen. Vor allem in Europa, auf dem vermeintlichen Heimplatz, wurde zur Rettung von Griechenland und kurze Zeit später der ganzen EU gebolzt wie zu Herbergers Zeiten. Die Herren Tsipras und ein gewisser Spieltheoretiker mit Namen Varufakis wurden mitten im Spiel eingewechselt und kannten so wenig die neuen Spielregeln, dass man fluchs den einen kalt und den anderen vor das Stadiontor stellte. Kaum waren die kleinen Spielverderber entfernt, grätschte aus vollem Lauf der Syrienkrieg mit seiner Flüchtlingsproblematik der neuen Finanzpolitik aus deutschem Geist der gesamten EU dazwischen.

Rettung nahte aus einer Gegend, aus der man sie kaum erwarten durfte: Mario Draghi, ein waschechter Italiener, genauer Römer, also ein Mann des Mezzogiorno wie man in Mailand sagt, vormals italienischer Bankmanager und Wirtschaftswissenschaftler, zwischen 2002 und 2005 Vizepräsident bei Goldman Sachs, der wohl weltweit systemrelevantesten ‚Schattenbank‘, von 2006 bis 2011 Präsident der Italienischen Nationalbank und Vorstandsmitglied der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich in Basel wurde mit dem 1. November 2011 Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), ausgestattet mit voraussichtlich mehr als 2,5 Billionen EURO Liquidität zur Untermauerung seiner Ankündigung: wir werden alle Mittel einsetzen, um den EURO zu retten.

Weniger durch Mathematik und methodologische Feinheiten hinterlegt, überschwemmt die EZB seit Marios zupackender Erkenntnis die europäischen Finanzmärkte, vor allem die Anleihemärkte mit so viel Geld wie es damals in den 60er und Anfang der 70er Jahre einen erging, der in Bellinzona DM in Italienische Lire umtauschte; Kleingeld übrigens erhielt man in Form von Süßigkeiten oder selbst bemalten, wirklich hübschen Zetteln, die man später, wenn man genügend zusammen hatte, im selben Tabacci gegen Espresso z.B. wieder eintauschen konnte.

[sidebar]
[title]Begriffe – Anmerkungen – Titel – Autoren[/title]

Rationale-Erwartungs-ÖkonomikMarkteffizienzhypotheseDeficit spending


1 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR);
Jahresgutachten 1999/2000: Wirtschaftspolitik unter Reformdruck, Stuttgart 1999, Ziffer 52 – in PDF – SVR 1999

2 James M. Poterba, Lawrence H. Summers: Recent Evidence on Budget Deficits and National Savings. 1987, NBER Working Paper No. 2144; Auszug aus Finite lifetimes and the effects of budget deficits on national saving. 1987, Journal of Monetary Economics, Volume 20, Issue 2, S. 369–391.
Leonardo Leiderman, Mario I. Blejer: Modeling and Testing Ricardian Equivalence: A Survey. 1988, Staff Papers (International Monetary Fund), Vol. 35, No. 1 (März, 1988), S. 1–35.

3 SVR 1999: Zif. 48.


[/sidebar]