Die Mitte ist nicht mehr Maß

Die Methoden der Ökonomik kommen zunehmend an ihre Grenzen. Entstanden im Industriezeitalter zählten sie auf die Mitte. Mit den empirisch-mathematischen Verfahren der empirischen Sozialforschung konnte man noch einigermaßen Produktion und Märkte übereinanderlegen und kriterial bestimmen. Der durhschnittliche Verbrauch war ein ebenso verlässlicher Wert wie die durchschnittlichen Kosten bei der Herstellung von Verbrauchsgütern und deren Schwankungen signifikanten Indikatoren für Wachstum, Rezession oder Stagnation.

Mit solchen Methoden lassen sich aber die zunehmend komplexen und anspruchsvollen Anforderung der Kunden an Produkte und Dienstleistungen nicht mehr fassen. Im deutschen Einzelhandel, der sich gerade am Beginn der Transformationsphase vom stationären Handel in eine Plattformökonomie befindet, kann man einfach beobachten, Disruption unter Wettbewerbsaspekten bedeutet.

Edeka und Rewe, Lidl und Aldi, die Platzhirsche im deutschen, stationären Supermarktgeschäft, stehen dem plattformgebundenen Lebensmittelhandel gegenüber. Mit tatkräftiger Unterstützung aus dem Wirtschaftsministerium – wie bei der Übernahme von Air Berlin durch die Deutsche Lufthansa – war es Edeka und Rewe gelungen, alle Wettbewerber bei der Übernahme von Kaiser’s Tengelmann aus dem Feld zu schlagen. Kleinere und mittlere Unternehmen der Branche haben gegen diese politische Ökonomie der „old economy“ keine Chance und sehen sich notgedrungen, mit Amazon zu kooperieren. Und diese Kooperationsstrategie ist durchaus sinnvoll und geht auch weit über den traditionellen Begriff der Kooperation hinaus.

Statt in eigene, mittelmäßige und semioptimale Technolgie-Pilotprojekte zu investieren, sind sie durch Kooperation mit Amazone sofort in der Lage, mit der besten sich derzeit auf dem Markt befindenden Plattformanwendung und Logistik im Handel zusammenzuarbeiten. Der Herausforderung der Kunden wie z.B. rund um die Uhr und an jedem Ort Produkte bestellen zu können und zeitnah geliefert zu bekommen sind durch plattform- und an eine bundesweit lückenlos funktionierende Logistik und Lieferkette ungebundene Lebensmittelhändler nicht zu gewärhleisten; und nicht zu annehmbaren Preisen.

Wie die Plattform Produkte, so brauchen die Produkte bzw. Händler die Plattform. Dieses Win-Win-Verhältnis ist dabei durchaus brüchig für die Zukunft. Denn wenn die Plattform einmal eigene Produkte anbietet, gibt es keine Gewähr vor monopolistischen Bestrebungen der Plattformbetreiber. Bis dahin stellen Plattformbetreiber ihre immensen Investitionen Anbietern und Händler zu extrem niedrigen  Lizenz- und Betriebskosten zur Verfügung.

Uns geht es in diesem Zusammenhang nicht um die etwaige Monopolisierung, diese ist defacto bereits begonnen, sondern um die Exploration neuer Formen des Wettbewerbs. Im Wettbewerb bedeutet Datamining zunächste einmal Disziplinierung zur Kundenorientierung. Die Anbieter wie die Kunden werden sich besser über die jeweiligen Bedürfnisse und Interessen wie über die Möglichkeiten, Bedürfnisse und Interessen zun realisieren bewusster.

Im marktwirtschaftlichen Wettbewerb wird seit jeher eine immer größer werdende Vielfalt geschaffen und mit der Angebotsvielfalt werden Auswahl und Differenzierungen größer. Der logisch letzte Schritt auf diesem Weg ist die in der Plattformökonomie mögliche Personalisierung des Angebots, was letztlich die sog. „On demand Produktion“ heißt . ODP ist somit keine Massenproduktion im Industriemaßstab, keine Skalenökonomie1. Die sog. Economies of Scale sind die Treibriemen von Unternehmenskonzentration, deren Grundlage die Massenproduktion im Industriezeitalter ist.

Massenproduktion kennt einen oder eine handvoll Anbieter, die die gesamte Wertschöpfungskette allein oder in enger Verzahnung mit abhängigen Lieferanten bedienen. Die Wertschöpfung ist um so effizienter und rentabler, als die einzelnen Teile der Kette optimal und das heißt hoch standardisiert zusammenarbeiten. Die sog. Supply Chain hat dabei sich an die jeweilige Produktionskapazitäten flexibel und schnell anzupassen. Wenn hierin auch nur ein Gleid der Kette nicht optimal funktioniert, hat das sofort negative Effekte auf alle anderen Glieder der Kette und folglich meist auch den Verlust von Skaleneffekten.

Und da, wo es nur einen oder eine handvoll Anbieter gibt, sinkt die Bereitschaft zur Innovation, dem Genteil zur Optimierung, gegen Null. Optimierungsprozesse führen nicht zum Kunden, sondern in die Bilanzen und Renditen der risikoscheuen Kapitalgeber. Während der Leistungswettbewerb alle Wettbewerber dazu zwingt, Leistungen zu erbringen, die von Kunden gewünscht werden und diese Disziplinierungsfunktion ihre Wirkung deutlicher und nachhaltiger ist als alle Appelle und Verordnungen, zielen Optimierungen auf Selbsterhalt mit quantitativer Dynamik.

Friedrich von Hayek hatte Wettberwerb wie wir ihn verstehen im Blick, als er dessen Entdeckungsfunktion hervorhob. Die Innovationsfunktion, die dem technischen Fortschritt unterliegt und somit auch Fortschrittsfunktion genannt wird, wird meist in Anlehnung an von Hayek bestimmt2. Dabei muss bedacht bleiben, dass Innovation sich sowohl auf Produktionsmöglichkeiten wie etwa Prozessinnovationen und Verfahrensfortschritte wie auch auf Prodkte beziehen kann, worauf wir aktuell uns beziehen.

Dabei geht es vor allem um eine Bestimmung und Sichtweise auf die Marktwirtschaft, die zwischen Optimierung und Innovation unterscheidet. Und zwar nicht nur in Bezug auf Produktionsmöglichkeiten und Produktinnovationen sondern generell auf die Marktwirtschaft als ein Gesamtsystem:
„Die besondere Leistungsfähigkeit einer Marktwirtschaft besteht nicht darin, bekannte Bedürfnisse mit bekannten Einsatzmengen von Ressourcen mittels bekannter Produktionstechniken optimal zu befriedigen, sondern die Wirtschaft weiterzuentwickeln.“3

Diesem Gedanken folgte auch Joseph Schumpeters Bergriff der „schöpferischen Zerstörung“4, der sogar noch etwas weiter geht als von Hayeks Entdeckungsfunktion, der aber zugleich auch schon sinngemäß im Kommunistischen Manifest (1848)5 und in Das Kapital von Marx auftaucht. Dort bezeichnet es aber keineswegs nur die schlichte Tatsache, dass eine neue ökonomische Ordnung eine alte verdrängt, so wie der Kapitalismus sich z. B. gegenüber der feudalistischen Produktionsweise durchgesetzt hat.

Bei Engels und Marx steht der Gedanke einer von Menschen, dort der Arbeiterklasse, nur revolutionär herbei zu führenden, systemischen Veränderung, also der historische Schritt der Überwindung des Kapitalismus‘ im Zentrum und keine immanente, aus dem marktwirtschaftlichen Wettbewerb selbst hervortretende Systemveränderung.

Von Hayek und Schumpeter stellen einen Prozess vor, der aus sich selbst heraus durch Innovationen eines sich weiterentwickelnden Wettbewerbs innerhalb der Marktwirtschaft sich selbst als Weiterentwicklung der Marktwirtschaft als System entfaltet und damit in Opposition steht zu revolutionären Systemvorstellungen.
Wettbewerber und Unternehmer werden zu Synomymen und konnotieren in der Bedeutung Erneuerer. Innovation ist schöpferische Zerstörung, bedeutet Zerstörung der alten Monopole und damit Entmachtung alter, auf Konkurrenzkampf ruhender Familienunternehmen- und dynastien, Trusts- und Syndikaten.

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PlattformökonomieEconomies of ScaleEntdeckungsfunktionschöpferische Zerstörung


1 Skaleneffekte nennt man Kostenersparnisse, die bei gegebener Produktionsfunktion (Produktionstechnik) infolge konstanter Fixkosten auftreten, wenn die Ausbringungsmenge wächst, da bei wachsender Betriebsgröße die durchschnittlichen totalen Kosten (DTK) bis zur sog. mindestoptimalen technischen Betriebs- bzw. Unternehmensgröße (MOS) sinken (der Anteil der fixen Kosten je produzierter Einheit wird immer kleiner). Economies of Scale sind daher eine Ursache für Unternehmenskonzentration (Gabler).
2 Vgl. von Hayek, Competition, 1949, S. 86
3 Michael Tolksdorf: Dynamischer Wettbewerb – Einführung in die Grundlagen der Deutschen und Internationalen Wettbewerbspolitik, 1994, S. 22
4 Joseph A. Schumpeter: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie. UTB, Stuttgart 2005, ISBN 3-8252-0172-4
5 Karl Marx und Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, 1848, London


Michael Tolksdorf
Friedrich August von Hayek (* 8. Mai 1899 in Wien; † 23. März 1992 in Freiburg im Breisgau)

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