Mangel vs. Sein

Wie hängt das zusammen, dass Angst zunimmt, während eine Wirtschaft ihre Bürger mit einer materiellen Vielfalt und Überproduktion versorgt, die nie reichhaltiger und größer war, also bisher?
Angst, gewiss, hat viele Gesichter. Und wir werden immer wieder auf andere Aspekte eingehen. An dieser Stelle beschäftigt uns nicht die Sorge vor Einbruch und Diebstahl, vor Migranten und Angst vor Arbeitsplatzverlust; allenfalls am Rande.
Angst wie alle anderen emotionalen Affekte entsteht nicht unmittelbar, sondern ist in einem gewissen Sinne vorbereitet. Uns geht es also hier um diese Vorbereitung, um die diskursive Formung der Angst. Jeder Werber weiß, gelingt es, ein Produkt im emotionalen Haushalt des Verbrauchers so zu verankern, das er sich den Besitz des Produktes wünscht, dann wird der Kaufreiz vor dem Regal seine Kraft unmissverständlich und scheinbar unmittelbar entfalten. Der große Streit in der Philosophie der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts ging ganz wesentlich darum, welchen Stellenwert man dem Wunsch zuschreiben mochte. Es ging also um die Seinsart des Wunsches, mithin um die des Bedürfnisses – die mit der Psychoanalyse aufgekommene Diskussion über die Triebe, resp. sexuellen und anderen körperlichen Bedürfnisse bzw. Wünsche – lassen wir hier noch aussen vor.

Uns geht es um die Angst im Zusammenhang mit Konkurrenz und Wettbewerb. Angst in diesem Zusammenhang gründet auf die Vorstellung von Mangel und diese Vorstellung ist sowohl fundamental wie konstitutiv. Konkurrenzdenken operationalisiert diesen Mangel auf vielfältige Art und Weise. Konkurrenzdenken ist Denken des Mangels. Die Vorstellung, dass nicht genug da ist für alle, nistet darin wie die Vorstellung, dass der andere möglicherweise besser, erfolgreicher ist, als man selbst.

Ein Mangel an Selbstbewusstsein und ein Mangel an Selbstvertrauen sind also evident. Der Mangel an Selbstbewusstsein betrifft zuerst die Vorstellung von einer faktischen Insuffizienz, einer Ohnmacht gegenüber einer annonymen, undurchschaubaren Realität, die über die Sicherung der materiellen Reproduktion des Menschen entscheidet.
Der Mangel an Selbstvertrauen verlängert den materiellen Mangel in die Vorstellung der eigenen Fähigkeiten zur Reproduktion. Reproduktion bestimmt sich in diesem Kontext lediglich als das, was man gemeinhin die Sicherung des Lebensunterhalts, die im einzelnen Fall sehr verschieden sein kann. So ist auch die Angst verschieden, je nach dem Niveau des jeweiligen Lebensunterhalts. Soziale Abstiegsängste können daher auch in ganz anderen Relation in Bezug zu anderen sozialen Gruppen stehen, je nach dem wie die Sicherung des eigenen, materiellen Alltags erlebt wird.

Der Mangel an Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen deutet notwendig auf eine Vorstellung von einem Selbst hin, das sich als Individuum auf dem Arbeitsmarkt begreift und erlebt. Der individuellen Angst steht das Gefühl der individuellen Schwäche zur Seite. Hier blüht der Konkurrenzkampf als Gruppenideologie. Eine offene Auseinandersetzung mit dem Wettbewerber und auch mit den eigenen Fähigkeiten findet nicht statt. Konflikte werden eben so wenig offen ausgetragen, es herrschen Seilschaften, Flurfunkt und Wegducken.

Übertragen auf Unternehmensebene zeitigt Konkurrenzdenken nicht nur Kartelle und wettbewerbsrechtswidrige Nebenabsprachen, zweifelhafte Allianzen, korporatistische Organisationen aller Coleur, Korruption, also Schmiergeld und Bestechungen aller Art, sowie verwanzten Lobbyismus, die allesamt Abkömmlinge dieser Vorstellung einer ständig auf Auseinandersetzung mit dem Konkurrenten auf dem Markt ausgerichteten und präparierten Handlungsbereitschaft sind.

Sie zeitig auch Überproduktion und ruinöse Preiskriege. Überprodution und Preisdumping sind keine Gegensätze, sondern direkte Folgen von Konkurrenzdenken, das auf der Vorstellung von Mangel beruht. Businesspläne in Großkonzernen waren oft getrieben von dieser Mangelvorstellung insofern sie immense Kapital- und Human Ressources darauf verwendeten, vermeintlich notwendige Ressourcensicherung zur langfristigen Bestandssicherung des Unternehmens zu betreiben. Besonders in der deutschen Schwerindustrie und im Energiesektor hat das System Konkurrenz die Vorstellung von der Ressourcensicherung zu schier paranoiden Dimensionen getrieben.

Das Weltbild der Energiekonzerne war nach dem Traum einer unendlichen Mangelbeherrschung von Energie durch Atomkraft derart vom neuerlichen Mangelwahn absorbiert, dass sie selbst auf die Ökonomie der erneuerbaren Energieträger überhaupt nicht gekommen sind. Jede Form von Innovation war absent. Das Weltbild entsprach dem einer vorökonomischen Zeit, als es lediglich galt, fast schon kriegerisch Ressourcen zu sichern. So wurde das System Konkurrenz zur Verfestigung eines Mangels, der Innovation und Wachstum verhinderte und sich semi-imperialistisch gerierte, wenn es um die Verteilung des Mangels ging.
Dem widerspricht keineswegs, dass die Staaten, die über die ausländischen, fossilen Energieträger verfügten, auch den Status des Eigentümers der Ressourcen inne hatten1.

Dem Mangel inhärent ist ein Denken, das glaubt, Ressourcen sind ein endlicher Kuchen, der verteilt werden muss. Nach dieser „Fixed-Pie“ Theorie ist alles auf der Welt mangelhaft weil endlich und deshalb bleibt nur, es aufzuteilen. Und meistens wird dieser Distributionszwang mit dem Gedanken einer Ethik, also einer „gerechten“ Verteilung verbunden.

Der Mangel ist also eine Sichtweise, ein Weltbild, keine Tatsache. In der Vorstellung eines Mangels gehen wir sowohl gedanklich wie sprachlich davaon aus, dass Ressourcen nur in einem begrenzten Fundus vorhanden sind und betrachten diese Vorstellung als eine universelle Tatsache. Dieses Denken, gebildet auf dem Grund eines statischen Bildes, steht im Gegensatz zu dem, was Karl Popper das Ziel jeder Unternehmerpersönlichkeit nennt, das ist, neue Felder zu entdecken, die es noch gar nicht gibt, anstatt es als vordringlichste Aufgabe anzusehen, das aufzuteilen, was schon da ist.
Nischen aufteilen und den eigenen Status absichern sind die beiden zentralen Momente der Fixed-Pie Theorie des Psychologen Detlef Fetchenhauer. Demnach erleben Menschen die Begrenztheit des „Wohlstandskuchen“, sehen diesen als bereits aufgeteilt und somit auch kein anderes Verhalten in der Zukunft, als die Absicherung ihres Wohlstands. Vorteile für Akteure des verteilten Wohlstands sind nur dann möglich, wenn ein Akteur einem anderen etwas vom Kuchen wegnimmt.

Für Fixed-Pie Vorstellungen gibt es keinen Blick hinaus über den Tedllerand, weil es nur Teller gibt. Und so wird diese Vorstellung weitergedacht, indem jedes Wachstum nunmehr keiner Gesellschaft mehr nutzt, sondern nur noch einzelnen Profiteuren, egoistischen, unfairen, halb-kriminellen, asozialen Nutznießern. In dieser Vorstellungswelt des Magels ist jedes Wachstum, jede Art von Fortschritt mit der Vorstellung einer Umverteilung konterkariert. Anstelle die eigene Situation zu verbessern, zentrieren sie sich darauf, die eigene Situation abzusichern.

Diese Einstellung und Weltsicht beharrt auch quer durch gegenläufige Entwicklungen auf sich selbst, wenn Wettbewerb und Innovation längst schon Wirklichkeit geworden sind. Sie überdauert eine Überproduktion an Nahrungsmitteln, deren täglich verkippter Teil über dem Bedarf an Nahrungsmitteln weltweit liegt. Politik, Unternehmen und moralisierende Mangel-Bürger gehen im Gleichschritt einer Umverteilungsideologie, die zugleich Abschottungs- und Ausgrenzungsideologie ist.

Umverteilungsideologie und Fremdenhass, resp. Rassismus gingen stets und gehen neuerdings wieder revanchistisch übel gelaunt gelaunt Hand in Hand. Mal als eine politische Legitimierung für ungeniert grausame Machtausübung wie z. Bsp. in der Flüchtlings- bzw. Asylpolitik derzeit. Ihre Legitimität leitet sie von da her, dass es ja hoheitliche Aufgabe sei, „gerecht“ zu teilen und dabei die eigenen Bürger, man meint Wähler, nicht zu kurz kommen zu lassen.

Das Geschäftsmodell dieser klassischen Mangel-Politik fällt, ohne mit der Wimper zu zucken, das Todesurteil europaweit über Menschen mit der Bestimmung von „Obergrenzen“ und der Einführung von Frontex. Dem unterliegt die zur Tatsache gewordene Behauptung, dass, da der Kuchen nun mal begrenzt ist und nicht für alle reichen könne, all jene „draußen“ bleiben müssen wie Hunde vor dem Supermarkt, mit denen man ja nun mal nicht teilen könne.

So geht Umverteilung in Ausgrenzung über, semantische in faktische Segregation.

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Überproduktion„Fixed-Pie“ Theorie


1 Der Ausdruck semi-imperialistisch ist unscharf. Er soll konnotieren damit, dass vor allem Großmächte ihre Einflussphären und den Zugang bzw. die Nutzung von natürlichen Ressourcen, hauptsächlich fossile Energieträger, aber auch andere nicht direkt durch imperiale Machtpolitik absicherten, sondern dies über vielfältige, machtpolitische Aktivitäten erreichten. Da ist an forderster Stelle die Militärpolitik zu nennen, z. B. Verteidigungszusagen im Angriffsfall, Lieferung militärischer Ausrüstung und Waffen etc.


Sir Karl Raimund Popper (* 28. Juli 1902 in Wien; † 17. September 1994 in London)
Detlef Fetchenhauer (*26. April 1965, Aachen)

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