Die Armutsforschung weiß, dass die von den unterschiedlichen, wissenschaftlichen Maßstäben zur Bestimmung von Armut auch die Bestimmung des Begriffs Armut abhängt. Maßstäbe der Forschungsansätze tragen also zugleich auch stets die Bedeutung des Begriffs, oder anders herum, ohne diese Maßstäbe auch kein wissenschaftlicher Begriff von Armut. Gibt es verschiedenen wissenschaftliche Forschungsansätze, werden wir auch mit verschiedenen Begriffen von Armut konfrontiert. Die Frage dabei ist, kommen wir dadurch zu einem besseren Verständnis von Armut und finden wir in den vielen wissenschaftlichen Ansätzen auch einen Hebel zur Bekämpfung von Armut?
Fassen wir die Frage etwas genauer und sprechen wir nicht von Bekämpfung, was einen Kämpfer, einen Streiter gegen Armut suggeriert, den es wahrscheinlich so nicht gibt, also sprechen wir lieber vom sozialen Fortschritt als einen Prozess, der entwickelt oder behindert werden kann, oft sogar von den sogenannten Kämpfern gegen Armut, dann treffen wir die Sache, um die es geht, besser.
Einen Begriff von Armut, der der Einkommensarmut, haben wir bereits vorgestellt. Angewandt auf den sozialen Fortschritt bezeichnet er eine Lebenslage, also eine zeitlich ausgedehnte Lebenssituation relativer Einkommensarmut, die bestimmend für die Person oder Gruppen ist, bezüglich der Teilhabe an einem sozialen Fortschritt. Folgt man diesem Ansatz wird man in das Geflecht der sozialen Teilhabe verwickelt, die im engeren Sinne nur eine der Formen von Teilhabe, zusätzlich zur politischen, kulturellen oder beruflichen Teilhabe meint und in einem erweiterten Sinne den Begriff, der alle diese Formen der Teilhabe im politischen Leben, in kulturellen Aktivitäten sowie in bezahlter und unbezahlter Arbeit umfasst, vorstellt1. Armut wird man hier schnell aus dem Blick verlieren.
Im Unterschied zur allgemeinen sozialen Teilhabe findet man nicht zufällig Ansätz zu einer besonderen Teilhabe etwa beim Beirat der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration.2 Hier kommt man in die Thematik der Integration, aber weg von Armut in ihren besonderen Erscheinungsformen bei Migranten.
Einfacher scheint da ein wissenschaftlicher Ansatz zu sein, der sich mit absoluter Armut beschäftigt. Absolute Armut meint das Fehlen eines physischen Exisztenzminimums, also einen subsistenziellen Mangel. Aber selbst bei der absoluten Armut, die sich auf die Wirtschaftssysteme bzw. das Herstellen lebensnotwendiger Mengen an Nahrung und Nährstoffen in Entwicklungsländern bezieht, ist Armut eine relative Größe, d.h. an bestimmten Umweltbedingungen geknüpft.
Fallen Ernten aus, hungern die Menschen in Entwicklungsländern. Aber so einfach ist Armut selbst dort nicht zu bestimmen. Mißwirtschaft durch Korruption und Großgrundbesitz, der Einfluss von Großkonzernen bei der Nutztierzucht, Abholzung von Regenwäldern für Sofa- und Palmölplantagen etc. wie auch der Wettbewerb ansässiger Landwirtschaften mit den hoch subventionierten Importen aus westlichen Industrieländern, die ganze Infrastrukturen bäuerlicher Existenz zerstören usw., sind mit einem solchen Ansatz nicht zu fassen. Unfassbar, wie man heute noch in einer derart vernetzten Welt mit Kategorien wie „absolute Armut“ arbeiten kann.
Die solzialökonomischen Bestimmungen von Armut greifen so weit aus, dass Schwellenländer, Sozialstaaten und Wohlfahrtsstaaten unter eine Kategorie von Armut subsumiert werden. Dann ist Armut ein Fehlen eines recht nebulösen, soziokulturellen Existenzminimums, wobei völlig ungeklärt bleibt, was denn an soziokulturellen Errungenschaften erreichbar sein muss, um nicht arm zu sein. Vage bleiben auch die Umschreibungen von Lebenslagen, die als arm gelten und deren Normen wie politischen Verhältnisse, die dann eine klare Trennlinie ziehen können zwischen arm und nicht arm. Ist ein zölibatär lebender Singel mit eremitischen Verhaltensweisen arm? Ein kretischer Schäfer, der fast das ganze Jahr bei seinen Schafen lebt, von deren Milch und ein paar Einkäufen und wenig Habseligkeiten?
Historische Ansätze arbeiten mit Hungersnöten und Massenarbeitslosigkeit, wie sie in der Geschichte der Industrialisierung des ‚Westens‘ noch bis zum Beginn des 20.Jarhunderts auftraten. Hier vermischen sich oft eine ganze Reihe von Relationen, die fast beliebig zur Erklärung herangezogen werden. Massenarmut und Hunger werden dann einmal auf die mit der Industrialisierung verbundene Bevölkerungsentwicklung bezogen, die mit der Lohnentwicklung nicht in Einklang stand. Dann wird die Wirkung ausbleibender Ernten durch Umweltbedingungen mit den dadurch ausgelösten Teuerungsraten für Lebensmittel in Verbindung gebracht, die dann breitere Bevölkerungsschichten mit dem Schicksal von Armut überzog.
So widersprechen sich historische Ansätze allein dadurch schon, dass sie die mit der Industrialisierung verbundene Schaffung und Vermehrung von Arbeit und die Erhöhung der Produktivität in der Landwirtschaft selbst noch zur Ursache von Armut bestimmen wollen. Demnach ist die Industrialisierung scheinbar Wohl und Wehe der menschlichen Existenz zugleich, da immer mehr Menschen in die Industriezentren migrieren und die Industrie dieses exogene wie biologische Bevölkerungswachstum weder mit genug Einkommen noch mit stabilen Umwelbedingungen für die jährlichen Ernten zu versorgen in der Lage ist.
Der historische Materialismus hat daraus bekanntlicherweise ein Verteilungsproblem zwischen Kapital und Arbeit gemacht; an den Umweltbedingungen konnte auch er nicht rütteln. Aufgerüttelt hat er aber aus dem Traum, dass prinzipiell alle Menschen gleich seien. Das stimmt zwar prinzipiell, nur lebt der Mensch nicht im Prinzip, sondern in je unterschiedlichen Lebensverhältnissen, die ganz entscheidend von der Art, wie man arbeitet, bestimmt werden. Die politische Ökonomie hat damit eigentlich den Blick auf die je unterschiedlichen politischen und ökonomischen Verhältnisse, die das Leben der Menschen mit bestimmen gelegt; warum das von den neueren wissenschaftlichen Ansätzen der Armutsforschung nicht berücksichtigt wurde, bleibt ein Rätsel.
Letztlich kommt kein Ansatz der Armutsforschung umhin, eine Bestimmung von Armut als Einkommensarmut vorzunehmen. So bestimmen die Forscher in Deutschland und in Europa Armut ab einem Einkommen von ca. 50% des Durschnittseinkommens. Darunter, etwa bei 40% beginnt schon starke Armut und ein wenig über dem Durchschnitt liegt die Grenze für schwache Einkommensarmut3. Armutsgrenzen folgen also letztlich einem Einkommensmodell, das als ein Schichtenmodell bzw. als ein Berufsklassenmodell aufgebaut ist. Die jeweiligen Armutsgrenzen entsprechen so den Klassen: ungelernte Hilfsarbeiter, ungelernte Arbeiter, gelernte Arbeiter usw. Auf der untersten Lohnstufe finden wir dann also Armut.
Damit wird ein Bild von schwachen zu starken gesellschaftlichen Schichten unter Maßgabe von Einkommensverteilung gezeichnet und die so ermittelten monteären Lebenslagen (Berufs- und Einkommensklassen) werden als „soziale Probleme“ erfasst. Soziale Probleme sind so eine Quantifizierung von personenbezogenen Berufs- und Einkommensdaten und werden fortan in den Bereich der Sozialpolitik verschoben und dort als Armutsprobleme kuratiert.
Diese Formen der sozialökonomischen Sichtweisen rücken von den Fragen nach dem sozialen Fortschritt als Teil der Leistungsfähigkeit der Marktwirtschaft weit ab und verlieren die Fragen nach der politischen Verantwortung der Entwicklung des sozialen Fortschritts gänzlich aus den Augen. Solche sozialökonomischen Sichtweisen eigen sich daher ganz hervorragend für den politischen Diskurs um die Armut, als diese nur noch im Rahmen von Fürsorge und Sozialhilfe diskutiert werden.
Sozialpolitik ist dann fast ausschließlich eine Politik, die sich mit den Phänomenen Armut und Segregation als soziale Phänomene beschäftigen darf, die sie dann noch als Gruppenphänome von prekärer Arbeit aus dem Arbeits- und dem Wirtschaftsministerium periodisch freihaus geliefert bekommt. Während also die einen Ministerien Arbeitsplatz- und Wirtschaftspolitik betreiben, die prekäre Arbeit als Erfolg gegen Arbeitslosigkeit politisch einheimst, dürfen Fürsorgeprogramme und Sozialhilfe als Problemlöser von Armut nachrangig politisch ministerial glänzen.
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[title]Begriffe – Anmerkungen – Titel – Autoren[/title]
Einkommensarmut – soziale Teilhabe – Absolute Armut – Massenarmut – Armutsgrenzen
1 Levasseur, M., Richard, L., Gauvin, L., & Raymond, É. (2010). Inventory and Analysis of Definitions of Social Participation Found in the Aging Literature: Proposed Taxonomy of Social Activities. Social Science & Medicine (1982),71(12), 2141–2149.
2 Vgl: soziale-Teilhabe-Empfehlungen-Beirat Integrationsbeauftragte
3 Vgl. Gabler
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