Die Wissenschaft hat uns bei der Bestimmung von Armut nicht sonderlich viel geholfen. Dass sie eine brauchbare Relation zwischen Armut und einer, auf die Volkswirtschaft konzentrierten Krise begründen kann, ist daher unwahrscheinlich. Natürlich hat Armut auch etwas zu tun mit der Art, wie eine Gesellschaft, eine Volkswirtschaft ihre Erwerbstätigen in Arbeit bringt und hält. Die Veränderungen sind allenthalben sichtbar. Eine Beurteilung, in wie weit diese Veränderungen den ökonomischen wie den sozialen Fortschritt gleichermaßen positiv bewerkstelligen, ist da schon schwieriger. Aber bvevor wir uns mit den Schwierigkeiten beschäftigen, widmen wir uns den beiden grundsätzlich wichtigeren Aspekten, die das Adjetiv: positiv und das Adverb: gleichermaßen vorstellen.
Der soziale Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft ist dann als positiv zu betrachten, wenn mit dem ökonomischen Fortschritt zugleich bzw. gleichermaßen ein Abbau von realer Armut einher geht. So die Leitidee der Gründerväter der Sozialen Marktwirtschaft. Reale Armut läßt sich weder messen mit relativen Einkommensunterschieden noch sich über sozioökonomische Schichtenmodelle bestimmen. Reale Armut beschreibt eine Situation oder eine Befürchtung, in eine Situation zu geraten, in der ein Mensch an den Rand existenzieller und subsitenzieller Fragen gerät. „Ich kann mir ein Leben nicht mehr leisten“ ist der einhellige Ausdruck dieser Lebenslage, in der ein „würdiges“ Leben in Deutschland nicht mehr möglich scheint.
Reale Armut ist bestimmt als eine Lebenslage, in der der Zugang zu einer existenzsichernden Beschäftigung nachhaltig erschwert ist. Neben dieser Bestimmung innerhalb von Erwerbstätigkeit, gibt es auch eine, außerhalb der erwerbstätigen Bevölkerung. Dort sind vor allem Rentnerinnen und Rentner betroffen, aber auch alle anderen Bürger einer Gesellschaft, die unterhalb oder nahe an der Grenze der subsitenziellen Existenzsicherung leben.
Subsistenziell ist also eine Bestimmung von Armut, die es in allen Gesellschaftsformen gibt und sowohl die reale Bedrohung der Existenz durch Hunger wie die Befürchtung einschließt, die Reproduktionsfähigkeit der eigenen Existenz verlieren zu können oder auf ein Maß eingeschränkt sich vorzustellen, wo ein würdevolles Leben nicht mehr möglich ist. Dazu gehören Befürchtungen von Obdachlosigkeit ebenso wie solche von privater Insolvenz mit folgendem Abstieg in die sozialen Fürsorgesysteme, aber auch Vorstellungen, an den sog. Rand der Gesellschaft gedrängt zu werden.
Die Hauptursachen dieser Formen von Armut scheinen hauptsächlich ökonomisch bedingt zu sein. Maßgebliche, ökonomische Faktoren für das Schrumpfen der Mittelschicht hin an den Rand der relativen Armut, die bereits im Berufsleben einsetzen kann, rühren aus Veränderungen am Arbeitsmarkt. Gering-qualifizierte Menschen, deren Auskommen noch vor einiger Zeit Mittelstandsniveau hatte, haben es mittlerweile immer schwerer, Ihre Arbeitskraft am Arbeitsmarkt zu verkaufen und wenn dies gelingt, dann zunehmend zu deutlich geringeren Entlohnungen für diese Gruppen.
Geringqualifizierte finden immer weniger Zugang in den Dienstleistungsbereich, außer in prekären Jobs der untersten Lohnskala. Zudem konkurrieren sie bei Tätigkeiten im Industriesektor zunehmend mit Kräften aus den sog. Billiglohnländern und also durch die Globalisierung der Wertschöpfung, was zu einer immer geringeren Entlohnung in diesem Sektor führt. Dies hat u.a. auch dazu geführt, dass bis Mitte des Jahres 2010 die Zahl der abhängig Erwerbstätigen, die auf Grund zu geringer Einkommen auf zusätzliche Arbeitslosengeld II-Zahlungen angewiesen waren, auf 1,28 Millionen gestiegen war.
Gleichwohl die Zahl heute rückläufig ist und sich bei etwas über 1 Million Menschen eingependelt hat, ist der Sockel doch recht hoch, zumal die Rückläufigkeit der Zahl der Aufstocker1 relativiert wird durch die deutlich gestiegene Zahl an Erwerbstätigen. Deshalb hätte die Zahl der Aufstocker eigentlich viel deutlicher sinken müssen.
Lag die Zahl der Vollzeitbeschäftigten im Jahr 2010 bei 22,8 Millionen Beschäftigten, stieg sie dann aber kontinuierlich auf knapp 24 Millionen in 2016 an. Noch stärker, nämlich von 13,7 auf 15,3 Millionen, stieg im gleichen Zeitraum die Zahl der Teilzeitbeschäftigten und dieser Typus von Beschäftigung auf dem Arbeitsmarkt ist von eher einer Ausnahme zu einer Regel dort geworden und Beschäftigung zu stark reduzierter Stundenzahl ist in aller Regel nicht existenzsichernd und für viele Menschen bleibt da nur der Gang zur Behörde oder das sog. Multijobben, also arbeiten in mehreren Jobs gleichzeitig.
Der Arbeitsmarkt hat gerade im Bereich Teilzeitbeschäftigung eine große Veränderung erfahren mit erheblichen Konsequenzen für die Altersversorgung. Manche Arbeitsverträge selbst im Wissenschaftsbereich haben im Extremfall eine Laufzeit von nur einem Monat. Projektarbeit ist weit verbreitet, nicht immer wird diese auch adäquat bezahlt. Die Flexibilität und Durchlässigkeit der Arbeitsmärkte ist auch erreicht worden durch Zeitarbeit und Minijobs.
Und für viele dieser Zitarbeiter und (Multi-) Minijobber sind die Rentenbeiträge sehr hoch, gleichzeitig müssen jüngere Arbeitnehmer später mit niedrigeren Rentenzahlungen rechnen. Langfristige Lebensplanung wird unter solchen Bedingungen schwierig und die Befürchtung, schon im Erwerbsleben, aber spätestens im Rentenalter in eine existenziell bedrohliche Situation zu kommen, in der die Bedürftigkeit die Lebenslage kennzeichnet, steigt.
Wir sehen also einen ökonomischen Aufschwung, der auch lang anhaltend sich entwickelt auf der einen Seite und einen sozialen Fortschritt, der damit nicht Schritt hält. „Der Aufschwung ging offensichtlich an einem Großteil der Aufstocker vorbei, woran sich zeigt, dass die bloße Zunahme an Jobs allein Erwerbstätige nicht aus der Bedürftigkeit geholt hat. Es kommt auf die Qualität der Jobs an. Und die hat sich in den vergangenen Jahren nicht grundlegend geändert, denn der Beschäftigungsaufbau der vergangenen Jahre hat sich weniger im Bereich der sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigung als im Sektor atypischer Beschäftigungsverhältnisse abgespielt“.2
Es ist also zu einfach, einen kausalen Zusammenhang herzustellen zwischen ökonomischer und sozialer Entwicklung, wie dies gerne allenthalben versucht und versprochen wird. Wer sich also auch in Zeiten positiver, wirtschaftlicher Entwicklungen nur in Teilzeit- oder Minijobs wiederfindet, wird von der ökonomischen Entwicklung nicht in jedem Fall so bevorteilt, wie es eigentlich zu erwarten wäre.
Menschen, die nicht die institutionelle Unterstützung bei der Kindererziehung erreicht oder die aufgrund der Betreuung pflegebedürftiger Angehöriger auf Vollzeitjobs verzichten müssen, sind von einer existenzsichernden Beschäftigung auch in Zeiten von Vollbeschäftigung und Wirtschaftswachstum weit entfernt.
Besonders da, wo Arbeit im Niedriglohnsektor angesiedelt ist, bieten auch Vollzeitjobs trotz des Mindestlohns nicht immer ein existenzsicherndes Einkommen mit anschließender entsprechender Rentenversorgung. Und selbst im mittleren Einkommenssegment reicht vor allem bei größeren Familien das Einkommen eines Elternteils auch aus Vollzeitarbeit allein nicht aus, um über die Runden zu kommen.
Bei der Betrachtung dieser Faktoren: Zeitarbeit, Teilzeit- und Minijobs, finden wir eine wachsende Zahl an Erwerbstätigkeiten im Niedriglohnsektor, ungeachtet der Bildung und Qualifikation der Erwerbstätigen. Aus ihnen wird mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Zuwachs an Armut in einem der wirtschaftlich stärksten, westlichen Volkswirtschaften hervorgehen. Und da die institutionelle Unterstützung bei Kinderbetreuung und Versorgung kranker Angehöriger in der Spätphase ihres Lebens erst seit ein paar Jahren einsetzte und selbst bis heute noch keine tragende Unterstützung zur Abwehr von Altersarmut darstellt, dürfte der soziale Fortschritt kaum an Fahrt gewinnen.
Zeitarbeit, Teilzeit- und Minijobs sind arbeitsmarktpolitische Faktoren, keine ursächlich ökonomischen. Dass solche institutionellen Faktoren auf den Arbeitsmarkt und damit auf ökonomisches Handeln in den Unternehmen durchschlagen, heißt also noch nicht, dass Niedriglohnsektoren, prekäre Jobs und Aufstockung ursächlich im ökonomischen Handeln selbst liegen. Wir sagen dagegen, dass die Hemmung bzw. der Rückgang des sozialen Fortschritts ursächlich auf ein Fehlverhalten bzw. auf Fehlentscheidungen der arbeitsmarktpolitischen Institutionen zurück geht.
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[title]Begriffe – Anmerkungen – Titel – Autoren[/title]
sozialer Fortschritt – Reale Armut – existenzsichernde Beschäftigung – relative Armut – Teilzeitbeschäftigung – Bedürftigkeit – Niedriglohnsektor
1 Aufstocker sind in der Terminologie der Bundesagentur für Arbeit Personen, die Leistungen nach dem SGB II ergänzend zum Arbeitslosengeld (Arbeitslosengeld I) erhalten.
Vgl: Bundesagentur für Arbeit (Hrsg.): Zweites Buch Sozialgesetzbuch – SGB II. Fachliche Weisungen§ 7 SGB II Leistungsberechtigte. 10. August 2016, S. 31 / 7.78.
Dies kann der Fall sein, wenn die Ansprüche auf Arbeitslosengeld I zu gering sind, um das Existenzminimum zu decken. In der Umgangssprache in Deutschland ist Aufstocker ein Begriff für Personen, die mit ihrer Beschäftigung ein so geringes Einkommen erzielen, dass sie ergänzend finanzielle Leistungen vom Jobcenter erhalten. Die Arbeitsmarktstatistik spricht hier jedoch offiziell von „erwerbstätigen Arbeitslosengeld II-Beziehern“ oder „Ergänzern“.
2 Vgl. Informationsportal atypische und prekäre Beschäftigung.
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