Fragmentierung der Krisen

Krisen ohne Ende oder Ende der Krisen; zur Transformation der Marktwirtschaft gehört die Zirkularität von Krisen ihrer Krisen. Das ist nicht abgeleitet von den Konjunkturzyklen. Die Krisen der Marktwirtschaft treten zunehmend im Weltniveau auf. Weltwirtschaftskrisen hat es einige gegeben, die sind aber nicht vergleichbar mit den Krisen neueren Datums. Das liegt vor allem an der Vernetzung der globalen Geldströme, in die die politische Ökonomie mehr und mehr eingreift. So werden die Geldflüsse immer mehr zerteilt und die Teile setzen sich unplanmäßig, also zeitlich wie örtlich irgendwo auf dem Weltmarkt mit regional mehr oder weniger hoher Wahrscheinlichkeit wieder zusammen. Das Bild dieser Form der Fragmentierung folgt durchaus bewusst den Datenströmen im World Wide Web, wo Datensätze zu Datenpakten fragmentiert ihre unterschiedlichen Wege durch die Hubs des Webs finden und im Browser des Benutzers erst wieder zusammengesetzt werden.

Moderne Krisen sind also Assemblierungen von Krisenfragmenten aus transnationalen bzw. globalen Zusammenhängen. Eins dieser Fraktale besteht in der zu engen und ungerechten Verteilung der Benefits der Globalisierung. Ein anderes Fraktal entwickelt sich krisenaffin daraus, dass alles unter den Prozess der Globalisierung subsumiert wird und besonders für Entwicklungsländer mit wenig Industialisierung durch internationale Organisationen wie etwa dem IWF und dessen geldolitischen sowie handelspolitischen Druck keine lokale Autonomie mehr in den Entwicklungsländern zugelassen wird, eigene Industrien, eine landwirtschaftliche und kleingewerbliche Infrastruktur etc. aufzubauen.

Gleichwohl also keine integrierte, internationale Wirtschaftsordnung, keine wirkliche Weltwirtschaft existiert, setzen sich zunehmend von westlichen Regierungen, Finanzsystemen, Handelsordnungen usw. ausgehende Vorstellung einer Weltwirtschaft global durch, wohl wissend, dass die Dominanz dieser westlichen Vorstellungen sowohl im Westen wie in den Entwicklungs- und Schwellenländern die brüchige Integrität von Regierungen, Unternehmen und Zivilgesellschaft fragementieren.

Bereits im Jahr 1992 warnten über sechzig Ökonomen als Unterzeichner eines Memorandums: “ Die überhastete Einführung einer Europäischen Währungsunion wird Westeuropa starken ökonomischen Spannungen aussetzen, die in absehbarer Zeit zu einer politischen Zerreißprobe führen können und damit das Integrationsziel gefährden.“1

Zehn Jahre vor der Euroeinführung war die Gefahr der desintegrativen Fragementierung von Regierungen, Unternehmen und Zivilgesellschaften also bereits sichtbar, aber die politische Ökonomie unbelehrbar im Festhalten an einer vorgestellten europäischen Integration, der der Euro einen mächtigen Schub verleihen sollte und die, wie man heute weiß, in einer Zersplitterung auf allen Ebenen der Europäischen Union vor ihrem Ende steht.
2009 räumte die aktuelle griechische Regierung auf Druck der Finanzmärkte ein, die Kontrolle verloren zu haben, die bereits in einigen Vorgängerregierungen so viel Wasser aufgenommen hatte, dass ein Schiffbruch der griechischen Finanzen irgendwann unvermeidbar wurde. Selbst ein jahrelanger Diskurs ging als Haushaltslüge unter Wasser mit einem viermal so hohen Defizit im Staatshaushalt, als notorisch stets behauptet worden war.

Aber nicht nur die brüchige Integrität des griechischen Staates wie der griechischen Zivilgesellschaft mit zunehmender Armut, medizinischer Unterversorgung, massiver Jugendarbeitslosigkeit und Abwanderung der ‚Intelligentia‘ ins europäische Ausland waren die Folgen. Als die internationalen Kapitalgeber ihre neuen Risikobewertungen durchgeführt hatten, flohen sie nicht nur aus den griechischen Märkten, sondern gleich aus der gesamten südeuropäischen Peripherie. Der dramatische Abzug von Kapital aus diesen Staaten bzw. Regionen Europas brachte schnell Länder wie Spanien und Irland, die eigentlich ohne die griechische Lüge über durchaus als gut zu bezeichnende Staatsfinanzen verfügten, an den Rand einer politischen wie wirtschaftlichen Krise. Staatspleiten schienen kaum noch abwendbar, als die Immobilienpreise in diesen Ländern sanken, darauf hin die Immobilienkredite toxisch wurden, die Banken kollabierten und die Staatshaushalte völlig überfordert waren, aus eigener Kraft mit keynesianischen Mitteln die Banken und die Staatshaushalte zu sanieren.

Und dass damals bereits die Fragmentierung der Regierungen der EU weit fortgeschritten war, kann man daran erkennen, dass es keine integrierte Politik, nicht einmal eine solidarische gab, die, beherzt eingeschritten, die fortschreitenden Kapitalflucht hätte stoppen können. Die Regierungen waren uneinig und zögerlich ob der politischen Konsequenzen in ihren jeweiligen Ländern und so nahmen die Dinge ihren Lauf, bis die EZB im Jahr 2012 mit der Zusicherung, notfalls Staatsanleihen der Krisenstaaten in unbegrenzter Höhe aufzukaufen, der Kapitalflucht soweit ein Ende setzte.
Die Krise in Italien war damals noch nicht virulent in den Diskursen der EU und der Finanzmärkte, aber durchaus besorgniserregend.

In den USA zerbrach die politische Führung und die Zivilgesellschaft in zwei Teile, die kaum mehr als einen assoziaten Zusammenhang im Inneren etwa zwischen den Städten und Regionen des Rust Belt und denen in den reicheren in Kalifornien und New York z.B., noch weniger davon im Außenverhältnis zu Europa und den Weltmärkten, vor allem zu China auswies; Trump war die Folge. Und so kam der Austritt der USA aus den globalen Krisen Klima, Handel und Armut. Langfristig sind die politischen Lager in den USA so sehr konträr, dass eine gegenseitige Blockade stets droht, wenn die Verhältnisse im Repräsentantenhaus und im Senat sich dahingehend verschieben.

Ähnlich war und ist die Situation in England, wo der Brexit die Hälfte des politischen Willens blockiert und mit massiven negativen Folgen ökonomisch und sozial zu rechnen ist. Lager-Politik ist Blockade-Politik und das in einer Zeit, die zu mehr Integration, mindestens aber zu einer halbwegs stabilen, interessengeleiteten, Assoziierungs-Politik zwingt.

Man mag ein Freund von Zahlen sein und die Armutsbericht positiv lesen, wonach der weltweite Armutsindex erfreulich rückläufige Zahlen anbietet; allein diese Lesart verdeckt den Blick auf die tatsächliche Brisanz, die auch darin besteht, dass Armut fragmentiert und sich also zeitlich und lokal derart konzentriert, dass Kriege und Migrationen neben anderen Krisenerscheinungen häufiger in bestimmten Krisenregionen und wahrscheinlicher in anderen werden.

So ist auch der globale Handel in den zurückliegenden Jahren stärker gewachsen als die Weltwirtschaft und kann aus dieser Perspektive somit als ein Wachstumsmotor verstanden werden. Jener Teil aber, der auf der Basis neuer, innovativer Technologien sich entwickelt und den internationalen Datenverkehr betrifft, geht an den meisten Entwicklungs- und Schwellenländern vorbei, außer, dass diese als Absatzmärkte an der Entwicklung beteiligt sind. Und so ist es auch bei Produkten und Dienstleistungen, die ganz oder teilweise durch technologische Innovationen dynamisiert werden wie im Bereich des E-Commerce und E-Business.

Die meisten Wertschöpfungsketten sind heute extrem fragmentiert, so dass eine Produktionseinheit in der Regel völlig austauschbar geworden ist. Mit allen Folgen für die volkswirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten der Schwellen- und Entwicklungsländer.
Urbane Räume sind fragmentiert; London eine tägliche Assemblage des internationalen Reichtums – wo wie etwa in Mayfair selbst Millionäre arme Schlucker sind – und den Suburbs, den Stadtteilen der Armen, der working classes. Englands Hauptstadt ist lediglich noch englisch dort und in Dowing Street.

Wie einige der traditionellen deutschen Markenprodukte heute bis zu 70 Prozent aus Zulieferteilen und Dienstleistungen, die aus aller Welt kommen, besteht Londons Population in einigen Stadtteilen aus eben so vielen ausländischen Bewohnern. Globale Lieferketten und internationale Habitate, Teillebensräume, ohne Grenzen zu einem Ganzen, ökonomische wie soziale Biotope reihen sich synökologisch aneinander oder nebeneinander, bilden mit Ghettos, Suburbs, Mittelschichtshabitaten etc. einen urbanen Raum; eine Stadt im traditionellen Sinn war etwas anderes.
Also, lassen wir das romantische Reden von Vielfalt, von Diversität. Wir sitzen eben doch nicht alle in einem Boot.

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1 R. Ohr , W. Schäfer et al. (1992)


R. Ohr , W. Schäfer et al. (1992): Die EG-Währungsunion führt zur Zerreißprobe, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. Juni 1992. Siehe im Wortlaut: Memorandum führender deutscher Wirtschaftswissenschaftler zur Währungsunion vom 11. Juni 1992 PDF


Renate Ohr (* 12. Juli 1953 in Ludwigshafen am Rhein)
Wolf Schäfer (* 14. Juli 1941 in Hamburg)

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