Hybris des Social-Scoring

Bei der guten alten Überweisung weist der Schuldner seine kontoführende Bank an, einen bestimmten Geldbetrag auf ein bestimmtes Konto des Gläubigers bei einer bestimmten Bank bargeldlos zu übertragen. Hierdurch erfüllt der Schuldner gegenüber seinem Gläubiger seine Geldschuld, ohne dass Bargeld zum Einsatz gekommen ist. Und das gute dabei ist, das Gläubiger-Schuldner-Verhältnis erstreckt sich auf genau diesen Fall und ist damit zugleich auch ausgeglichen. Alles, was über diese Bedingung hinaus geht, spielt keine Rolle und wird bzw. kann auch nicht in Schrift- oder Datenform erfassst werden. Ob man sich mag, sich gegenseitig am liebsten die Pest an den Hals wünscht, ob man die Frau des anderen mehr kennt, als dem Vertragspartner lieb ist, was mit den Kindern und Verwandten ist usw. alles das bleibt im Dunkeln, ist Privatsache.

Im Sozialkredit-System gibt es keine Privatsphäre mehr. Nicht nur nicht in Geldangelegenheiten, aber dazu kommen wir dann später. In Geldangelegenheiten ist alles wie das englische Wort schön ausdrückt, ein Social Credit. Social Credits sind ausgewertete Datenströme, die z.B. eine Kreditanfrage eines Menschen mit seiner Zahlungsmoral bei Telekom-Unternehmen, Mietzahlungen sowie ordnungsrechtlichen Einträgen mit einander verbinden und so zu einem Score kommen, dessen Algorithmus die betroffene Person nicht kennt, aber der die Reputation einer Person mit dem Kreditantrag zusammen bringt und möglicherweise als nicht-kreditwürdig einstuft.

Social-Scoring betrifft alle Lebensbereiche des Menschen, seine Verhaltensweisen, seine Einstellungen und seine Ansichten, beruflich wie privat. Die heute wichtigsten door-opener für die Algorithmen bzw. die „kleine Intelligenz“ sowie für die KI (Künstliche Intelligenz) sind das Smartphone, der PC, Alexa und baugleiche Bluetooth Lautsprecher mit cloudbasierten Sprachdiensten, Unterhaltungselektronik und digitale Messsysteme. Mit dem Smartphone in Verbindung mit Digital Pay Apps, also digitalen Bezahlsystemen, steht die Abschaffung des Bargelds kurz bevor. Dass es noch nicht umfassend gelungen ist, Bargeld aus den Zahlungsverkehr zu nehmen, liegt nicht an technischen Mängeln, sondern an noch bestehenden Bedenken und der Ablehnung von Nutzern bereits für Digitalgeld konfigurierten Mobilgeräten.

Neue Bezahlsysteme wie etwa Amazon Pay, Google Pay etc. verhelfen dem Bezahlen per Smartphone zum Durchbruch. Die Banken weltweit stehen in Alarmbereitschaft, könnten sie doch durch die neuen Anbieter aus dem lukrativen Geldfluss gedrängt werden. Mehr noch; ihre äußerst komfortablen Geschäftsbeziehungen zu den Regierungen kämen ins Wanken, würden gar eingeschränkt oder ganz von FinTechs übernommen. Aber weder Banken noch Regierungen haben ein Interesse daran, was nachvollziebar ist, sind die Geschäftsbeziehungen zwischen Macht und Geld doch ebenso alt wie verflochten und stabil.

Da das Geschäft mit dem bargeldlosen Zahlungsverkehr auf Bais von Digitalgeld aber äußerst lukrativ ist, haben sich besonders die Unternehmen aus den USA ins Rennen gebracht, die bereits über Plattform-Ökonomien, über Hightech-Geschäfte mit entsprechenden Geschäftsmodellen verfügen. Der E-Commerce-Riese und Plattformtechnologie-Erfinder für den Consumer-Market will sein Bezahlsystem Amazon Pay z. Zt. auch in Restaurantketten oder Tankstellen einführen, also dort, wo die Menschen tagtäglich präsent sind; dort können Kunden einfach mit ihrem Smartphone bezahlen. Google und Apple haben solche Dienste schon seit Jahren. In Deutschland ist seit Kurzem die Bezahl-App von Google – Google Pay – am Markt. Auch Apple steht mit seinem eigenen Bezahldienst Apple Pay kurz vor dem Start in Deutschland.

Diese Unternehmen sind die Speerspitzen einer technologischen Revolution, die rund 2.500 Jahre nach Erfindung des Münzgelds und etwa 1.000 Jahre nach dem ersten Geldschein das Bargeld mit großem wirtschaftlichen Gewicht und hoher Geschwindigkeit aus unserem Alltag verdrängen. Dieser Verdrängungswettbewerb hätte eigentlich keine marktwirtschaftlichen Wettbewerber in den Banken, wäre da nicht die politische Ökonomie. Denn die Banken in Europa, aber auch in den USA hätten den Wettbewerb um das Giralgeld bereits verloren, schlügen sie nicht schnell und zahlreich den Weg zu Kooperationen, Fusionen oder Übernahmen mit den FinTechs ein.

Aber ein Wirtschaftsbereich, der extrem viele Daten produziert, scheint ihnen zu entgleiten, der Einzelhandel. Im Einzelhandel sehen wir die Entwicklung zum Digitalgeld am schnellsten fortschreiten. Schon seit vielen Jahren verändert der Siegeszug des E-Commerce den Einzelhandel und gegen die Plattformökonomien der Tech-Giganten helfen die aktuellen Strategien der Banken, die sehr häufig im Verein mit Kreditkartenunternehmen vorgehen, wenig.

Dabei müssen wir einen entscheidenden Unterschied machen: den bargeldlosen Zahlungsverkehr mit und ohne mobile Bezahl-Apps. Der Prozess der montären Transaktionen national wie weltweit wird in absehbarer Zeit nur noch über mobile Bezahl-Apps funktionieren; wir nennen das Mobile-Pay.

In den USA, den Niederlanden und Schweden ist bereits heute elektronisches Bezahlen beliebter als Bargeld und der Einsatz von Mobile-Pay schon sehr breit. In China haben die mobilen Apps von Alipay mit 520 Millionen Nutzern und WeChat Pay mit 900 Millionen Kunden die Münzen und Scheine längst an den Rand gedrängt. Die Folgen sind längst nicht mehr nur auf die Transformation von Wirtschaftsprozessen begrenzt und an China, das ja nun nicht gerade zu einer liberalen Marktwirtschaft und Demokratie zählt, kann man trennschaft erkennen, worum es letztlich bei der Abschaffung des Bargelds geht.
Der chinesische Investor Kai-Fu Lee, ehemaliger Präsident von Google China, bringt es auf den Punkt: „Europa sollte klar sein, dass es sich aus dem KI-Wettbewerb verabschiedet, indem es so eine hohe Priorität auf Privatsphäre legt.“1

Was Mr. Kai-Fu Lee vorstellt, ist aber keineswegs mit der Auflösung der Privatsphäre belassen: „WeChat ist in China das Portal zu allem, auch für mich. 50 Prozent meiner Zeit auf dem Handy verbringe ich bei WeChat. Es ist meine Geldbörse, mein Bezahldienst, mein Strom- und Energieversorger. Ich zahle dort meine Telefonrechnung, kaufe meine Flugtickets, miete ein Auto, bestelle Essen. Es ist ein Portal, dass alles sammelt.“(ebenda)

In China gibt es keine Kreditkarten mehr. Was also in den USA und in Europa mit den Banken und Kreditkartenunternehmen noch einen Bereich des Zahlungsverkehrs definiert, der mit Giralgeld funktioniert, ist in China bereits in eine Plattform-Ökonomie transformiert. Alle mobilen Bezahldaten werden in China von Tencent und Alibaba gesammelt. In den USA und in Europa braucht man noch Bargeld und Kreditkarten. Und in Europa und den USA entsteht gerade eine digitale Kooperation, die die Integration von etwa zur Zeit geschätzen 80 Millionen Menschen in den Zahlungsverkehr ermöglicht, die im Mobile-Pay sonst ausgeschlossen blieben.

Das winzige Start-up ‚Barzahlen‘ kooperiert neuerdings mit dem Handelsriesen Amazon, wobei sich die beiden digitalen Dienstleistungen im Zahlungsverkehr ergänzen. Was ‚Barzahlen‘ in Berlin und „Amazon Cash“ in Seattle, Washington, zusammenbringt ist ein etwa zehnprozentiges Marktvolumen, das ungehoben bliebe, aber mehr noch die Überlegung, dass dieses Geschäft nicht bei den Banken und Kreditkartenunternehmen bleiben muss bzw. darf. Hat das deutsche Start-up den Schutz der Privatsphäre im Zahlungsverkehr im Blick und kämpft wie Robin Hood im Sherwood Forest gegen den „gläsernen Bürger“, so hat der amerikanische Partner größeres im Sinne.

Die E-Commerce Plattformen mit Mobile Pay wollen den gesamten Zahlungsverkehr übernehmen und warum sollten sie am Ende nicht wie in China eine Allianz mit der ‚Macht‘ eingehen und so eine universelle politische Ökonomie aufbauen? Die Chinesen sind extrem begierig auf digitale Services, vor allem auf ihren Mobilgeräten und inzwischen kopieren immer mehr US-Firmen mit chinesischen Plattform-Diensten. Kein Zufall, dass Facebook oder WhatsApp immer mehr der dominanten chinesischen Plattform WeChat ähneln, man kommt sich eben näher.

Gleichwohl wir der Meinung sind, dass einiges dagegen spricht, dass Facebook und seine angegliederten digitalen Dienste im Wettbewerb mit Plattform-Ökonomien Schritt halten können, auch die Social Networks tragen einen Teil zur Transformation der westlichen Marktwirtschaften bei. Bei der Ablösung von Bargeld durch Digitalgeld spielen sie aber noch keine große Rolle.

Ein große Rolle kann sicherlich Apple Pay, die Bezahldienst-App für das iPhone übernehmen. Apple Pay ist gleich von Beginn an für das Bezahlen an der Ladenkasse, in Apps und in Onlineshops konfiguriert, bietet aber zum Start in Deutschland noch eine Kreditkarte. Das Gleiche gilt für Google Pay, das mit dem Bezahldienst Paypal zusammenarbeitet. Für die vollständige Nutzung von Google Pay benötigen Kunden zumindest ein Bankkonto, auf dem ein Guthaben verzeichnet ist. Man sieht, die Transformation zum Digitalgeld als universeller Währung geht teils in Schritten und noch in Kombination mit dem Giralgeld, vornehmlich aus Gründen des in Europa so beständigen Schutzes der Privatsphäre. Aber wie wir sahen, ist der Schritt vom Giralgeld zum Digitalgeld nur kurz und braucht keine technische Erweiterung bzw. Erneuerung.

Es können also parallel zum Digitalgeld und Mobile Pay aus marktstrategischen Gründen der Kauf auf Rechnung und Dienste wie Sofortüberweisung, Giropay oder Paydirekt, für die die Nutzer zusätzlich einen Zugang zum Onlinebanking brauchen, bestehen. Zu alle dem ist die einzige wirkliche Alternative aber das Bargeld. Und Bargeld ist die Währung in näherer Zukunft für alle die Menschen, die vom Einkauf im Internet ausgeschlossen sind, weil sie keine Kreditkarte haben, kein Onlinebanking nutzen, weil ihr Konto gepfändet wird oder sie ihre Zahlungsdaten online nicht preisgeben möchten. Und das macht einen Marktanteil zwischen fünf und zehn Prozent aus, eher tendierend nach zehn Prozent und darüber hinaus.

Aus der Sicht eines Social-Scorings sind diese Menschen solange in einer glücklicheren Situation, solange für sie das Bezahlen mit Bargeld oder Giralgeld – wozu auch Zuwendungen der Sozialkassen zählen – bestehen bleibt. Solange bleiben Lücken in ihren Datenströmen, gleichwohl sie längst aufgrund ihrer Lebenssituation zu den „gläsernen“ Menschen gehören. Was sie vor weiteren Daten-Drangsalen schützt, ist, dass ihre Daten nicht mit allen ihren Lebenssituationen vernetzt sind. Gerade Menschen auf den unteren Stufen der Gesellschaft müssen, man siehe nach China, am schwersten unter den negativen Folgen der Datenvernetzung leiden. So ist es eine Ironie der Geschichte, dass gerade die, die am wenigsten Geld haben, am längsten wohl den Vorteil des Bargeldes und dessen Datensparsamkeit genießen; wie lange, wissen wir natürlich nicht.

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Sozialkredit-SystemDigital Pay AppsMobile-PayAuflösung der Privatsphäre


1 Handelsblatt print: Nr. 232 vom 30.11.2018 Seite 007

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