Arbeiten für die anderen

Es ist selten genug, dass Wissenschaft und Volksmund in Deutschland einmal einer Meinung sind, und das hartnäckig über einen langen Zeitraum: Wohlstand kommt aus Arbeit. Natürlich billigt der Volksmund dem Unternehmer auch Wohlstand zu, sogar mehr Wohlstand, solange dieser in einem fairen, gerechten Verhältnis zum Faktor Arbeit steht. Zwar weiß niemand so richtig, was gerecht ist, die einen meinen ein Verhältnis von 1:3, aber andere gehen da weiter bis zu einem Verhältnis von 1:30 und mehr, aber dann begibt man sich schon in den Bereich der Heuschrecken, Ausbeuter und hässlichere Schimpfwörter kursieren dann über die Stammtische. Bedenkt man den Kern dieser Wohlstandsdebatte, dann wird man schnell feststellen, dass es gar nicht so sehr um die Höhe des Verhältnisses zwischen den Faktoren Arbeit und Kapital geht, sondern, dass dieses Verhältnis auf beiden Seiten aus der Arbeit entspringt. Auch einem Unternehmer gestattet man mehr Wohlstand, je mehr er arbeitet.
Diese Vorstellung hat sich, zumindest in Deutschland, auf die europäische Union übertragen, genauer gesagt, auf den Euro-Raum. Tendenziell kann man sagen, Wissenschaft und Volksmund sind relativ indifferent gegenüber dem Wohlstand anderer Staaten und akzeptieren auch größere Unterschiede, wenn sie aus der Arbeit der jeweiligen Volkswirtschaft, also aus dem Bruttoinlandsprodukt sich errechnet; und, man darf hinzufügen, im marktwirtschaftlich fairen Wettbewerb erwirtschaftet worden ist. Aber wenn es um Staaten derselben Währung geht, wie bei den Euro-Staaten, hört die Zustimmung schnell aus, schlägt um in teils explizite wie im Volksmund und implizite Ablehnung wie in der Wissenschaft.

Vom faulen Griechen ist dann die Rede, vom ehrlosen Italiener, von Abzockern, Betrügern und noch einer ganzen Reihe von Chauvinismen, die selbst heute noch die Grenze zum Rassismus auch in Europa locker zu überschreiten in der Lage sind. Alles dies strömt aus der Ansicht, dass andere Länder im Euro die gemeinsame Währung für sich ausnutzen, indem sie andere Bürger für sich arbeiten lassen, genau genommen für deren Schulden. Wer nicht faul ist und arbeitet, hat keine Schulden, jedenfalls die meisten der europäischen Erwerbstätigen kommen nicht in diese prekäre Lage, es sei denn, sie stehen in prekären Arbeitsverhältnissen, selbstverschuldet durch mangelnde Bildung und Ausbildung, fremdverschuldet durch Unternehmen, die solche Menschen ausbeuten.

Sind also bei diesen Vergleichen die Ursachen in ganz persönlichen Vorstellungen zu finden, in Klischees über Kapital und Arbeit, so ist es gar nicht so weit entfernt, diese Vorstellung aus den Sphären persönlicher Klischees in die Sphären der wissenschaftlichen Begriffe zu heben; im Ergebnis bleibt es gleich. Und mit der Frage nach dem Verursacherprinzip stellt sich sofort auch die Frage nach dem Umgang mit dem Verursacher an. Anstelle der Verteilungsgerechtigkeit durch Formen der Umverteilung persönlicher Vermögen etwa über Steuern steht dann eine Form der interstaatlichen Solidarität an im Sinne der Vergemeinschaftung von Staatsschulden in einer Haftungsgemeinschaft.

Wie weit entfernt von einander Wissenschaftler im gleichen Fach sein können, dokumentiert die Frage: Ist Deutschland wirklich der große Euro-Gewinner?, mit der jüngst Hans-Werner Sinn seine Erwiderung auf eine Studie zur Gemeinschaftswährung: Der Euro hat Italiener und Franzosen ärmer gemacht von Matthias Kullas und Alessandro Gasparotti vom CEP überschrieben hat. Vom gleichen Fach, vom gleichen Fachwissen? Oder sind selbst so weit auseinander liegende Bewertungen eines wissenschaftlichen Untersuchungsgegenstandes das Resultat einer inadäquaten Betrachtungsweise? Auffällig, dass in den beiden Resultaten so ziemlich genau die Bandbreite volkstümlicher Klischees ihre wissenschaftlichen Pendants finden. Wenn zwei Meinungen bzw. wissenschaftliche Ergebnisse derart konträr zu einander stehen, wie: Deutschland ist der große Euro-Gewinner und Deutschland ist der große Netto-Verlierer im Euroraum, dann reizt das unser Interesse1.

Sinn kritisiert die Studie von Kullas/Gasparotti zuerst schon einmal als ein falsches Wissenschaftssetting, da sie in der Kontrollgruppe zu Deutschland mit Ländern wie Bahrein, Japan, Schweiz und UK arbeitet und dabei das Pro-Kopf-Wachstum beider vergleicht, ohne zu berücksichtigen, dass zwischen im Vergleichszeitraum 1980 und 1996 ein „starker Strukturumbruch wegen der deutschen Wiedervereinigung“ stattgefunden hat. Das ist natürlich ein ganz fundamentaler wissenschaftlicher Fehler, wenn man Vergleiche anstrebt, deren methodische Aufarbeitung der Vergleichsdaten aber schon empirisch misslingen muss. Die Inkompatibilität der Daten wird uns später umso mehr beschäftigen, als Datenanalyse in automatisierten Prozessen im Zusammenhang mit Big Data in einem noch viel höherem Ausmaß methodisch sensibel sind, als im vorliegenden Fall, dessen Ergebnis aber trotzdem von einer großen Tragweite für den Diskurs um die europäische Integration ist.

Das Pro-Kopf-Wachstum, das nach Kullas/Gasparotti einem akkumulierten Gewinn von knapp 1,9 Billionen Euro für Deutschland im Zeitraum von 1999 bis 2017 entspricht, macht mehr ‚Sinn‘, wenn man „Schröders Reformen über das Outsourcing und den Innovationsschub der Industrie bis zum Bauboom“ zur Erklärung heranzieht. Wenn Kullas/Gasparotti im Ergebnis von fast 2 Billionen Euro sprechen, sind allerdings auch Zweifel angebracht, dass diese Summe durch Schröders Reformen, Outsourcing etc. entstanden sein sollen.
Kullas/Gasparotti stellen eine Betrachtung für diese 16 Jahre ins Zentrum, die das reale BIP-Wachstum im Sinne der Theorie der Zinsparität auf die unterschiedliche Inflation in den Ländern zurückführt. Demnach hat die „reale Abwertung, die Deutschland im Euro wegen der Inflation der anderen Länder erfuhr, über die Exporte auch das reale BIP wachsen lassen“, oder anders gesagt, im Vergleich wurden die Produkte und Dienstleistungen, die in Deutschland produziert wurden gegenüber den anderen Euro-Staaten billiger. Ob man aber, wie Kullas/Gasparotti es tun, Volkswirtschaften mit unterschiedlicher Währung über das Pro-Kopf-Wachstum mit einander vergleichen kann, haben wir ein paar Seiten vorher bereits stark in Frage gestellt.

Sinn verweist zurecht darauf, dass generell eine Abwertung wie im Falle Deutschlands die Bürger ärmer macht; das ist richtig. An die Daten geht Sinn aber nicht von der Theorie der Zinsparität(ZP) aus, sondern von der Theorie der Kaufkraftparität (KKP). Es stehen damit zwei unterschiedliche Betrachtungsweisen ein und derselben Sache, hier das Wirtschaftswachstum, zur Disposition. Kullas/Gasparotti vergleichen reales Wirtschaftswachstum (reales BIP), während Sinn das Bruttoinlandsprodukt zu Marktpreisen veranschlagt (nominales BIP).
Beide Methoden unterscheiden sich im Umgang mit volkswirtschaftlichen Daten in der Bewertung der Wertschöpfung. Beim nominalen Wachstum wird die Wertschöpfung über die Marktpreise bewertet, sodass eventuelle Änderungen der Marktpreise durch Inflation und Deflation zu einem Anstieg bzw. Rückgang des Wachstums führen. Das reale Wachstum wird hingegen um die Preissteigerungen im Rahmen von Inflation/Deflation bereinigt. Gemessen wird nach diesem Konzept also die eigentliche reale Leistungsentwicklung der Gesamtwirtschaft. Man kann auch stark vereinfacht zwar, aber zulässig feststellen, dass der eine Ansatz einer ist, ohne Sinn (sorry!), also ohne die Frage zu berücksichtigen, was kann sich der Bürger für seine Arbeit eigentlich kaufen?

Und bei dieser Frage kommt man mit Sinn zu einem anderen Ergebnis, natürlich. Denn die im realen BIP enthaltenen, historisch künstlich festgelegten Preise und Wechselkurse sagen recht wenig über ein qualitatives Wachstum aus und sind damit ein wenig geeigneter, mithin wenig relevanter Vergleichsmaßstab. Der erlaubt zwar recht einfach Länder wie Bahrein, Japan, Schweiz und UK mit Deutschland zu vergleichen, aber ohne Berücksichtigung der jeweiligen Produktionsverhältnisse in den Ländern, den Bedingungen, unter denen darin gearbeitet wird und natürlich ohne die Frage, wie man mit dem, was man dort zu unterschiedlichsten Bedingungen erwirtschaftet hat, auch leben kann.

Kommen wir auf einen weiteren Aspekt in Sinns Erwiderung zu sprechen, dass nämlich „die Exporte im BIP als Wohlstandsmaß gezählt werden, obwohl sie das erst dann sind, wenn sichergestellt ist, dass sie entweder sofort oder später barwertneutral in Importe verwandelt werden.“
Das BIP als Wohlstandmaß zu zählen ist wissenschaftlich abenteuerlich, ob nun um den Faktor der Kapitalisierung in Importen oder nicht. Wieder geht es um das reale Wirtschaftswachstum pro Kopf, welches als Indikator für Lebensqualität bzw. Wohlstand geeignet sein soll. Wir haben bereits mehrfach ausgeführt, warum wir lieber von der Wohlfahrt eines Landes als vom Wohlstand seiner Bürger sprechen, denn der Begriff der Wohlfahrt war als weit mehr umfassender Begriff von seinen ursprünglichen Autoren im Fach Volkswirtschaftslehre durchaus mit Bedacht favorisiert.

Betrachten wir das BIP pro Kopf dann können wir wie bereits gesagt feststellen, dass das BIP nichts über die Produktivität einer Volkswirtschaft aussagt. So kann ein BIP pro Kopf in Höhe von $ 40.000 mithilfe von 40 Stunden Arbeit pro Woche erreicht worden sein oder auch mit 80 Stunden Arbeit pro Woche. Diejenige Volkswirtschaft, die dies mit dem geringeren Aufwand schafft, ist selbstverständlich produktiver. Die Leute dort haben mehr Freizeit und in diesem Sinne eine höhere Lebensqualität. Selbst innerhalb einer Volkswirtschaft kann das BIP pro Kopf ein ganz unterschiedlicher Indikator für Lebensqualität sein. Mit $ 40.000 lebt man in Montana sehr gut, in New York City überhaupt nicht gut; im Gegenteil.

Das BIP sagt auch nichts über die Verteilung der Einkommen aus innerhalb einer Volkswirtschaft. Die berühmte Schere zwischen Arm und Reich kann besonders groß oder eben auch klein sein und transnationale Produktionsnetze mit ihren transnational verteilten Einkommen sind gar nicht darin repräsentiert.
Bestimmte Indikatoren für eine hohe Lebensqualität, wir sagen für eine gesunde staatliche Wohlfahrt, sind eben so wenig im BIP enthalten, so etwa Gesundheit und Renten der Bewohner, Bildungsqualität, Umweltbelastung, Kultur, etc. spielen überhaupt keine Rolle beim BIP.
Das BIP pro Kopf trägt wie auch andere Indikatoren volkswirtschaftlicher Zusammenhänge teilweise paradoxe Charaktere. So wird das BIP durch Leistungen erhöht, die die Lebensqualität sogar negativ beeinflussen. Ein Autounfall führt z.B. zu einer Erhöhung des BIP und gleichzeitig zu einer Senkung der Lebensqualität für die betroffenen Personen. Und schlussendlich haben wir ausführlich bereits dargelegt, dass das BIP pro Kopf Leistungen die pro Kopf erbracht werden und zusammengerechnet deutlich höher in der Summe sind als das BIP selbst, also bestimmte Tätigkeiten, welche die Lebensqualität durchaus erhöhen können, nicht berücksichtigt wie z.B. private Hausarbeiten, soziale und kulturelle sowie ehrenamtliche Tätigkeiten, aber auch illegale Aktivitäten werden vom BIP pro Kopf nicht erfasst.

Wir können daher festhalten, dass das BIP pro Kopf eine methodische Betrachtung heterogener Daten ist, die nur dann Ergebnisse der Vergleichbarkeit in der Lage ist zu liefern, wenn vorher die Daten mit methodisch hoher Abstraktion ausgewertet werden. Länder wie Bahrein, Japan, Schweiz und UK mit Deutschland zu vergleichen, geht ohne ein Höchstmaß an Abstraktion wohl kaum bis gar nicht. Bahrein, ein Land etwa so groß wie Hamburg, dessen gewerbliche Wirtschaft von öl- und aluminiumexportierenden Industriezweigen und von deren Ergebnis etwa 77 Prozent der gesamten Regierungseinnahmen und damit des Budgets erwirtschafte wird, also kaum über industrielle Diversifizierung verfügt mit anderen Ländern zu vergleichen ist mehr als abenteuerlich. Denn rein nach BIP pro Kopf erwirtschaftete Bahrein 2017 etwa 35 Mrd. US-Dollar, was in KKP ausgedrückt etwa 48.500 US-Dollar entsprach, also durchaus eine hohe Lebensqualität bzw. einen hohen Wohlfahrtsfaktor suggeriert.

Im weltweiten Ranking lag Bahrein auf Platz 23 und mit 03% am BIP machte nur die Landwirtschaft verständlicherweise wegen des Klimas und der Bodenbeschaffenheit einen ungünstigen Eindruck in Hinsicht von struktureller Gesundheit der Volkswirtschaft. Denn mit 35% an industrieller Produktion und Zweidrittel im Dienstleistungsbereich konnte man das Land als strukturell eher ausgewogen bezeichnen.
Schaut man sich die Entwicklung aber der letzten Jahre an, dann sind durch den sinkenden Ölpreis die Staatsfinanzen Bahrains in eine erhebliche Schieflage geraten. Das Haushaltsdefizit betrug 2016 ca. 14% der Wirtschaftsleistung und war damit eines der höchsten der Welt. Die Staatsverschuldung liegt inzwischen bei ca. 90 % des BIP. Im Laufe des Jahres 2016 wurde die Kreditwürdigkeit Bahrains von mehreren großen Ratingagenturen auf „Ramschniveau“ abgestuft.2
Sicherlich lassen sich die Schweiz, UK und Japan besser mit Deutschland vergleichen. Aber das japanische Staatsdefizit wäre auch in solch einem Vergleich ein ‚Solitär‘ wie die strukturelle Beschaffenheit der Schweizer Wirtschaft oder die strukturelle Ausnahmestellung der City of London in der europäischen, gar in der weltweiten Wirtschaft.

So abstrakt die Methode, so manipulationsanfällig ist, was uns als Daten überhaupt zur Verfügung steht bzw. bekannt wird. Wer kennt denn genau die „Guthaben“ der Deutschen, vor allem des deutschen Staates? Worauf Sinn ebenso zurecht hinweist ist, dass die Studie von Kullas/Gasparotti keine Notiz davon genommen hat, wie die deutschen Exportüberschüsse angelegt worden sind. Das kann die Studie gar nicht, da sie von Zinsparitäten ausgeht und auf das Pro-Kopf-Wachstum abzielt. Die Frage also, ob die Außenerlöse auch immer sinnvoll angelegt wurden, taucht gar nicht im Blickfeld der Autoren auf; sie waren es nicht, sondern wurden signifikant „für windige Vermögenstitel im Ausland verwandt. Ein Teil dieser Titel bestand aus wertlosen Schuldscheinen meist amerikanischer Provenienz, deren Platzen dazu beitrug, dass Deutschland in seiner Bilanz des Nettoauslandsvermögens Hunderte von Milliarden Euro abschreiben musste.“
Dann kommt Sinn noch zu seinem Lieblingsthema, den Target-Salden – wir haben darüber gehandelt. In der Außenbilanz Deutschlands stehen fast 1 Billion Euro an Target-Buchforderungen der Bundesbank, die nach Abschreibungen fast 50 Prozent des deutschen Auslandsvermögens ausmachen, die also durch Exportüberschüsse aus dem Handel mit den Euro-Staaten erwirtschaftet wurden.

Folgt man Sinn und es gibt wenig Gründe, dies nicht zu tun, dann sind die Target-Buchforderungen der Bundesbank an die entsprechenden Institute in den Euro-Ländern „offene Kreditforderungen, die die Bundesbank nie fällig stellen kann und [die] nur zum Hauptrefinanzierungssatz verzinst werden“, also zu fast null, was auch noch eine ganze Zeit lang so bleiben dürfte. Würde man an dieser Stelle schon eine Gegenrechnung aufstellen, dann wären die von Kullas/Gasparotti errechneten Überschüsse bereits zu mehr als einem Drittel aufgebraucht, allein deshalb, weil schon für die Target-Forderungen keine Zinsen zu erwirtschaften sind.

Dazu kommt die Besonderheit, dass diese Target-Forderungen zwar noch jahrelang in den Büchern stehen werden, sie aber eigentlich abgeschrieben werden müssten, wie dies in jeder normalen privatrechtlichen Körperschaft vorgeschrieben wäre. Aus einer Billion an Buchgeld würde dann eine Null, was für die deutschen Steuerzahler sogar vorübergehend noch von Vorteil wäre. So wertlos diese Target-Salden auch sein mögen, in einem Fall, wo ein Schuldner-Land aus dem Euro austritt und wenn dies z.B. eine so große Volkswirtschaft mit so großen Schuldenständen wie Italien wäre, kämen immense Haftungsschäden aus den Target-Salden auf die deutschen Steuerzahler zu gerollt. Ob wir aber über den Fall eines irgendwann auftretenden Tsunami spekulieren wollen oder lieber gleich über die tatsächliche ‚Enteignung‘ der deutschen Sparvermögen, die nun seit Jahren unter den Null-Zins-Politik vor sich hin erodieren, bleibt eigentlich müßig zu beantworten.

Ebenso müßig ist, wenn Sinn auf die entgangenen Zinseinkünfte aus den deutschen Auslandsvermögen hinweist, die in der Rechnung von Kullas/Gasparotti auch nicht auftauchen, immerhin ein Zinsausfall von knapp 600 Mrd. Euro in den deutschen Kassen für die Zeit von 2008 bis 2017. Wissenschaftlich sehr fragwürdig ist, dass Sinn diesen Ausfall an Konsum durch Importe ausländischer Waren auf die Zeit vor der Lehmann-Krise bezieht, was man der Studie von Kullas/Gasparotti aber nicht anlasten kann. Anlasten aber kann man ihr, dass sie, wie Sinn wiederum zurecht bemerkt, Erträge aus Auslandsanlagen bzw. Verluste oder entgangene Erträge gar nicht erfasst, da sie nicht Teil des Bruttoinlandsproduktes sind.

Anstelle der Größe BIP pro Kopf schlägt Sinn wenig emphatisch vor, mit dem Nationaleinkommen bei Vergleichen von volkswirtschaftlichen ‚Bilanzen‘ zu operieren; für uns ein eher verzweifelter Vorschlag in Ermangelung einer verifizierbaren Größe und einer tragfähigen Vergleichsmethode. Der Begriff des Nationaleinkommens hat zwar eine ganze Reihe von Vorteilen gegenüber dem BIP pro Kopf – und auch gegenüber dem BIP zu Marktpreisen. Das Nationaleinkommen, differenziert in Brutto- und Nettonationaleinkommen (BNE und NNE), operiert mit dem Begriff des Primäreinkommens und betrachtet den Marktprozess bzw. das Markteinkommen aus einer viel umfassenderen, monetären Perspektive. Das Primäreinkommen wird vom Inlandsprodukt in Abzug gebracht und betrifft jene Geldströme, die im Außenhandel abgeflossen sind und umgekehrt auch jene Geldströme bzw. geldwerten Waren- und Güterströme, die von inländischen Wirtschaftseinheiten aus der übrigen Welt bezogen wurden.

Das Primäreinkommen ist Bestandteil damit der Leistungsbilanz und erfasst in erster Linie grenzüberschreitend gezahlte Arbeitsentgelte sowie grenzüberschreitend erwirtschaftete Einkommen aus Vermögensanlagen, wie zum Beispiel Zins- und Dividendenzahlungen und ist damit besser geeignet, den modernen Anforderung an eine Wirtschaftsbilanz zu genügen; der Hinweis von Sinn auf das Nationaleinkommen ist daher generell richtig und man fragt sich natürlich, warum Kollegen des Fachs wie Kullas und Gasparotti in ihrer Studie so weit hinter den Stand des volkswirtschaftlichen Diskurses zurückfallen. Ob die Studie – wie so viele heute – bezahlt worden ist und die Interessen des Geldgebers vertritt, oder gebraucht wird, „denn sie ist Wasser auf die Mühlen derer, die nun eine fiskalische Umverteilung im Euro-System fordern, um den vermeintlichen Euro-Profiteur Deutschland zur Kasse zu bitten“; wir wissen es nicht; umso schlimmer.

Eine Antwort auf unsere Frage bzw. die, die sich der Volksmund stellt: Ist Deutschland ein Verlierer oder ein Gewinner im Euro, hat sich nicht beantwortet. Die einen sagen so, die anderen so. Was auffällt aber ist, wie wenig Gemeinsamkeit im Fachwissen der Ökonomik über diese Frage herrscht. Als Wissenschaft bietet sie tendenziöses Verhalten; das ist bedenklich. Eine Antwort auf diese Frage aber wäre zumindest im Kern eindeutig eine außerordentlich wichtige Angelegenheit, denn an dieser Frage kann der Euro und damit auch die EU zerbrechen. Denn sie stellt sich so in jedem der siebenundzwanzig Länder, wenn wir davon ausgehen, dass nur Großbritannien – oder England – aus der EU bald austreten wird; übrigens, an eben dieser Frage gemessen. Eine Mehrheit der Briten hat dafür votiert, dass ihr Land mehr Nachteile von der EU hat, als Vorteile; man sieht, die Antwort auf die Frage ist zu wichtig, um sie den Stammtischen zu überlassen.
Ihre Brisanz ist im Jahr 2019 um nichts geringer, als in den Jahren seit der Volksabstimmung in GB. Sie ist eine politische Frage, die sich aber auf der Basis wirtschaftlicher Fakten erhebt, daher ist diesen ein hohes Augenmerk zu widmen. Ist also der Euro ein wirtschaftlicher Vorteil oder ein wirtschaftlicher Nachteil für die Bürger der Euro-Staaten? Die Frage Vor- oder Nachteil ist damit eingegrenzt auf die Staaten innerhalb des europäischen Währungsraums. Mit dem Brexit wird diese Frage jenseits der Gemeinschaftswährung sensibilisiert, da Großbritannien ja kein Mitglied im Euro war, sondern die EU verlassen hat.
Wenn wir also weiterhin vom europäischen Modell sprechen, dann gilt der europäische Währungsraum als Modellgrundlage. Das ganze Modell geht aber über den Euro hinaus; das haben wir bereits mehr als angedeutet.

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HaftungsgemeinschaftPro-Kopf-WachstumBruttoinlandsprodukt zu Marktpreisen (nominales BIP)WohlstandsmaßNationaleinkommen


1 H.-W. Sinn: Falsche Vergleiche, Handelsblatt Ausg. 042 vom 28.02.2019 PDF
2 CIA The World Factbook.

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