Das Menetekel der Politischen Ökonomie

Schauen wir auf das Jahr 1997, das Jahr der sog. Asienkrise. Sie zeigte beispielhaft deutlich, dass Leistungsbilanzdefizite in den Schwellen- und Entwicklungsländern, die sich über einen längeren Zeitraum akkumuliert haben, stets zu heftigen Währungskrisen führten und die dann in der Folge mit den notwendigen Wechselkursanpassungen in anhaltende Finanzkrisen mit schweren Rezessionen und drastischen Arbeitsplatzverlusten mündeten. Das war fast wie ein ehernes Gesetz, dass Staaten, die ihre Kapitalimporte aus privaten Quellen überstrapazierten am Ende auch mit der Auflage von High Yields einem Absturz ihrer Währungen und Kapitalmärkte nicht verhindern konnten.

Für die USA gilt dazu im Vergleich, dass sie sich in eigener Währung verschulden können, da der Dollar als Weltreservewährung anerkannt ist, viele Rohstoffe und auch viele Zwischenerzeugnisse in Dollar gehandelt werden, teils müssen, was den US-Dollar sehr liquide macht und damit fast ausfallsicher; aber eben nur fast. Denn auch für den Dollar als Währung gilt, dass, wie gesagt, auch für seine Stabilität ein anhaltend stetiger Zufluss von Fremdkapital notwendig ist. Wenn die weltweit operierenden, großen Finanzinvestoren sowie die Notenbanken der Überschussländer, die ja zugleich meist zu den größten Kapitalexporteure zählen, entscheiden würden, Finanzanlagen zulasten des US-Dollars und zugunsten anderer wichtiger Währungen wie etwa der des Euro oder vielleicht des CNY umzuschichten, könnten auch die USA spürbare Erschütterungen der Wechselkurse ereilen.

Wir haben an anderen Stellen den Zusammenhang von lang- und kurzfristigen Zinsen bereits diskutiert. Im Idealfall finanziert eine Volkswirtschaft mit den Renditen aus kurzfristig finanzierten Investitionen in Staat und Realwirtschaft ihre langfristigen Verpflichtungen bzw. Verbindlichkeiten. Dabei ist zu beachten, dass bei den langfristigen Verbindlichkeiten wie etwa Gehälter von Staatsbeamten, Renten etc. eine regelmäßige Umwandlung der Renditen in Barauszahlungen möglich sein muss, da Gehälter von Beamten und Renten etc. ja kurzfristig und kontinuierlich anfallen. Dies im Hinterkopf wirft ein neues, stärkeres Licht auf die Art und Weise, wie die Marktwirtschaft als Ganze und die einzelnen Märkte im Besonderen die sich ausprägenden Ungleichgewichten korrigieren können. Und diese Korrekturmechanismen sind durch die geld- und wirtschaftspolitischen Interventionen der Politischen Ökonomie teilweise hochgradig unsicher, instabil geworden und haben teilweise bereits negative Vorzeichen bekommen.

Bislang galt als unumstößlich eine der fundamentalen Regeln der Marktwirtschaft: Wer sich Geld leiht, muss es vollständig zurückzahlen, inklusive Zins- und Zinseszinsen. Heute sehen wir einen Markt mit einem Negativ-Zins, der immer mehr Investoren dazu bringt, Geld dafür zu bezahlen, damit sie Staaten und Unternehmen Geld leihen dürfen; welch eine Umformung! Es gibt daher immer mehr Staaten, die sogar dafür bezahlt werden, wenn sie sich verschulden, allen voran Deutschland. Zählen wir Anfang 2019 die Anleihen zusammen, die eine negative Rendite abwerfen, für deren Kauf man als Investor am Ende also draufzahlt, dann summieren die sich auf beachtliche 11 Billionen US-Dollar. Und die Tendenz ist steigend.

Was kaum jemand bislang bedacht, nicht einmal bemerkt zu haben scheint, ist, dass der Eurozone hier eine gewisse Vorreiterrolle zukommt. Knapp drei Viertel aller laufenden Staatsanleihen werfen negative Erträge ab und dabei sind nicht nur deutsche und niederländische Anleihen. Selbst ehemalige und aktuelle Krisenländer wie Spanien oder Portugal müssen auf Bonds mit bis zu dreijähriger Laufzeit keine Zinsen zahlen und hätte Matteo Salvini sich in seiner Unbedachtheit nicht zu Äußerungen zu einem möglichen Bruch Italiens mit den Defizitregeln der Europäischen Union hinreißen lassen, hätten wohl auch die italienischen Bonds kaum zu den aktuellen Anleiherenditen gefunden. Was Salvini mit seiner Äußerung angestellt hat, wie ein kleines Kind aus Wut und Trotz, ließ die Investoren sofort die Finger von den italienischen Bonds zurückziehen und zu zehnjährigen deutschen Bundesanleihen greifen, deren Rendite bei aktuell minus 0,11 Prozent und somit auf dem tiefsten Stand seit 2016 liegt.

Die Freude des deutschen wie auch der anderen begüterten Finanzminister lässt sich kaum überhören, weniger gesagt wird aber zu den erheblichen Risiken, die sich hinter diesem Geldsegen bei Staatsverschuldungen verbergen. So gibt es nominal vor Abzug der Inflation für Anleger in Bonds keine risikominimierten Zinserträge mehr; völlig risikolos wie damals vor der griechischen Staatspleite können Bonds heute nicht mehr sein. Real ist die Situation nicht besser, sie ist erheblich schlechter. In dieser Zeit der Niedrigzinsphase sind die Zinsausstattungen auf den Kapitalmärkten so schlecht, dass selbst die Erträge langlaufender Unternehmensanleihen von der Inflation aufgezehrt werden.

Wenn man also Investoren- und Anlegerverhalten beobachtet, stellt man fest, dass beide vermehrt in riskantere Allokationen wechseln, zu Aktien, Immobilien und Hochzinsanleihen greifen, die auf den Märkten immer neue und höhere Bewertungen erreichen. Und da es so „billig“ ist, sich zu verschulden oder auch auf Kredit eigene Unternehmensanleihen aufzukaufen, steigt nicht nur die Verschuldung der Staaten, sondern auch die Verschuldung der Unternehmen sichtbar an. Das bedeutet, dass, geht dieser Prozess so weiter, hält also die Niedrigzinsphase weiter an, steigen auch die Risken auf den Finanz- und Kapitalmärkten.
So warnt denn auch Tilman Galler, Executive Director bei J.P. Morgen im Wallstreet Online: „Es besteht die Gefahr, dass sich massive Unwuchten aufbauen. Die Zentralbanken sind schon jetzt kaum mehr in der Lage, eine Zinswende einzuläuten, ohne eine schwere deflationäre Kreditkrise auszulösen.“ Besonders kritisch, führt Galler weiter aus, werde es zudem, wenn sich das Zinsumfeld plötzlich stark ändern sollte: „Dann wird niemand mehr bereit sein, negativ rentierende Anleihen zu halten. Das kann zu sehr starken Umschichtungen führen“.

Allein das Verhalten der wichtigsten, wirtschaftspolitischen Akteure, die Regierungen und Zentralbanken der USA, Japans, Chinas sowie der Ölförderländer und der Eurozone, orientiert sich mittlerweile allein bzw. vorrangig an nationalen Interessen. Keine dieser Regierungen nimmt mehr in der Durchführung ihrer politisch-ökonomischen Interessen eine Verantwortung für eine konsistente, wachstums- und entwicklungsorientierte globale Währungs- und Finanzordnung wahr, und die bestehenden, supranationalen Institutionen, die dies übernehmen könnten, sind entweder nur rudimentär vorhanden bzw. zu schwach, um aus der Sicht der sich verändernden Weltwirtschaft diese Aufgaben zu übernehmen, oder sind der Politik einzelner Länder schlichtweg untergeordnet.

Kapitalmarkt-Experten müssen sich mehr und mehr daran gewöhnen, dass steigende Zinsen bei den Notenbanken nicht vorgesehen sind und deshalb die Anleihenrenditen auch weiterhin eher fallen als steigen dürften. März 2019 hat die Fed ihren angekündigten Zinserhöhungszyklus auf massivstes Bedrängen von Donald T. ausgesetzt und so zog denn auch EZB-Chef Mario Draghi fröhlich gleich. Auch 2020 wird es keine Zinserhöhung in Frankfurt geben.

Fed und EZB haben also durch die Blume gesprochen einer Zinserhöhung abgesagt. Das bewegt die Märkte. Die Nachfrage nach Bonds ist weiterhin sehr hoch. Und mit der Nervosität der Anleger aufgrund instabiler Märkte findet immer mehr Geld deutsche Staatsanleihen, zumal viele der wichtigen, institutionellen Anleger, wie etwa Versicherungen und Pensionskassen, strikten, auf Werterhalt ausgelegte Anlagerichtlinien folgen müssen. D. h., sie dürfen schlichtweg keine Aktien oder gar High Yields, Hochzinsanleihen, über einen niedrigen Sockel hinaus in ihre Depots aufnehmen und sind daher gezwungen, negativ rentierende Staatsanleihen zu kaufen. Auch wenn dies gelegentlich anders kolportiert wird, ein Wechsel auf US-Staatsbonds ist für Euro-Anleger im Moment noch keine echte Option. Zwar werfen Treasuries derzeit rund 2,5 Prozent Zinsen ab. Doch die mit dem Kauf notwendig verbundene Risikoabsicherung gegen Schwankungen des US-Dollarkurses bringt die Absicherungskosten auf ein Niveau, welches die derzeitigen Renditevorteile von US-Papieren vollständig aufheben.

Es kommt deshalb auf den Kapitalmärkten außerhalb der Bondsmärkte zu deutlichen Risikoverschiebungen nach oben. Immer mehr Geld findet Wege in illiquidere Anlagesegmente wie etwa Kredit- oder Infrastrukturfonds und mit jeder neuen Unsicherheit für die Konjunktur der Eurozone, bleibt die Gefahr der Niedrigzinspolitik bestehen und können weitere Anleihen unter die Null-Zins-Linie geraten. Hinzu kommt, dass ein negativer Zinssatz vor allem bei risikoarmen Anleihen zu fallenden Renditen und so zu steigenden Kursen im Markt führt und ein weiterer Wechsel zu Immobilen und Aktien immer wahrscheinlicher werden lässt. Aktienpriese und Immobilienpreise steigen steil an und diese Anstiege haben Dimensionen von Preisblasen im Markt erreicht, die auch platzen können.

Gepusht von Trumps Harakiri-Fiskalpolitik haben die Abermilliarden von zusätzlicher Liquidität den Markt der Unternehmensanleihen völlig durcheinandergebracht. Anleihen mit einem Volumen von mehr als 750 Milliarden Dollar werfen im Unternehmens-Segment negative Renditen ab. Das verleitet Unternehmensführungen zu vermehrter Risikobereitschaft. Das Geld ist also da, aber wohin damit? Wie immer in einer Spätphase eines Konjunkturzyklus‘ fließen solche Gelder nicht mehr in Investitionen, sondern werden für riskante Übernahmen verwendet, wie wir sie vor allem in der fast wahnsinnig gewordenen IT- und AI-Branche tagtäglich erleben, oder es wird für Aktienrückkaufprogramme ausgegeben, auch das haben wir 2018 erlebt und wird auch in 2019 noch anhalten.

Man erkennt, dass Marktbewegungen allein noch keine empirische Basis für Urteile und Einschätzungen abgeben. Denn gleichwohl sich die Märkte für Unternehmens- und Staatsanleihen dem Volumen nach deutlich verändert haben, haben sich zugleich aber auch die Risikobereitschaft erhöht und die Kreditqualität verschlechtert. In conclusio bedeutet das, Staat und Unternehmen nutzen die Niedrigzinsphase, um sich langfristiger zu verschulden. Die Investoren, die sich in neuen Staats- und Unternehmensanleihen engagieren, müssen mit deutlich gesunkenen Zinskupons leben, was nicht leichtfällt. Und das Menetekel eines hoch riskanten Strukturwandels im Anleihenmarkt wird immer deutlicher sichtbarer.

Mit dieser langanhaltenden Niedrigzinsphase steigt die Duration der weltweit wichtigsten Anleiheindizes. Die Duration ist eine Kennziffer, die besonders bei den Fondsmanagern ein wichtiges Instrument ist, die sich in der Zusammensetzung ihre Portfolios ganz besonders stark von Anleihen leiten lassen. Ist die Duration hoch, dann heißt das, dass auch der Zeitraum länger wird, bis ein Fondsmanager sein investiertes Geld mit Zinszählungen zurückerhält. Je länger also dieser Zeitraum, die Duration, ist und je kleiner der Kuponzins ist, desto größere Auswirkungen haben Zinsänderungen. Zinsänderungen können schnell und auch kräftig eintreten und bereits bei einer Zinserhöhung um 1 Prozent und einer Laufzeit eines Anleiheportfolios von fünf Jahren verringert den Wert des Portfolios um fünf Prozent, was eine Menge Geldverlust bedeuten kann. Die steigende Duration der Anleiheindizes hat daher die unschöne Wirkung, dass im Falle einer Zinswende in der Notenbankpolitik, also bei steigenden Zinsen der Ausverkauf am Bondmarkt recht kräftig ausfallen kann.

Diese Negativwirkungen kennen natürlich die Notenbankchefs und werden wie in der Vergangenheit zu konzertierten Absprachen und Zinsentscheidungen kommen, kommen müssen. Denn das Geist nun einmal aus der Flasche ist und ihn niemand mehr wieder zurück in die Flasche bekommt, ist er nur noch von allen gemeinsam zu beherrschen, vorübergehend. Die Telefondrähte jedenfalls glühten seit der internationalen Finanzkrise 2007/08, der Eurokrise seit 2011 und immer wieder vor Zinsentscheidungen der Fed und der EZB.

Was die Regierungen bei den Notenbankchefs in Auftrag gegeben hatten, ließ und lässt sich noch so gerade halbwegs überzeugend als Maßnahmen zur Unterstützung der Finanzmärkte begründen. Weder brauche die Finanzmärkte diese Art unterstützender Eingriffe noch darf man heute noch der Meinung sein, solche geld- und finanzpolitischen Eingriffe, wie wir sie nun seit mehr als zehn Jahren erleben durften, würden folgenlos bleiben. Selbst wenn der Anfang der expansiven Geldpolitik unter dem Kürzel QE in den Vereinigten Staaten von Amerika so in der heute sichtbaren Konsequenz nicht beabsichtigt war, spätestens mit der EZB Politik war der Geist der Politischen Ökonomie nicht mehr in der Flasche. Aus vielleicht als Unterstützungsmaßnahmen im Sinne Keynes gemeinten Eingriffen in die Unabhängigkeit der Notenbanken und über diese in die Finanzmärkte, wurden von den Regierungen in den USA und in Europa massivste Verwerfungen auf diesen Märkten ausgelöst. Und mit dem Eintritt Chinas in die global vernetzten Wirtschaftsstrukturen wurden die Verwerfungen noch größer und der Wettbewerb der Staaten untereinander härter und unerbittlicher.

Nun kann keine Regierung mehr aus der Zinsfalle heraustreten, Zinsanhebungen selbst nur beabsichtigt und als Absicht öffentlich erklärte, lösen heute sofort derart drastische Bewegungen an den Finanzmärkten aus, dass keine Regierung solche Gedanken allein auch nur öffentlich anstellen dürfte. Die Notenbanken können nicht mehr tun, was zu tun wäre und verharren in Schockstarre vor den Folgen ihrer Regierungspolitik.

Selbst Krisen wie die derzeitige Handelskrise zwischen China und den USA, die sich natürlich aufgrund der globalen Vernetzung wichtiger Wirtschaftsbereiche auch in die globalen Fertigungs- und Finanzmärkte ausweitet, werfen ihre Schatten über die Politische Ökonomie. Würde sich, was wahrscheinlich ist, am Ende ein ‚coup de raison‘ ergeben und China und die USA sich einig werden, wird sich als eine Folge die globale Güternachfrage erhöhen und so gerade jene Volkswirtschaften wiederum überproportional davon profitieren lassen, die stark exportorientiert produzieren.

Und wieder wird das Rad der asymmetrischen Leistungsbilanzen sich eine Runde weiterdrehen. Wir erleben es gerade, wie der Einkaufsmanager-Index steigt, der in China wie in Europa. Die Aktienmärkte freut das ebenso wie die Segmente der Finanzwelt, in denen riskantere Anleihen gehandelt werden. Wie lange neben Aktien auch Anleihen wie Pfandbriefe und Unternehmensanleihen weiter rentieren, weiß niemand, aber wie wahrscheinlich ist es, anzunehmen, dass Deutschland, Japan, andere exportstarke Nationen Regierungen bekommen, die ihre Leistungsbilanzüberschüsse nicht in negativ rentierende Staatsschulden umwandeln? Warum sollte die EZB in einer Phase konjunkturelle Erholung einiger Euro-Staaten den Euro verteuern und so die Erholung gleich wieder abwürgen?

Es wird wohl zur Gewohnheit, bis zum nächsten Crash mit einem Anstieg von Finanzrisiken zu leben. Zur Gewohnheit, dass riskante Anlagesegmente innerhalb einer langanhaltenden Phase von Niedrigzinsen sich ausweiten, und es wird Gewohnheit bleiben, die Staatsschulden einfach wie ein Naturereignis zu betrachten und zu akzeptieren, wenn doch mit diesen Schulden ein einträgliches Geschäft zudem noch zu machen ist. Die durch die ständigen Eingriffe der Politischen Ökonomie erzeugte, verkehrte Finanzwelt, in der Schuldner weniger zurückzahlen müssen, als sie sich geliehen haben, dürfte also noch länger Realität bleiben, als uns lieb ist. Den Krieg der Sterne bezahlen alle.

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