Das OMT-Programm der EZB steht zuerst einmal für die hochtalentierte Sprachneuordnung innerhalb der Eurozone, mit der fiskalpolitische Maßnahmen und Mechanismen bzw. Instrumente als legitime Geldpolitik der EZB ausgegeben werden. Das klingt technisch und wenig grundsätzlich relevant, aber das zu meinen, wäre ein Irrtum. Hinter der Bezeichnung OMT vollzieht sich ein Umbau der Eurozone in eine Quasi-Gemeinschaft bürgerlichen Rechts, in der alle Bürger der Eurozone für die fiskalpolitischen Entscheidungen einzelner Staaten der Eurozone haften. Dieser Gesellschaftstransfer von autonomen Staaten zu einer Haftungsgemeinschaft ist durch keine demokratisch legitimierte Institution gestützt, sondern wird unter dem geldpolitischen Mandat der EZB an den Bürgern der Eurozone vorbei so weit faktisch, bis dann wahrscheinlich unter der Not des Faktischen die politische Legitimität nachgereicht werden wird; wie, das wissen wir natürlich noch nicht. Bei dem OMT-Programm haben wir es also mit bei weitem mehr, als mit reinen, geldpolitischen Transaktionen zu tun.
Die OMT-Programme wurden notwendig, weil die Eurozone in ihrer Bankenstruktur vor dem Dilemma stand, Volkswirtschaften und mithin Staaten zu unterstützen, deren Schuldentragfähigkeit nicht mehr als ausreichend gegeben war und die das gesamten Bankensystem in Europa so sehr in Misskredit zu bringen in der Lage waren, dass eine direkte Gefährdung der Eurozone und der europäischen Wirtschaftsunion die Folge gewesen wäre, hätte die EZB nicht begonnen, eine indirekte Schuldentransferunion zu etablieren; indirekt deshalb, weil es nach den Maastricht- und Lissabon Verträgen nicht erlaubt ist, auf direktem Wege verschuldetet Staaten zu finanzieren. Die Staatenfinanzierung nimmt also einen Umweg und kauft Staatsanleihen auf dem Sekundärmarkt, also nicht direkt von den verschuldeten Staaten, sondern aus dem Besitz von Zwischenhändlern, deren Sitz in einem Staat der EU liegt, der nicht zum Eurosystem gehört. Das OMT-Programm aus dem Jahr 2012 hat neben dem EFSF und den LTRO-Programmen sicherlich seinen Dienst erwiesen. Es hat die Finanzmärkte und somit die Investoren beruhigt. Aber was war der Preis? Warum haben ESM, EFSF und LTRO nicht die gleichen Wirkungen allein erzielt?
Der Unterschied ist einfach wie weitragend. OMT ist von EFSF und ESM darin unterschieden, dass es keiner parlamentarischen Verfahren braucht, um es umzusetzen und OMT hat eine wesentlich höhere Haftungsgrenze, die bei 3.5 Billionen Euro gegenüber der Haftungsgrenze im Eigenkapital des ESM bei etwa 705 Mrd. Euro liegt1. Es ist damit im Kern ein Programm wie der permanente Rettungsschirm ESM und sein vorlaufender, temporärer Bruder, EFSF, der auch finanzielle Beiträge des IWF umfasst und eine privatrechtliche Kapitalgesellschaft nach luxemburgischem Recht ist. Das OMT ist keine privatrechtliche Einrichtung, sondern ein Instrument der EZB, welches vorbehaltlos als geldpolitisches Instrument in Richtung der Finanzmärkte angekündigt wurde. Zum Stand September 2018 hat noch kein einziger Staat der Eurozone ein OMT-Programm in Anspruch genommen. Seine Wirkung hat das OMT also bereits in seiner Ankündigung.
Seine Wirkung bzw. seine Zielsetzung besteht darin, die geldpolitische Transmission der Leitzinsänderungen der EZB in die Mitgliedsstaaten und damit die Einheitlichkeit der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank sicherzustellen. Die Sichtweise der EZB kann somit dadurch erklärt werden, dass die Bank die Schwierigkeiten im Transmissionsmechanismus im Zusammenhang mit übersteigerten Risikobewertungen von Investoren in Bezug auf Wertpapiere einzelnen Länder der Eurozone erklärt. Diese Länder sind aber ausnahmslos jene Länder, deren Schuldentragfähigkeit nicht oder nicht ohne EZB-Intervention gegeben ist, also nach Marktgesichtspunkten gegenüber anderen Eurozonen-Staaten ein wesentlich höheres Risiko darstellen und somit die deren Ausgabe von Staatstitel bzw. Anleihen auch andere Zinssätze nach sich ziehen.
Man erkennt das EZB Dilemma, das darin liegt, dass die Bank ihre Leitzinssätze verändert, diese Veränderung aber nicht den gewünschten Effekt bei eben jenen Ländern hat, die davon profitieren sollen; andere Länder profitieren dagegen durchaus und über die Maßen positiv von den Zinsänderungen.
Schlicht gesagt: die EZB will helfen, aber die Anleger weigern sich; warum? Ganz einfach, die Anleger sehen das Ausfallrisiko, sprich den drohenden Staatsbankrott. Das sieht auch die EZB und muss dagegen angehen. Lässt sie es auf ein Staatsinsolvenzverfahren auch in einer geordneten Weise ankommen, sind die Nachteile und Risiken voll auf der Seite der Anleger, es kommt zu einer höchst problematischen Umverteilung einseitig zu Lasten der Gläubiger; das hat kein Gläubiger gerne und muss ein solches Risiko auch nicht eingehen.
Geht man noch einen kleinen Schritt weiter in der grundsätzlichen Bewertung des Dilemmas, dann kommt zu der Abwägung, was das Mandat der EZB umfasst, nämlich eine Geld-, sprich Zinspolitik zu unterhalten, die die Einheitlichkeit der Eurozone als ihr Hauptziel formuliert. Einheitlichkeit, oder wie dies auch in der politischen Doktrin der Bundesregierung seit jeher in einem föderalen Gebilde gilt, will unter politischer Gerechtigkeit gleichwertige Lebensverhältnisse innerhalb der Regionen einer Gemeinschaft herstellen. Das geht auch nicht anders und ist als das große politische Ziel nicht einschränkbar, selbst wenn die Welt der Tatsachen stets aufzeigt, dass Ungleichheit in den Regionen nie ganz verschwinden wird.
So interpretiert die EZB ihr Mandat. Aber ist die Umsetzung dieses Gebots der Einheit mit geldpolitischen Maßnahmen nicht eine fiskalpolitische Angelegenheit. Eine rein politische und keine rein geldpolitische Angelegenheit? Darum geht der Streit in der Sache. Und dieser Streit wird natürlich vor Gerichten ausgetragen. Nur ist es so, dass Gerichte lediglich politisch post festum entscheiden können. In einer Angelegenheit wie dieser, für die es noch keine ausformulierte und in der Praxis der Rechtsprechung bewährte Rechtslage gibt, einer Angelegenheit der politischen Transformation also, fällt es natürlich schwer, Recht zu sprechen. Das EZB Dilemma verlagert sich somit auf die Ebene des Rechts.
Auf der Ebene des Rechts hat sich mittlerweile das Dilemma juristisch gelöst; vordergründig. Es hilft daher einiges, sich das Dilemma und dessen juristisch – vorläufigen – Ausgang noch einmal zu vergegenwärtigen; und wir sind uns bewusst, was wir mit dem Wort „vorläufig“ ansprechen, nämliche eine Diskussion über das Urteil der obersten Rechtsinstanz in Europa, dem EuGH. Keine Geringeren als die Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) kommen in einer ausführlichen Begründung zu den folgenden Beschlüssen2:
„1. Überschreitung des Mandats der Europäischen Zentralbank. Nach diesen Grundsätzen dürfte der OMT-Beschluss nicht vom Mandat der Europäischen Zentralbank gedeckt sein.“
Demnach handelt die EZB mit der Auflage und der Umsetzung des OMT-Programms „ultra-vires“ , also außerhalb ihrer Kompetenzen, ihres Mandats.
„Nach Auffassung der Europäischen Zentralbank beruhen diese Zinsaufschläge teilweise auf einer – als irrational bezeichneten – Furcht der Anleger vor einer Reversibilität des Euro. Nach der überzeugenden Expertise der Bundesbank spiegeln solche Zinsaufschläge allerdings nur die Skepsis der Marktteilnehmer wider, dass einzelne Mitgliedstaaten eine hinreichende Haushaltsdisziplin einhalten können, um dauerhaft zahlungsfähig zu bleiben.“
Unter Berufung auf die Deutsche Bundesbank wird hier in der Urteilsbegründung die bestehende Auffassung bestätigt, dass die EZB nur sehr enge währungspolitische Kompetenzen hat und Zinsen sich „nicht in einen rationalen und einen irrationalen Teil trennen“ lassen. Einen rationalen, der letztlich das Verbot der Monetarisierung von Schulden, was bedeutet, dass Schuldtitel der Regierungen von der Zentralbank mit geschöpftem Geld aufgekauft werden, betrifft und darauf abzielt, „die auf Marktanreize setzende Eigenverantwortlichkeit der nationalen Haushalte außer Kraft zu setzen.“
Das BVerfG kommt in dieser Passage eingehend darauf zurück, dass die Berufung der EZB „mit dem OMT-Beschluss die aktuelle Zusammensetzung des Euro-Währungsgebietes sicherzustellen“, also die Einheitlichkeit des Währungsraumes zu gewährleisten, keine währungspolitische, sondern eine politische bzw. fiskalpolitische Angelegenheit ist. Und damit unterliegen alle diesbezüglichen Beschlüsse bzw. Programme der Entscheidungskompetenzen „dem Rat, dem Europäischen Parlament, der Kommission und den Mitgliedstaaten; der Europäischen Zentralbank kommt insoweit lediglich ein Anhörungsrecht bei Entscheidungen über die Aufhebung der Ausnahmeregelungen […], also für den Beitritt eines weiteren Mitgliedstaats zum Euro-Währungsgebiet […], zu.“
Die Richterinnen und Richter in ihrer Eigenschaft als Verfassungsrichter sind natürlich dem Grundgesetz (GG) verpflichtet und betonen an dieser Stelle auch mit ausführlicher Nachdrücklichkeit, dass nationales Grundrecht (GG) vor Unionsrecht – hier in Gestalt des OMT-Beschlusses des EZB-Rats – geht. Insofern mit dem OMT-Programm nach Auffassung der Richter die deute Verfassung tangiert ist, müsste eine Ausweitung bzw. eine Zustimmung zum OMT – paradigmatisch – durch eine Verfassungsänderung legitimiert werden. Wir wissen, dass die Politik in dem Dilemma steckt, dass weder im Parlament noch durch ein Bürgervotum diese Mehrheit zu beschaffen wäre und wir so etwas wie den Brexit strukturell ähnlich hätten, würde dieser Sachverhalt öffentlich verhandelt und einem demokratischen Verfahren zugeführt; mindestens eine Spaltung Deutschland in dieser Frage wäre die Folge, sicherlich aber noch viel mehr als das.
„2. Verstoß gegen das Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung.“</em> Der Monetarisierung von Staatsschulden wird eine klare Absage erteilt und in der Urteilsbegründung auch einer damit beabsichtigten Zielsetzung, die nur mittelbar und nicht unmittelbar eine Monetarisierung von Schulden anstrebt. Dieses „Umgehungsverbot“, das letztlich „im Gebot der praktischen Wirksamkeit („effet utile“)“ (Rn 85) wurzelt, wird ein besonderes Augenmerk gewidmet, erkennt das BVerfG doch sehr genau die Spitzfindigkeit, die das OMT-Programm mit der Unterscheidung zwischen Anleihenkäufe auf dem Sekundärmarkt gegenüber Offenmarktgeschäften formuliert hat.
„Es liegt daher auf der Hand, dass dies auch für die Auslegung von Art. 123 AEUV gelten muss und das Verbot des Erwerbs von Staatsanleihen unmittelbar von den emittierenden Mitgliedstaaten nicht durch funktional äquivalente Maßnahmen umgangen werden darf.“
Damit ist auch eine indirekte Staatenfinanzierung unrechtmäßig, da nicht vom GG legitimiert. Das Gericht führt detailliert aus, dass in der Praxis eine „Neutralisierung von Zinsaufschlägen“, ein selbst teilweiser „Verzicht auf in Staatsanleihen verbriefte Forderungen gegen einzelne Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebietes“, die Selbstermächtigung einer Institution „vermeidbare Verlustrisiken in erheblichem Umfang einzugehen“ und letztlich sogar eine Marktmanipulation zu betreiben, die darin besteht, dass mit dem Halten von Staatsanleihen bis zur Endfälligkeit ein „substantieller Teil der von einzelnen Mitgliedstaaten begebenen Staatsanleihen dauerhaft vom Markt genommen wird“ und damit „das Eurosystem nicht nur eine unbeeinflusste Kursermittlung verhindern“ würde, also unzulässig in den Markt eingreift, was jede privatwirtschaftliche Institution versuchen dürfte, nicht aber eine Institution im öffentlichen Auftrag. „Für eine Umgehung des Verbotes der monetären Haushaltsfinanzierung spricht ferner, dass es dem unmittelbaren Erwerb von Staatsanleihen gleichkommt, wenn durch das Eurosystem am Sekundärmarkt Staatsanleihen in erheblichem Umfang und in geringem, zeitlichem Abstand zur Emission erworben werden (Marktpreisbildung).“ (Rn 92).
Man ist beeindruckt von der wirtschaftspolitischen Kompetenz des Gerichts neben seiner unzweifelhaften, juristischen Sachkunde. Neben der „ultra-vires Beurteilung, die letztlich der EZB generell Programme der Monetarisierung von Schulden selbst auf indirektem Weg als juristisch legitim abspricht, sowie jeder Form einer Begründung, dies zu tun mit Hinweis auf die Einheit der Währung im Euroraum, spricht das BVerfG sogar
3. [von der] Irrelevanz der Berufung auf eine „Störung des geldpolitischen Transmissionsmechanismus.“. Damit gerät die Urteilsbegründung zu einer Generalabrechnung der Beschlüsse des EZB Rates, in dem immerhin die Vertreter europäischer Regierungen beschließen.
„Die von der Europäischen Zentralbank zur Rechtfertigung des OMT-Beschlusses angeführte Zielsetzung, eine Störung des geldpolitischen Transmissionsmechanismus zu beheben, vermag nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts weder an der oben dargelegten Überschreitung des Mandats der Europäischen Zentralbank noch an dem Verstoß gegen das Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung etwas zu ändern.“ (Rn 95)
Das Verfassungsgericht moniert zurecht den Zirkelschluss in der EZB Argumentation mit dem Hinweis, das „in praktisch jeder Schuldenkrise eines Staates eine erhebliche Verschlechterung des geldpolitischen Transmissionsmechanismus zu erwarten (ist)“ und verweist ebenso zurecht daraus, dass in einer Marktwirtschaft Zinsaufschläge niemals „irrational“ sein können, es sei denn man unterstellt dem Markt eine geringere Intelligenz als einer Marktmanipulation. Wäre die EZB also eine Instanz höherer Intelligenz könnte sie sich auch immer darauf berufen, „jede Verschlechterung der Bonität eines Euro-Mitgliedstaates durch den Kauf von Staatsanleihen dieses Staates beheben zu dürfen“. Damit wäre aber zugleich auch die Außerkraftsetzung des Verbotes monetärer Haushaltsfinanzierung ein Akt höherer Intelligenz; in der Beziehung zwischen Gläubiger und Schuldner wäre damit die EZB als „lender of last resort“ bedingungslos anerkannt.
„4. Möglichkeit einer unionsrechtskonformen Auslegung.“ In diesem Punkt räumt das Verfassungsgericht der EZB einen gewissen Spielraum bei der Interpretation ihres Mandats ein, indem es zur Konditionalität ihrer Beschlüsse macht, wenn diese „die Wirtschaftspolitik in der Union nur unterstützenden Charakter“ (haben). In diesem Punkt 4. öffnen das BVerfG ein Fenster zwischen Wirtschafts- und Währungs- bzw. Geldpolitik sehr weit und interpretiert juristisch seine Entscheidung abschließend damit, dass, wenn folgende Kriterien vorliegen: begrenztes Volumen eines möglichen Ankaufs von Staatsanleihen; keine Beteiligung an einem Schuldenschnitt; Einhaltung von zeitlichen Abständen zwischen der Emission einer Staatsanleihe und ihrem Ankauf; kein Halten der Anleihen bis zur Fälligkeit „ eine „unionsrechtskonforme Auslegung auch mit Sinn und Zweck des OMT-Beschlusses noch vereinbar sein dürfte“.
Man ist, gelinde gesagt, ein wenig irritiert, ist doch im Punkt 4. die mehr als deutliche Argumentation, dass bei dem OTP-Programm aus sachlicher Sicht eben jene Einschränkungen nicht vorliegen, in Gänze zurückgenommen. Ein Gericht im Rang eines Verfassungsorgan muss schon in einem erheblichen Dilemma stecken, um so zu sprechen. Und dem ist auch so. Wir können nur vermuten, dass bereits im Jahr 2014 im Rahmen des Vorabentscheidungsersuchen gegen die Bundesregierung beim EuGH vom 14.Januar 2014 das BVerfG vermuten musste, dass der EuGH ein Jahr später, am 16. Juni 20153, dem Urteil des BVerfG widersprechen würde und das OMT-Programm für Rechtens befindet.
Ganz generell urteilt der EuGH, dass der OMT-Beschluss nicht gegen das geld- und währungspolitische Mandat der Europäischen Zentralbank oder gegen das Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung verstößt und daher kein Ultra-vires-Akt im Sinne der Honeywell-Entscheidung vorliegt4. (Aus diesen Gründen) „hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
Art. 119 AEUV, Art. 123 Abs. 1 AEUV und Art. 127 Abs. 1 und 2 AEUV sowie die Art. 17 bis 24 des Protokolls (Nr. 4) über die Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank sind dahin auszulegen, dass sie das Europäische System der Zentralbanken (ESZB) dazu ermächtigen, ein Programm für den Ankauf von Staatsanleihen an den Sekundärmärkten wie dasjenige zu beschließen, das in der Pressemitteilung angekündigt wurde, die im Protokoll der 340. Sitzung des Rates der Europäischen Zentralbank (EZB) am 5. und 6. September 2012 genannt ist.“
Es mag also so sein, dass das BVerfG sachlich wie juristisch ebenso im Recht ist wie der EuGH; aber wie kann das sein? Die Dramaturgie des Dilemmas besteht nämlich nicht im Beschluss und in der Ausstattung des OMT-Programms, sondern in der grundsätzlichen Frage, wie weit der Anwendungsvorrang des Unionsrechts reichen kann, wenn sich Kollisionen mit dem GG abzeichnen. Man kann dieses Dilemma auch ein wenig aus den Rechtsebenen herausnehmen, um dem Mehrebenensystem der Rechtsordnungen zu entgehen und die als eine transitorische Frage behandeln, also als eine Frage, die weder sachlich noch juristisch abschließend behandelt worden ist. Dann müssen wir uns dahingehend einlassen, dass die beteiligten europäischen Regierungen mit dem OMT-Programm Fakten schaffen, die weder in der Sache dem öffentlichen Diskurs ausgesetzt worden sind, noch juristisch in einem demokratischen Prozess beschlossen sind, falls damit Grundrechte etwa der deutschen Bürger betroffen sind.
In ihren Leitsätzen5 formulieren die Richterinnen und Richter des BVerfG letztlich gegen das Urteil des EuGH wenig juristisch beeindruckt aber in einem bedeutenden Zusatz weise wie der Richter Adam: „Der Kern des aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 und Art. 79 Abs. 3 GG folgenden „Anspruchs auf Demokratie“ steht auch in Ansehung von Maßnahmen der Europäischen Union nicht zur Disposition.“ (Rn 133)
Es geht also nicht nur um die Frage, welches Recht, das Grundgesetz oder Unionsrecht des EuGHs gilt, sondern offenbar ergänzt das BVerfG das bestehend GG um das „Recht auf Demokratie“ (Rn. 147, 166), welches sie auch in der Formulierung als „Anspruch auf Demokratie“(Rn. 133, 185) Geltung verschaffen. Somit ist die Auseinandersetzung um die beiden juristischen Interpretationen der OMT-Beschlüsse des Europäischen Rates als juristisches Dilemma von den obersten deutschen Richterinnen und Richter zurückverwiesen worden als Dilemma an die Politik; dahin also, wo es auch hingehört.
Das BVerfG sieht mit sehr klarem Blick das Dilemma, will aber den „schwarzen Peter“ in zuständigen Händen wissen. Es geht hier um Recht in einem transitorischen Sinne, insofern es um
die politische Integration der Europäischen Union und der Eurozone geht, die beabsichtigt, aber weder in der Sache noch im Recht vollzogen ist. Dabei sieht das Gericht die Gefahr einer unzulässigen Veräußerung von Bürgerrechten, die bereits in den Entscheidungen zu den Griechenlandhilfen und im ESM-Urteil höchst-richterlich ausgesprochen worden ist.6
„b) Das Bundesverfassungsgericht habe in seinem Lissabon-Urteil ein umfassendes Recht des Einzelnen auf Teilhabe an der demokratischen Legitimation der öffentlichen Gewalt – ein „Recht auf Demokratie“ – anerkannt, das sich nicht auf die Legitimation im Zusammenhang mit der Übertragung von Hoheitsrechten beschränke. Inhaltlich sei mit diesem grundrechtsgleichen Recht zwar keine umfassende Rechtmäßigkeitskontrolle der gesamten Staatstätigkeit verbunden, wohl aber eine „Demokratiekontrolle“. Dieses subjektive Recht aus Art. 38 Abs. 1 GG sei durch die angegriffenen Handlungen und Unterlassungen in mehrfacher Hinsicht verletzt.“ (Rn 43)
Der feine Unterschied zwischen der Übertragung von Hoheitsrechten im Sinne eine Rechtmäßigkeitskontrolle und eine Demokratiekontrolle kann weitreichender kaum sein, ist er doch zugleich auch die Seinsfrage der Gerichtsbarkeit der politischen Integration Europas; und die ist einfach noch nicht ausgemacht. Deutlich wird dies im gleichen Dokument (Rn 101), wo das Gericht den Konnex des Grundgesetzes mit dem allgemeinen Menschrecht und der unveräußerlichen Würde des Menschen festhält. Dies im Rahmen eines Hilfsprogramms für Griechenland notiert ist kein juristisches Leichtgewicht. Es geht eben nicht um ein Programm, eine geldpolitische Technik, ein Instrumentarium, sondern um den „letztlich in der Würde des Menschen wurzelnden Anspruch des Bürgers auf Demokratie“, der dann hinfällig wäre, wenn das Parlament Kernbestandteile politischer Selbstbestimmung aufgäbe und damit dem Bürger dauerhaft seine demokratischen Einflussmöglichkeiten entzöge.“
Was macht die EU also mit dem Recht im Rahmen der Entwicklung der Europäischen Union? Nach Auffassung des Gerichts ist der Gesetzgeber, also die deutsche Regierung beim Auftrag der Integration der EU zu einer politischen Gemeinschaft grundsätzlich „an die dauerhafte Einhaltung bestimmter verfassungsrechtlicher Strukturvorgaben gebunden (nach Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG).“ Selbst wenn die Beschlüsse der deutschen Bundesregierung mit der Mehrheit im Parlament zustande gekommen sind, entbindet das Grundgesetz das Parlament nicht von seiner Treue zur Verfassung, die über ihm steht. „Gegen eine mit Art. 79 Abs. 3 GG unvereinbare Entäußerung von Kompetenzen durch das Parlament muss sich der Bürger verfassungsgerichtlich zur Wehr setzen können.“
Das ist starker Tobak, stellt sich das BVerfG damit doch gegen den EuGH, an dessen Urteil es zwar nichts ändern kann, es aber zurück an die deutsche Politik verweist und zugleich stellt es sich gegen die Beschlüsse der deutschen Regierung, die in einer verfassungsmäßig inkorrekten „Arbeitsweise“ getroffen worden sind. Diese deutsche Regierung hat bereits in Bezug auf den ESM bzw. die „Arbeitsweise der Europäischen Union hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist“
7, also bei der Installierung des ESFM eine eben solche Bemerkung ins politische Stammbuch erhalten, als das Gericht feststellte:
„dass das Gesetz zur finanziellen Beteiligung am Europäischen Stabilitätsmechanismus vom 13. September 2012 (Bundesgesetzblatt I Seite 1918) Rechte der Antragstellerin zu VII. verletze, weil es dem Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages Zuständigkeiten zuweise, die vom Plenum des Deutschen Bundestages wahrzunehmen seien sowie einfache Mehrheiten für Entscheidungen ausreichen lasse, bei denen eine verfassungsändernde Mehrheit erforderlich sei.“
Und das Gericht führt bereits hier in Bezug zum ESM aus, dass nicht nur die Arbeitsweise der deutschen Regierung nicht der Verfassung entspricht, sondern betont bereits hier das Konzept des grundlegenden Rechts auf Demokratie: „Die Beschwerdeführer zu II. rügen, die angegriffenen Gesetze verletzten die politische Freiheit der Bürger und das in Art. 38 Abs. 1 GG verankerte Recht auf Demokratie.
Wie in den meisten Fällen, ist auch in dem Konzept des Rechts auf Demokratie ein Umsetzungsgebot enthalten, also die Verpflichtung der Regierung, dieses Recht auch zu schützen und durchzusetzen. Die mit diesem Recht korrespondierenden Schutzpflichten der Verfassungsorgane gelten, so das BVerfG, auch bislang für den Integrationsprozess der Europäischen Union und der Eurozone, insofern selbst scheinbar reine, geldpolitische Instrumente, die zur Sicherung der Wirtschafts- und Währungsunion ja expressis verbis formuliert wurden, letztlich politische Instrumente, wir sagen: Instrumente der Politischen Ökonomie sind:
„Die Integrationsverantwortung verpflichtet die Verfassungsorgane – den grundrechtlichen Schutzpflichten nicht unähnlich -, sich dort schützend und fördernd vor die durch Art. 38 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG geschützten Rechtspositionen des Einzelnen zu stellen, wo dieser nicht selbst für ihre Integrität sorgen kann.“ (Juni 2016, Rn 166)
Das BVerfG nimmt in seinen Leitsätzen zum ESM/EFSM und zum OMT eine Form der Übertragung deutschen Rechts auf die europäische Unionsebene vor, gewissermaßen, bis auf weiteres. Solange nichts anderes entschieden wurde durch den politischen Entscheidungsträger, besteht dessen Schutzpflicht, die von der generellen, grundlegenden Schutzpflicht des Staates gegenüber den Bürgern des Staates auf die Unionsebene übertragbar ist. Übertrag aber in dem spezifischen Sinne, dass diese staatliche Rechtsfürsorge auch dann gilt, wenn es um konkrete, politische Handlungen wie den ESM/EFSF und OMT geht.
„Wie eine grundrechtliche Schutzpflicht kann sich allerdings auch die Integrationsverantwortung unter bestimmten rechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen zu einer konkreten Handlungspflicht verdichten.“(Juni 2016, Rn 172) Und das BVerfG führt sogar darüber hinausgehen aus „muss der Bundestag unverzüglich jedenfalls nach einer entsprechenden Feststellung des Bundesverfassungsgerichts darüber befinden, wie der in Rede stehenden Maßnahme zu begegnen ist.“
Liest man die Urteile im Kontext, dann wird deutlich, dass das BVerfG auch gegenüber der europäischen Integration am Grundgesetz und dessen Auftrag an die Politik festhält und sich nicht hinter Paragrafen des EuGHs verschanzt. Solange keine wirklich demokratisch hergestellte europäische Integration aller Staaten zu einer echten politischen Staatengemeinschaft verwirklicht ist, untersteht auch eine deutsche Regierung der Aufgabe, das deutsche Grundgesetzt zu verteidigen bzw. dafür zu sorgen, dass das GG für die deutschen Bürger auch in Europa gilt. Das Recht der deutschen Bürger auf Demokratie kann nicht durch Verfahrensmodalitäten oder durch scheinbar reine geldpolitischen Maßnahmen oder andere Maßnahmen der Integration umgangen werden, sondern es löst stets die Regierung bindende, staatliche Schutzpflichten aus, die der Regierung vom Volk ja generell übertragen worden sind als unveräußerliche Grundrechte.
Damit ist höchstrichterlich bereits verfügt über die Frage, ob denn das OMT-Programm in der Sache als ein reines geldpolitisches Instrument zur Integration der Eurozone angesehen werden muss, oder als eine wirtschaftspolitische Maßnahme, die nicht in das Mandat der EZB fällt, jedenfalls nicht nach geltender Rechtsauffassung. Wenn also das OMT-Programm de facto unter das Mandat der EZB fiele, dürfte es keine wirtschaftspolitischen Zielsetzungen haben. Das besteht ungeachtet der rechtlichen Formulierung zum Notenbank-Mandat, die so sein mag wie sie will und behaupten, es gäbe eine klare Trennung zwischen Wirtschaftspolitik und Geldpolitik. Diese Trennung mag durchaus in der Vergangenheit Sinn gemacht haben, verdankt sich aber weniger eines sachlichen als eines wissenschaftlichen Verständnisses. Wenn Wirtschafts- bzw. Volkswirtschaften in ihrer kleinteiligen Sichtweise wie alle modernen Wissenschaften dazu neigen, alle Sachverhalte in Kategorien einzuteilen, dann sind mit den kategorialen Einteilungen bzw. Unterscheidungen zwar die Aussagen über einen Sachverhalt, nicht aber der Sachverhalt als solcher gemeint. ‚Als solcher‘ meint natürlich nicht, dass ein Sachverhalt hinter allen Aussagen quasi wie ein kantisches Ding an sich existiert, sondern dass Sachverhalte jeweils als solche in verschiedenen Aussagerelationen erscheinen können. Das ist in unserem Zusammenhang der Fall, wenn wir wie das oberste Gericht der Bundesrepublik Deutschland darauf argumentieren, dass Wirtschafts- und Geldpolitik in der Sache nicht zu trennen sind wie auch keine Trennung von Unionsrecht und deutschem Verfassungsrecht besteht. Beide Rechtsräume sind dann integriert, wenn deutsche Grundrechte in einer europäischen Verfassung aufgegangen sind, wie alle anderen demokratischen Verfassungen der Europäischen Unionsstaaten ebenso.
Das OMT ist festgestellt worden in der Sache wie juristisch als ein funktionales Äquivalent zu dem permanenten und dem temporären Rettungsschirmen ESM und EFSF. Als solche unterliegen ESM und EFSF zwar keiner parlamentarischen Kontrolle, sind aber als Instrumente der Integration Wirtschaftspolitik bzw. Teil der Politischen Ökonomie Europas mit den Mittel der europäischen Währung, dem Euro. Es ist dabei vom politischen Gewicht nicht einmal so bedeutend, dass das OMT-Programm eine Ausweitung der monetären Staatenfinanzierung ist, sondern dass mit dem OMT als Verfahren die Grundrechte der Bürger der Eurozone nicht geschützt sind. Beileibe ist es keine Wortklauberei, ob man von einer monetären Staatenfinanzierung spricht oder sich eines anderen terminus technicus‘ bedient, aber nimmt man die Sache als eine Verbindung zwischen Monetarisierung europäischer Schulden und europäischer Integration wird die Sache weitaus bedeutender.
Mit dem OMT ist eine nicht demokratisch legitimierte Vermögensumverteilung verbunden, die sowohl eine Umverteilung zwischen den Staaten der Eurozone wie auch eine Binnenumverteilung innerhalb eines Staates betrifft. Angesichts dieses ‚Preises‘ der europäischen Integration hätten die Regierungen der betroffenen Staaten ihre Bürger um Zustimmung eigentlich befragen müssen.
Ganz gleich wie hoch man auch den Preis der Integration ansetzt – eine tatsächliche Größe wird man weder heute noch in Zukunft wirklich ermitteln können – die Regierungen können die EZB nicht in ihrem Auftrag als handlungsausführende Institution und letzte Instanz missbrauchen und unter der falschen Ausweisung reiner Geldangelegenheiten letztlich internationale Wirtschaft- und Währungspolitik betreiben.
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[title]Begriffe – Anmerkungen – Titel – Autoren[/title]
Monetarisierung von Schulden – „ultra-vires“ – Neutralisierung von Zinsaufschlägen – Gebot der praktischen Wirksamkeit („effet utile“) – „Recht auf Demokratie“
1 Der ESM verfügt (nach dem erfolgten Beitritt Litauens am 3. Februar 2015) über 704.798.700.000 Euro (also ca. 705 Milliarden Euro) Stammkapital. Diese Summe teilt sich auf in rund 80,5 Milliarden Euro einzuzahlendes und 624,3 Milliarden Euro abrufbares Kapital.
Die Finanzierungsanteile der einzelnen Mitgliedstaaten ergeben sich aus dem Anteil am Kapital der EZB, mit befristeten Übergangsvorschriften für einige neue Mitgliedstaaten. Der deutsche Finanzierungsanteil am ESM beträgt entsprechend dem EZB-Schlüssel rund 27 Prozent. Dies entspricht rund 21,7 Milliarden Euro eingezahltem und rund 168,3 Milliarden Euro abrufbarem Kapital.
Der deutsche Kapitalanteil wurde in fünf Raten eingezahlt. Die ersten beiden Raten wurden im Jahr 2012 eingezahlt, zwei weitere folgten 2013. Die Zahlung der letzten Rate erfolgte Ende April 2014. Bundesministerium der Finanzen.
Primärmarktkäufe: Der ESM kann sich in Ausnahmefällen am Ankauf von Anleihen eines ESM-Mitglieds auf dem Primärmarkt (Emissionsmarkt) beteiligen, um das entsprechende Land auf dem Primärmarkt zu halten oder es – beispielsweise am Ende eines Anpassungsprogramms – wieder an den Primärmarkt heranzuführen.
Sekundärmarktinterventionen: Im Falle durch die Europäische Zentralbank (EZB) nachzuweisender außergewöhnlicher Umstände auf dem Finanzmarkt und Gefahren für die Finanzstabilität können in Ausnahmefällen Staatsanleihen auf dem Sekundärmarkt (Umlaufmarkt) aufgekauft werden. Ziel dieser Maßnahme ist, die Funktion der Anleihemärkte zu unterstützen und eine ausreichende Liquidität im Anleihemarkt zu gewährleisten.
2 Siehe BVerfG: Beschluss vom 14. Januar 2014 – 2 BvR 2728/13
3 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer) vom 16. Juni 2015, abgerufen am 23.06.2019.
4 Bei der sog. Honeywell-Entscheidung geht es insbesondere um das Verhältnis von Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof und der Frage, in wie weit Urteile des EuGh gegen bundesdeutsches Verfassungsrecht verstoßen können.
5 Leitsätze zum Urteil des Zweiten Senats vom 21. Juni 2016 Urteil vom 21. Juni 2016 – 2 BvR 2728/13, abgerufen am 23.06.2019.
6 Leitsätze zum Urteil des Zweiten Senats vom 7. September 2011 Urteil vom 07. September 2011 – 2 BvR, abgerufen am 23.06.2019.
7 Leitsätze zum Urteil des Zweiten Senats vom 18. März 2014 Urteil vom 18. März 2014 – 2 BvR 1390/12, abgerufen 24.06.2019.
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