Europa in der Krise

Es gab eine Zeit, da sprach die Welt vom Euro als einer Weltwährung neben dem US-Dollar. Der Euro erreichte den Kurs von 1,59 und das war genau am 17.März 2008. Das war nach dem Ausbruch der Finanzkrise, gerade einmal zwei Jahre bevor der Euro mit der Staatskrise Griechenlands zur Krisenwährung wurde. Damal fuhr man aus Europa in die USA und es war wie früher, als die Amerikaner nach Deutschland oder Italien reisten und alles dort so preiswert für sie war.

Das war die Zeit, als es in Europa auch keine einheitliche Fiskalpolitik gab. Das war, als anscheinend die internationalen Finanzmärkte nicht nur Vertrauen in den Euro hatten, sondern in der EU auch ein riesiges Potenzial für Investitionen sahen; und man investierte in alles was sich bewegte und nicht bewegte. Europa war keine politische Einheit und niemand schien sich daran zu stören, dass das so war; im Gegenteil. Dieser Wirtschaftsraum aus souveränen Staaten mit dem Europarat, dem Parlament und den Räten und Kommisaren schien ein durchaus funktionierendes Gesamtkonzept zu sein, dass im Prozess der Globalisierung eben genau das versparch und bewies, das das, worauf es fortan ankommt, gelingen kann, eine Form der ökonomischen Kooperation nach innen, also im europäischen Binnenmarkt und nach außen als ein Partner für andere Staaten und Wirtschaftzonen, sogar über die politischen Grenzen hinweg nach Russland und China.

Es gab frühzeitig Warnungen von Volkswirtschaftlern, dass dieses Prinzip der autonomen Partnerschaft nicht funktionieren kann. Aber was waren im Kern die Kritikpunkte? Im Jahr 2011 warnten 189 Wirtschaftsprofessoren vor der geplanten Ausdehnung des Euro-Rettungsschirms und dessen fatalen Folgen. Was in der deutschen Regierung als „Pakt für Wettbewerbsfähigkeit“ veröffentlicht wurde, nämlich der Plan der europäischen Finanzminister, den Euro-Rettungsschirm auszudehnen und einen dauerhaften Rettungsmechanismus (ESM) einzurichten, stieß bei den Ökonomen auf lauten Widerspruch.
Es war, rückblickend formuliert, die sog. Griechenlandkrise und die Versuche deren Bewältigung durch die Rettungsschirme und die EZB, die für die Professoren eine „fatale Langfristwirkungen für das gesamte Projekt der europäischen Integration“ in sich barg. An vorderster Stelle stand dabei der der Ankauf hochriskanter Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank (EZB), der mehr als den Ruf und die Unabhängigkeit der Zentralbank im Kern zu schädigen drohte.

Die Ökonomen sahen in der EZB ein Vehikel für eine dauerhafte Garantie der EU gegenüber eigentlich bereits insolventen Staaten, deren Verschuldungsgrad weit über die vereinbarten sechzig Prozent des BIPs angewaqchsen war mit zudem steigenden Tendenzen. Die „negativen Folgen“ dieser Haftungsgarantien der europäischen Staatengemeinschaft im Verin mit den durch diese Staatengemeinschaft auf den Finanzmärkten eingeräumten günstigen Kreditkonditionen würden die Fehlallokation einiger Schuldenstaaten, allen voran Griechenland und Italien, aber auch Spanien und Portugal munter in die Zukunft fortschreiben.

Fehlallokationen aber waren und sind die Staatsschulden insgesamt und die munteren, nicht gegenfinanzierten Wahlgeschenke der griechischen uund italienischen Regierung, die die Nichtbeistands-Klausel1, resp. No-Bailout-Klausel, auszuhebeln drohten. Es ging also konkret um die sog. Lissabon-Ergänzung, die die Schaffung des ESM ermöglichte und die Non-Bailout-Klausel relativierte.
Warum aber wurde eine so weitreichende Ergänzung bzw. Veränderung der europäischen Staatengemeinschaft in Richtung einer europäischen Haftungsgemeinschaft vollzogen? Wir müssen ein wenig zurückschauen. Aus dem Friedensprojekt wuchs allmählich ein europäischer Wirtschaftsraum hervor, ein gemeinsamer Markt, dessen Gemeinsamkeit aber auch hier in allen ökonomischen Angelegenheiten die Idee der Autonomie war. Kein Staat sollte den anderen in der Gemeinschaft in eine wirtschaftspolitische Abhängigkeit bringen. Damit übertrug die damalige Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) jene marktwirtschaftliche Asymmetrie, die mit jeder Form von Marktwirtschaft im Kern mitgegeben ist, auf das neue Gebilde. Aber was in derWirtschaft als Wettbewerb funktioniert, weil der Markt zugleich den Wettbewerb wie dessen Grenzen bestimmt, funktioniert im staatspolitischen Wettbewerb nicht.

Der staatspolitische Wettbewerb transferierte den alten Satz von Adam Smith, wonach, wenn jeder an sich denkt, nutzt das der Gemeinschaft, mit der Zeit und der zunehmenden politischen Integration auf die EU. Jeder Staat der EU machte also seine autonome Wirtschaftspolitik, zu vörderst war das Schuldenpolitik, was laut Statuten und Geist der EU auch möglich war, solange die Nicht-Beistandsklausel griff.
In der Wirtschaft führen expansive Schulden zur Überschuldung und letztlich zum Exit des illiquiden Unternehmens aus der Marktwirtschaft, wenn kein Investor rechtzeitig beispringt und das Unternehmen übernimmt. So etwas funktioniert in der Politik unter Staaten in einer Gmeinschaft nicht.
Was in Teilbereichen der Wirtschaft zunehmend eine Form der gegenseitigen Abhängigkeit annimmt, wenn Wertschöpfungsketten unternehmens- und länderüberschreitend auf- und ausgebaut werden und auf diese Weise aus wechselseitigen Abhängigkeiten eine Art ‚harmonischer‘ Ordnung entsteht, in der strukturelle Asymmetrien wie etwa der marktwirtschaftliche Wettbewerb in kooperative Formen des gemeinsamen Wirtschaftens transformiert werden, erwies sich im politischen Handeln als Katastrophe.

Die staatspolitische Eigenliebe mancher EU-Staaten nahm solche Formen der gemeinschaftsschädigenden Vorteilsnahme an, dass Griechenland als erster Staat vor dem Exit aus der EU stand. Und die Wirtschaftsprofessoren sahen sich bestätigt, allen voran zu Anfang Luck und Henkel, dass sich die deutsche akademische VWL sich mit überwältigender Mehrheit einig ist, gegen die Rettungsmechanismen der Euro-Politik zu votieren. Lucke und Henkel gingen darüber hinaus so weit zu meinen, es helfe der EU nur noch ein deutscher Geist, der dann in der Gründung einer politischen Partei mündete. Lautstark und professoral zogen Lucke und Henkel ins Europäische Parlament ein, vier Jahre danach war für beide bereits Exit. Was aus der politischen Idee geworden ist, wissen nun alle, aber war die Forderung der beiden Elitären genau so bescheiden wie ihre politische Bilanz im Parlament; mitnichten.

Die ist auch weiterhin virulent. Und die lautet: Konzentriert sich die EZB auf die Geldpolitik, wie es ihr Mandat vorsieht, oder betreibt sie in Wirklichkeit Wirtschaftspolitik? Und wenn das, was die EZB nun seit Jahren betreibt, Wirtschaftspolitik ist – und vielleicht sogar verkappte Sozialpolitik – , dann verletzt sie geltendes Recht, gleichwohl der Europäische Gerichtshof der Klage des Deutschen Verfassungsgerichts dahin gehend nicht folgend wollte und die Klage abwies. Gewissermnaßen wie aus Mangel an Beweisen wurde die EZB und damit der Rat der Gemeinschaft freigesprochen, da ein Gericht nicht der richtige Ort ist, um eine Debatte über eine möglicherweise verfehlte Euro-Politik zu führen. War also die Euro-Politik verfehlt?

Die Antwort auf diese Frage betrifft ein weites Feld. Grundsätzlich aber war die Idee einer sich entwickelnden, politischen Gemeinschaft in Kombination mit wirtschaftspolitischer Autonomie ein Projekt, dessen Anlage man sich kaum schwerer vorstellen konnte. Gehen wir doch einmal davon aus, dass die politischen Institutionen Europas, vor allem der Rat ein, nach den Regeln der politischen Vernunft lernender Organismus ist, der im Jahr 2008, zwar kaum vorstellbar aber doch anscheinend nicht über die politischen und ökonomischen Grundrechenarten sowie über die notwendige Vorstellungskraft verfügte, wie dieses, an die Quadratur des Kreises grenzende Projekt zu bewerkstelligen sei, dann darf man heute durchaus einräumen, dass vieles sich in der EU verändert hat, aus Erfahrung in eigener Sache.
Natürlich spielen in die EU exterritoriale Kräfte und Mächte hinein, die die EU aus sich heraus, quasi allein kaum zu bewerkstelligen vermag. Vor allem die amerikanische, geostrategische Machtpolitik und das chinesische Modell eines expansiven Staatskapitalismus sind von europäischem Boden aus politisch wenig zu beeinflussen. Amerikanische Handelspolitik gegenüber China eben so wenig, wie der aufziehende Protektionismus in der US-Wirtschafts- und Geldpolitik.

Die Fragen, die uns am Anfang der Skizzierung eines sich dynamisch entwickelnden europäischen Modells beschäftigen können, sollten daher so eng wie möglich auch im politischen und wirtschaftlichen Einflussbereich der europäischen Institutionen gestellt werden. Und zun den europäischen Institutionen gehören nun einmal die nationalstaatlichen Institutionen aller Mitglieder der EU. An dieser Stelle sei im Vorgriff auf späteres kurz erwähnt, dass Fukuyama nicht müde wird, das europäische Modell bereits als gescheitert anzusehen und diesen Unsinn noch als Bestseller verkaufen kann. Wenn Fukuyama notorisch behauptet, Europa sei deshalb allein schon gescheitert, weil es keine europäische Identität gäbe, ja geben kann, dann sollte er mal Augen und Ohren aufmachen, dann würde er sich wundern, wie viele Europäer in Europa leben. Und wenn es ihm gelänge, seinen eigenen Verstand dabei noch zu nutzen, dann würde er gewahr werden, dass Identität keine einheitliche Kultur, kein einheitliches Denken, keine Religion oder sonst so etwas Grauenvolles ist. Natürlich kann sich ein Amerikaner kaum so etwas vorstellen, wie gleichzeitig Deutscher, Franzose, Italiener, Spanier, Pole usw. zu sein, siebenundzwanzig Nationen und unterschiedliche Kulturen, Sprachen, geschichtliche Erfahrungen mit zu bringen und gleichzeitig Europäer zu sein. Ein Kalifornier ist Amerikaner; c’est tout! Mexikaner sind Amerikaner oder Illegale; c’est tout!

[sidebar]
[title]Begriffe – Anmerkungen – Titel – Autoren[/title]

„Pakt für Wettbewerbsfähigkeit“Rettungsmechanismus (ESM)Lissabon-Ergänzung


1 Klausel der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion (EWWU), die in Art. 125 AEU-Vertrag festgelegt ist und die Haftung der Europäischen Union sowie aller Mitgliedstaaten für Verbindlichkeiten einzelner Mitgliedstaaten ausschließt. Als Teil des Vertrags von Maastricht wurde die Nichtbeistands-Klausel als Art. 104b in den Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG-Vertrag) aufgenommen. Im Laufe verschiedener Vertragsreformen wurde die Klausel durch den Vertrag von Amsterdam zunächst in Art. 103 EG-Vertrag und schließlich durch den Vertrag von Lissabon in Art. 125 AEUV übertragen, der Wortlaut blieb jedoch weitgehend erhalten. Durch die Ergänzung des Vertrags von Lissabon um einen 3. Absatz zu Art. 136, der die Schaffung eines Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) ermöglicht, wurde die Nichtbeistands-Klausel eingeschränkt.(Wikipedia)

[/sidebar]