Leben an den Ufern des Acheron

Die alte griechische Mythologie wie auch die Göttliche Komödie von Dante kennen die Grenze zwischen Leben und Tod als einen Fluss; genau genommen sind es fünf. Der Acheron markiert die Grenze zum Hades, der selbst gelegentlich als ein Fluss beschrieben wird, zur Unterwelt also, die die toten Seelen mit Hilfe des Fährmannes Charon, nach dem Empfang der Begräbnisriten und einer Geldmünze, dem sogenannten Obolus, den sie unter der Zunge tragen, überqueren können.
In Platons Phaidon werden die toten Seelen so beschrieben, dass sie einen „mittelmäßigen Wandel geführt haben“ und über den Acheron zu einem See gelangen, in dem sie sich reinigen und ihre Verfehlungen abbüßen, bevor sie wiedergeboren werden. Gelegentlich wird Acheron auch als Synonym für den Hades selbst benutzt, an dessen Mündung der Sage nach ein Totenorakel stand; heute stehen darauf die Buchstaben SD.
SD bedeutet nach der Nomenklatur der Ratingagentur S&P: Offizieller Zahlungsausfall in einigen Bereichen und qualifiziert die Notwendigkeit eines Schuldenschnitts (auch Schuldenerlass), der die griechischen Staatsfinanzen im März 2012 ereilte.

Schuldenerlasse sind so alt wie die griechische Kultur. Bereits aus dem Jahr 594 v.Chr. kennen wir Details der Seisachtheia1, die der athenische Staatsmann Solon in der Zeit einer schweren Krise Athens im Rahmen eines Reformprogrammes einführte. Demnach ging es bei der Reform des Solon darum, die sog. Hektemoroi2, die sich hoch verschuldet und ihren Grundbesitz belastet hatten, vor dem Abgleiten in völlige Verarmung und Sklaverei zu bewahren. Ob es die Hektemoroi nun wirklich gab oder nicht, ist für uns nicht von Belang.
Von Belang aber ist, dass es Schuldenerlasse gab, die auch damals schon wenig Freude bei der Athener Bevölkerung aufkommen ließen, aus den verschiedensten Gründen. Und nicht nur die „Aristokratie“ damals ging auf die Barrikaden, ist ein Schuldenschnitt ja immer auch eine verpflichtende Belastung, für die es im damaligen Athen keine zeitliche Begrenzung gab, wie dies heute wieder erscheint.
Damals in Athen wurde dem Schuldner eingeräumt, ein Darlehn über einen längeren Zeitraum durch regelmäßige Abgaben zu begleichen, wobei sich die Literatur uneins ist, über Art und Weise sowie über den rechtlichen wie politischen Stand bzw. Bewertung von Schulden. Einiges spricht dafür, dass mit der Ausrufung eines Schuldenschnitts aus den Bauern Hektemoroi wurden, was eine mildere Alternative zur Versklavung war, die eigentlich drohte.

Die Bibel erst, genauer im 5. Buch Mose, wird eine Schuldenbegrenzung der Zeit nach eingeführt, im sog. Sabbatjahr3. Jedes siebte Jahr also sollte in Jerusalem ein Schuldenerlass ausgerufen werden, genau genommen musste alle sieben Jahre ein israelischer Gläubiger seinen Landsleuten die Schulden erlassen, nur bei Ausländern durfte die Schuld eingetrieben werden (5. Mose, 15, 7).
Ein Schuldenschnitt hatte also stets eine soziale und politische Komponente, insofern er Sklaverei und andere, mit den Schulden verbundenen, quasi innenpolitischen Verwerfungen abzuwehren versuchte. Das Konzept einer zeitlichen Begrenzung eine Zahlungsunfähigkeit galt daher nur innerhalb des Volkes Israel, nicht für ausländische Schuldner.

Das Buch Nehemia (5. Kap.) kannte den Schuldenerlass und sicherte den Schuldnern ihren Grundbesitz und zur Zeit Jesu wurde das Datum des Schuldenerlasses mit der Verweigerung neuer Kredite verbunden. Die Schulden einzelner wurden also stets aus der Perspektive einer politischen und sozialen Einheit betrachtet. Es ging also nicht um Rache oder Strafe o.ä., sondern um eine Art Rehabilitation des einzelnen Schuldners und der Stabilisierung eines Gemeinwesens. Letztendlich trifft man bereits in der Antike den Gedanken der Globalisierung, hier des Handels als Kern der wirtschaftlichen Beziehung zwischen Ländern bzw. Gemeinwesen. Einem nackten Mann kann man nicht in die Taschen greifen, war damals einhellige Erkenntnis und jeder Versuch führte zu weitaus größeren Problemen, als die Schuldsumme und ihre bilateralen Konsequenzen.

Das Londoner Schuldenabkommen vom Februar 1953 war nicht nur die Entschuldung von etwa fünfzig Prozent der durch ausgebliebene Zahlungen des Dritten Reichs verursachten Schuldsumme von ca. 30 Mrd. DM und einer Restschuldvereinbarung, die der neuen BRD eine langfristige Umschuldung zu günstigen Bedingungen hauptsächlich durch die USA gewährt wurden. Es war der Beginn des deutschen Wirtschaftswunders und der Integration der BRD in die westliche Staatengemeinschaft, als der Kalte Krieg begann, die Welt in zwei atomwaffenstrotzende Lager zu zerteilen.
Am griechischen Schuldenerlass ist einiges anders. Schuldnerländer haben heute eine Reihe von transnationalen Bedingungen zu berücksichtigen. Griechenland kann als EU-Mitglied keine eigene Interventions- und Wechselkurspolitik mehr betreiben, aber durchaus für verbesserte Rahmenbedingungen für ausländische Direktinvestitionen sorgen. Es kann wenig dafür tun, dass das inländische Sparvermögen ansteigt, aber durchaus viel, um das staatliche Defizit zu senken. Es kann sich öffnen für verstärkte technische und finanzielle Hilfen im Rahmen verschiedenster Projekte und durch Deregulierung, da, wo es nötig und sinnvoll erscheint, zur Ausweitung seiner industriellen Kapazitäten und für Infrastrukturinvestitionen sowie für sozialpolitische Maßnahmen neue Räume bzw. Möglichkeiten zu schaffen.
Die internationalen Finanzmärkte haben Griechenlands Bonität als „Ramsch“ zur Kenntnis zu nehmen und dessen Zahlungsfähigkeit als nicht gegeben. Aber als Teil der EU kann Griechenland auch heute noch seinen Zahlungsverpflichtungen durch die Rettungsschirme bzw. die Hilfspakte (EFSF und ESM) der Eurogruppe sowie des IWF nachkommen. Bilaterale Kredite von allen Euroländern außer der Slowakei, Irland und Portugal belaufen sich auf 52,9 Mrd. Euro, vom IWF stehen 31,9 Mrd. vom EFSF 130,9 und vom ESM 55,2 Mrd. Euro zu Buche. Hinzu kommen noch 66,5 Mrd. an nationalen Schulden420 Prozent) nachgewiesen werden kann und das Verhältnis Schulden/Exporterlöse 150 Prozent nicht überschritten wird5.
Betrachten wir Griechenland isoliert, dann läge es, gemessen an seinen Exporten etwa auf Platz 50 im Weltranking. Betrachten wir Griechenland nicht al ein EU-Mitglied aber aus der Kennzahl des Schuldendienstdeckungsgrades, dann zählte Griechenland zu einem der ärmsten Länder der Welt und würde unter die 1996 auf Betreiben der G-7-Staaten von Weltbank und IWF beschlossene Initiative zur Bekämpfung der Armut in der Welt fallen6.
Als „arm und hochverschuldet“ im Sinne von Weltbank und IWF gilt ein Staat, wenn das Bruttosozialprodukt pro Kopf unter 925 US-Dollar liegt und das Kriterium „hoch verschuldet“ erfordert, dass die Auslandsschulden höher sind als 150% der jährlichen Exporterlöse oder mehr als 250 % der Staatseinnahmen betragen; das trifft bei seriöser Betrachtung alles auf Griechenland zu.
Wäre Griechenland also nicht ein EU-Mitglied würde es behandelt wie ein armes, hochverschuldetes Entwicklungsland. Betrachten wir die im EFSF und ESM vereinbarten Schuldendienste, die für die Eurogruppe zwischen 10 und 30 Jahren, für die beiden Hilfspakete auf 32,5 Jahre vereinbart sind, dann sprechen wir eigentlich über eine Schuldendienstentlastung, also den (fast) Wegfall von Zinsen und Tilgungen. Hinter dieser Form der Schuldendienstentlastung steht der Gedanke, dass ein Staat während einer nicht befristeten Bewährungszeit seine Konzepte zur guten Regierungsführung und Armutsbekämpfung tatsächlich erfolgreich umsetzen kann und auf diese Weise einen Teil bzw. langfristig betrachtet seine Schulden erlassen bekommt, als diese in einer Form von Ewigkeitsvereinbarung durch voraussichtliche Inflationierung von allein verschwinden. Das ist dann zwar semantisch kein Schuldenerlass, aber faktisch.
Allein, wie steht es im Falle Griechenlands mit der „Good Governance“? Die Erfahrungen mit staatlichen Schuldenerlassen in den letzten Jahrzehnten gibt eine ernüchternde Antwort: schlecht. Von einem Schuldenabbau gleich darauf zu schließen, dass Länder unter dem HIPC-Schild zu einer tendenziell guten Haushaltsführung gehen würden, hat sich in den meisten Fällen als Trugschluss erwiesen. Im Gegenteil haben arme, hochverschuldete Länder ihre Neuverschuldung eher ansteigen lassen, besonders indem sie, sobald als möglich, neue Kredite aufgenommen haben, um den Schuldendienst für die nicht erlassenen Altkredite aufrechterhalten zu können.
Einer aktuellen Untersuchung der Weltbank zufolge haben von den 26 Ländern, die bisher Schuldenerleichterungen erhielten, 12 Länder schlechte Aussichten, mittelfristig ihre Schuldentragfähigkeit auf einem nachhaltigen Niveau zu halten. Ein Schuldenerlass zielt eigentlich darauf ab, die Armut in den HIPC-Staaten zu verringern und das Wirtschaftswachstum zu verbessern; keines der Ziele ist je erreicht worden7.
Griechenland steht nicht unter dem HIPC-Schirm. Und da Griechenland kein isolierter Staat, sondern ein Mitglied der EU ist, haben sich zwar die Bewertungskriterien von Weltbank und IWF nicht geändert, aber der Umgang mit den griechischen Schulden. Obwohl besonders der IWF stets betonte, dass die Tragfähigkeit der griechischen Schulden nicht gegeben ist und er aus den Hilfsprogrammen für Griechenland austreten wollte, gelang es durch hartnäckige Interventionen, besonders von Deutschland, den IWF contre Coeur im Programm zu halten.
Die Frage aber, die sich der IWF und alle an den Programmen beteiligten Eurostaaten stellen müssen ist und bleibt die Frage nach den Möglichkeiten, die Staatsfinanzen Griechenlands zu sanieren. Auch auf den zweiten Blick bestand dem IWF und der Weltbank diesbezüglich zur Folge keine Aussicht auf substanzielle Besserung. Warum also nicht den Forderungen von vielen Volkswirten nachgeben und Griechenland aus dem Euro lassen, damit das Land die dann wieder eingeführte Drachme abwerten kann, die Konsumpreise sinken wie auch Löhne und Gehälter und sich damit nicht nur der Binnenkonsum, sondern auch die Exportpreise dem harten europäischen Wettbewerb, vor allem durch die osteuropäischen und baltischen Staaten entziehen können.
Prima Vista klingt das überzeugend und es gab auch einen kurzen Zeitpunkt, da stand diese Idee im Raum. Sie wurde verworfen, weil damit dem Zerfall der EU Tür und Tor geöffnet worden wäre, ein winziges Rumpf-Europa wäre vielleicht übriggeblieben, das europäische Experiment am Ende. Und, so steht in Aussicht, wenn Griechenland zur Drachme zurückkehren würde, wäre der Wohlstandseinbruch durch den Währungswechsel sofort sehr drastisch und niemand könnte garantieren, dass der nicht noch einmal um mehr als die Hälfte konsolidieren würde. Griechenland hätte dann zwar nominell seine Wettbewerbsfähigkeit wieder, aber um den Preis, dass es dann erst recht und ohne gute Aussichten unter den HIPC-Schirm fiele. Was wäre denn gewonnen, wenn Griechenland auf Jahrzehnte eines der ärmsten Länder der Welt inmitten von Europa gelegen auf Hilfen von Drittstaaten, wahrscheinlich der EU, angewiesen wäre?

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[title]Begriffe – Anmerkungen – Titel – Autoren[/title]

Offizieller Zahlungsausfall (SD)SeisachtheiaHektemoroiSabbatjahrLondoner Schuldenabkommen


1 altgriechisch σεισάχθεια ‚Schuldenerlass‘
2 Hektemoroi (gr. ἑκτήμοροι, „Sechstler“), waren Bauern, die ein Sechstel des Ertrages als Pacht abgeben mussten oder nur ein Sechstel des Ertrages behalten durften.
M. Meier hat die These vertreten, es habe die Hektemoroi in Wahrheit nie gegeben; der Verfasser der aus dem 4. Jahrhundert v.Chr. stammenden Athenaion Politeia habe seine Vorlage falsch gelesen und durch dieses Missverständnis erst die irrige Vorstellung in die Welt gesetzt, es habe einst Hektemoroi gegeben.
Vgl. Mischa Meier: Die athenischen Hektemoroi – eine Erfindung?. In: Historische Zeitschrift 294, 2012, S. 1–29.

3 5. Mose, 1-2. Das Sabbatjahr geht zurück auf die Felderwirtschaft, wonach ein Feld sich nach sieben Jahre erholt hat.
4 2012 wurden die Staatsschulden um 107 Mrd. € reduziert. Davon trug der öffentliche Sektor 66,5 Mrd und der private Sektor 40,5 Mrd € bei (Private Sector Involvement, PSI). Der Beitrag des privaten Sektors wurde jedoch gemäß dem 2. Memorandum von der griechischen Regierung zu 100% kompensiert. (Wikipedia)
5 Der Begriff Barwert stammt aus der Finanzmathematik und bezeichnet den Wert, den zukünftige Zahlungen in der Gegenwart besitzen. Oder anders ausgedrückt: Der Barwert ist der gegenwärtige Wert einer später fälligen Forderung.
Die Barwertmethode rechnet Zahlungen, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten anfallen, auf einen bestimmten Zeitpunkt um, indem sie den Zeitwert des Geldes berücksichtigt. Dieser wird durch Abzinsung ermittelt.
Der Schuldendienstdeckungsgrad oder auch Kapitaldienstdeckungsgrad (engl. debt service coverage ratio, DSCR) ist eine betriebswirtschaftliche Kennzahl, bei der je nach Art des Schuldners den Kreditzinsen und der Tilgung bestimmte Einnahmen gegenübergestellt werden. Hierdurch soll ermittelt werden, inwieweit ein Schuldner imstande ist, Zins und Tilgung für die aufgenommenen Kredite aufzubringen. (Wikipedia)

6 Die sog. HIPC-In­itia­ti­ve zur Reduzierung der Schuldenlast der hoch verschuldeten armen Länder (Heavily Indebted Poor Countries, HIPC)
7 Wilfried Herz: Der Fluch der guten Taten. In: Die Zeit, 7. Oktober 2004.


Mischa Meier: Die athenischen Hektemoroi – eine Erfindung?. In: Historische Zeitschrift 294, 2012

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