Wohlstand gab es nie zum Nulltarif und die Risiken werden in Zukunft durch die Globalisierung der Wertschöpfung und durch digitale Plattform-Ökonomien erheblich viel größer sein, als heute und morgen. Die Risiken verstehen ist daher essentiell. Aber was sind die Risiken im Modell Europa? Liegen die Risiken wirklich im Target-System des Euros?
Die Risiken im Target-System sind, logisch und faktisch gesehen, bedingt. Bedingung für eine Target-krise, also für eine Inanspruchnahme von Forderungen und Verbindlichkeiten ist ein Austritt eines Landes mit einem großen Negativsaldo wie etwa Spanien und Italien. Ein Austritt aus der EU und aus dem Euro aber ist in beiden Fällen sehr unwahrscheinlich. Die Vorteile einer eigenen Währung wären schnell dahin, denn heute ist Wettbewerbsfähigkeit entwickelter europäischer Industriestaaten nicht mehr dasselbe wie noch von zwanzig Jahren. Eine Abwertung, wie dies Sinn schon fast notorisch wiederholt, senkt zwar die Preisstrukturen innerhalb einer Volkswirtschaft, ob damit aber heute die Wettbewerbsfähigkeit auf den Weltmärkten wiederherzustellen ist, darf stark angezweifelt werden. Wettbewerber wie China, Indien, Vietnam etc. lassen sich heute kaum noch auf der Preisebene beunruhigen.
In einer industriellen Produktion spielte der Preis eine der ganz prominenten Rollen im Wettbewerb. Der Preis aber kam ganz im Sinne der Grenzkostenrechnung durch Automatisierung und Skalierung, also durch einen hohen Grad an Technik zustande und war in dieser Preis-Technik-Komplexität der eigentliche Wettbewerbsvorteil gegenüber Schwellenländern und Emerging Markets. Diese Vorteile sind weitgehend dahin und ein Weg zurück ausgeschlossen.
Italien und Spanien hätten also durch die Einführung einer eigenen Währung wie dies Sinn empfiehlt, nur dann einen Wettbewerbsvorteil, wenn beide Volkswirtschaften bei deutlich geringeren Kosten eine technologisch vergleichbare Exportwirtschaft aufbauen könnten, die dann gegen die asiatischen Wettbewerber bestehen könnte; das ist mehr als unwahrscheinlich. Beide Staaten würden wohl kaum aus der EU austreten, schon gar nicht, nach dem englischen Desaster, das ganz Großbritannien gerade erfasst; mit dem politischen käme Italien wohl zu Rande.
Aber weder ein Austritt noch die reine Drohung damit zieht eine Wertberichtigung der Bundesbank-Forderungen an die EZB nach sich. Selbst Sinn muss einräumen, dass eine Abschreibung der Bundesbankforderungen von dem dann verbliebenen Betrag, der zwischen 1,5 Billionen Euro und fast Null liegen kann, auf zwei Bedingungen beruht; erstens müsste es einen kompletten Zerfall der Währungsunion geben und zweitens müsste das Ende der EZB formaljuristisch gezeichnet werden; beide Bedingungen sind ebenso wenig wahrscheinlich.
Aber selbst der Fall, dass es die EZB und die Eurozone nicht mehr gäbe, löst nicht automatisch einen Liquidierungsprozess der Bundesbank-Forderungen aus, der in der Folge diese Forderungen auf die deutschen Steuerzahler und den deutschen Staatshaushalt überträgt. Diese Form der finanziellen Belastung ist somit kein Automatismus und was anstelle dessen passiert ist höchstwahrscheinlich ein ästhetisch wenig schönes Negativkonto, das der deutschen Bundesbank ein negatives Eigenkapital bescheinigt. Am negativen Eigenkapital der EZB entzündet sich der Streit unter Ökonomen wie dies einzuschätzen sei in seinen Folgen auf die Wirtschaft. Und dabei moniert der Streit den strukturellen Unterschied zwischen der Fed und der europäischen Notenbank, den kein Geringerer als Nobelpreisträger Krugman spätestens im Jahr 2013 vom Zaun getreten hat:
[…]: „the ECB is constrained, in a way the Fed isn’t, by the lack of a fiscal backstop. The Fed actually has a formal agreement that the Treasury department will make good any losses it incurs from unconventional monetary policy. The ECB doesn’t have any such agreement, in part because there’s nobody with whom to make that deal.“1
Sinn und dessen Spirit oeconomicus Krugman sehen in der Struktur der EZB, die gebildet ist aus einem Gremium von Vertretern unabhängiger Staaten gegenüber etwa der FED eine so große strukturelle Schwäche, das sie eine Pleite der EZB nicht verhindern kann Deshalb also, eil die EZB, anders als die FED, keine zentrale Regierung im Rücken hat, die ihre Verluste im Ernstfall decken und sie vor der Pleite schützen könnte, sind negative Eigenkapitalkonten viel risikoreicher als bei nationalen Notenbanken, wie wir dies im Zusammenhang schon unter Modern Monetary Theorie diskutiert haben.
Warum Nobelpreisträger und anerkannte Ökonomen diesen strukturellen Unterschied so sehr ins Gewicht fallen lassen, ist nicht nachvollziehbar. Denn es ist völlig gleichgültig, ob eine EZB, eine nationale Notenbank oder ein nationales Notenbanknetz negative Kapitalkonten ausweist; der Unterschied besteht allein im Vergleich zu Geschäftsbanken. Anders als diese kann eine Notenbank nicht Pleite gehen, es gibt damit keinen Insolvenzfall und somit auch kein Szenario eines Ernstfalls bezogen auf das Eigenkapital.
Eine solche Situation ist zwar in einer gewissen Weise, was das Vertrauen der Bürger und Märkte angeht, nicht hilfreich, beeinträchtigt jedoch, anders als bei Geschäftsbanken, in keinster Weise die Funktionsfähigkeit einer Notenbank, auch nicht die der EZB wie man übrigens über die letzten zehn Jahre hinweg sehen konnte. Und historisch betrachtet ist ein negatives Eigenkapital in einer ganzen Reihe von Zentralbanken nicht so außergewöhnlich und selten, wie man vielleicht denken könnte. Die Tschechische Notenbank wies über zwölf Jahre ein negatives Eigenkapital aus und speziell für die Zentralbanken kleinerer Staaten, die große Fremdwährungsreserven unterhalten, besteht immer die Gefahr eines Wertverlusts dieser Reserven durch eine Währungsaufwertung. Die schweizerische Zentralbank z.B. ist auf diese Weise in den siebziger Jahren zwei Mal ‚Pleite‘ gegangen, nach dem Ende von Bretton Woods und noch einmal 1978, ohne freilich, dass man großes Aufsehen darüber gemacht und die kreative Bilanzführung des Instituts angeprangert hätte.
Die wichtigsten Risiken, die mit einem negativen Eigenkapitalkonto einer Notenbank verbunden sind, liegen nicht in den Summen und Werten, sondern im Diskurs der Märkte. Fehlt diesem Diskurs das Argument des Vertrauens, kann es schwierig werden für den Wert der jeweiligen Währung. Am Beispiel Japans haben wir gezeigt, dass trotz erheblicher Negativsalden ein großes Vertrauen der Bürger Japans und der Kapitalmärkte gegenüber Japans Währung und Wirtschaftskraft besteht und deshalb ein Zusammenbruch der Währung mit Folgen von Hyperinflation ausgeblieben sind. Der öffentliche Diskurs ist also mitentscheidend für die Währungsstabilität und gerade dahin geht kaum etwas Sinnvolles aus einer fehlverstandenen Schuldenargumentation in Richtung Europa.
Ein negatives Eigenkapitalkonto bei der Deutschen Bundesbank hätte als geldwertes Risiko daher allein eine gewisse Zeit lang ausbleibende Gewinne, die die Bundesbank sonst an den Bundeshaushalt abführen würde. Der ewig klamme Bund aber müsste und würde diesen Ausfall von Gewinnen aus Bundesbankgeschäften wohl verkraften. Der weitaus schwierigere Fall, betrachten wir den einmal als gegeben, dass alle Südländer und sogar Frankreich mit eingeschlossen aus dem Euro austreten, hat keineswegs das Szenario einer Staatspleite für Deutschland zur Folge; im Gegenteil. Stellen wir uns diesen Fall vor, dann bliebe ein Verbund von Staaten im Euro, speziell jene Staaten, die die Vorteile des Euros in einer exportorientierten, hochgradig global vernetzten Produktion kennengelernt haben. Und wer sagt denn eigentlich, dass die EU auf die Staaten des europäischen Kontinentalsockels beschränkt bleiben müssen. Ein paar Staaten vom europäischen Festland würden sich in einer Währungs- und Wirtschaftsgemeinschaft mit Staaten des asiatischen Raumes wie etwa Japan, Südkorea, Indien, Taiwan usw. hervorragend gut zusammenfinden können; Australien einmal Bedenkzeit gegeben, ob denn das Commonwealth eine echte Alternative dazu wäre?
Immer mehr wird deutlich, dass nationales Wirtschaften weniger sinnvoll, weniger produktiv, weniger wertschöpfend ist und vor allem, weniger ausgleichend auf die immer noch schreienden Diskrepanzen gesellschaftlichen Wohlstands der Nationen. Neue Formen von internationaler, von globaler Kooperation hin zu einer weltwirtschaftlichen Zusammenarbeit werden dringend notwendig und nicht nur in der Umweltwirtschaft. Ein anderes Beispiel kann der globale Wasserstoffrat sein, einem Bund aus mittlerweile sechzig Weltkonzernen zur Entwicklung einer alltagstauglichen Wasserstoffwirtschaft. Fossile Brennstoffe durch Wasserstoff zu ersetzen und damit emissionsarm und klimaschonend Strom aus der Reaktion von Wasser- und Sauerstoff zu erzeugen, ist das Hauptziel der internationalen Initiative, dem eine ganze Reihe von Nebenzielen subsumiert sind. Nicht zufällig dominieren die Automobilkonzerne aus der ganzen Welt, sind aber nicht allein vertreten bei den Unternehmen aus Japan, Deutschland, Frankreich, Australien, Saudi-Arabien, Südkorea und einigen anderen Ländern mehr.
Industrie-Kooperationen und Zusammenarbeit in weltweit nutzbaren Forschungs- und Entwicklungsprojekten werden auch ein anderes Verständnis von finanzwirtschaftlicher Zusammenarbeit erforderlich machen, an diesem Punkt eher den Erfahrungen der amerikanischen Finanzwirtschaft folgend. Das europäische Target-System ist sicherlich ebenso reformbedürftig wie das amerikanische Finanzsystem, gleichwohl sind beide Systeme Vorläufer von späteren, deutlich globaler agierenden Finanzsystemen, ohne die kaum je einmal die bestehenden Diskrepanzen zwischen Industriestaaten und Entwicklungsländern überwunden werden können; im Gegenteil.
Deshalb ist das Target-System keine Sackgasse, weil neben den erwähnten, strukturellen Eigenschaften auch die Bedingungen für einen Ausfall des Systems als Ganzem hoch unwahrscheinlich eintreten werden. Diese hohe Risikoaversion des Systems ist sein eigentlicher Vorteil und kaum ein Geschäft in der Realwirtschaft kann von derart geringem Risiko je träumen. Selbst wenn die EZB-Programme nicht wie geplant in Kürze drastisch zurückgefahren und irgendwann in naher Zukunft ganz eingestellt würden, wäre der Anstieg der Saldenvarianz zwar stark vermindert, die Spreizung der Positiv- gegen die Negativsalden aber nicht abgetragen. Aber selbst dann sind die „Billionen-Salden“ keine Billionen-Bomben“2 und im Maßstab der zukünftigen Aufgabenbewältigung globaler Wirtschaftsprozesse, die sich umfassend in digitale Ökonomien transformieren eine Summe, an deren Vielfaches sich die Welt noch gewöhnen muss.
Wie wenig vernünftig die Vorschläge zur Begrenzung bzw. zur Deckelung (Hans-Olaf Henkel) der Target-Salden sind, erkennt man leicht an der inneren Widersprüchlichkeit der Gegenargumente, die nicht mehr und nicht weniger vorstellen, als eine völlig missverstandene Ökonomie, die heute aus einer Zeit und ihren dominierenden Vorstellungen einer geschlossenen Systematik heraus missverstanden wird. Denn was heißt es heute, im Target-System einen Ausgleich einführen, eine Art temporär zwingenden Kontenausgleich? Im Jahr 2019 bedeutete dies allein für Spanien und Italien, dass beide Länder regelmäßig mit Milliardensummen den deutschen Anteil an den Billionen-Forderungen abtragen. Die Frage aber ist nicht, wie hoch die Saldendivergenz ist und wie lange ein Staat braucht, um diese Divergenz abzutragen. Die Frage lautet, wie er das macht? Italien und Spanien müssten das durch die Ausgabe von Staatsanleihen finanzieren, also mit eben jenen Papieren, deren Ausgabe die aktuelle Geldpolitik der EZB erfolgreich zu vermeiden versucht.
Was hätte Deutschland davon, anstatt Forderungen gegen die EZB zu halten, nun diese in italienische Staatspapiere „umzutauschen“? Wie bei jedem Umtausch bleibt auch hierbei die Frage, was und wer bei diesem Umtausch einen Nutzen hat? Stelle man sich vor, ein smarter Italiener kauft bei einem gut gekleideten Deutschen neue Anzüge und tauscht, nachdem er festgestellt hat, dass seine Guthabenkonten leer sind und seine italienische Bank ihm trotzt schicker Beinkleider keinen Kredit mehr gegen will, im Gegenzug den Kaufpreis mit drei abgetragenen Anzügen; wie sieht der arme reiche Deutsche dann nach einer Weile wohl aus? Solche Geschäfte haben schon die Yanomami-Indianer im Regenwald des Amazonas stets vermieden.
Das ist so eine Sache mit dem sog. Potlatch; der war in Zeiten von Sippenwirtschaft schon schwierig und ist es heute umso mehr. Ein Umtausch der Forderungen an die EZB in Forderungen an den italienischen Staat löst also das Problem mitnichten; im Gegenteil führt eine Umbuchung von einer Forderung in eine andere zu nichts anderem, als in diesem Fall von einem solventen zu einem nahezu insolventen Schuldner, um bei dieser Terminologie zu bleiben.
Fokussieren wir den Anteil in den Target-Salden, der auf realwirtschaftliche Transaktionen zurückgeht, dann entstünde bei einem Kontenausgleich über öffentliche Transfers eine Umwandlung der im privatwirtschaftlichen Wettbewerb erzeugten Divergenzen, die mittels öffentlicher Gelder neutralisiert würden. Diese Formen nicht-marktwirtschaftlicher Geldtransfers über staatliche Kapitaltransfers sind langfristig nicht sinnvoll, es sei denn, man will den Gesamttransfer einer Marktwirtschaft in eine Planwirtschaft.
„Eine Tilgung von TARGET-Salden zwischen Zentralbanken würde eine staatliche ex-post-Nivellierung interregional unausgeglichener Zahlungsströme bedeuten. Je nach dem, was die Ursache der Unausgeglichenheit ist, wird einem von Privaten verursachter Netto-Zahlungsstrom zwischen Regionen spiegelbildlich ein Transfer staatlicher Mittel entgegengesetzt – ein mit der marktwirtschaftlichen Ordnung nur schwer zu vereinbarendem, dirigistischem Eingriff in den Wettbewerb.“ (Krahnen, 2018, S. 25.3
Was in seltsamer Übereinkunft bei Sinn und den anderen Target-Salden-Kritikern auffällt, ist, dass sich die Autoren wenig darum bemühen, die den Target-Salden zugrunde liegenden, ökonomischen Probleme theoretisch zu Leibe rücken, außer, diesen Problemen einen ungleichen Wettbewerbsfaktor zu unterstellen, der sich aus überhöhten Löhnen und Preisen in den „Schuldnerländern“ ergibt. Preise und Löhne allein erklären heute überhaupt nicht mehr hinreichend die Ungleichgewichte und regionalen bis globalen Verschiebungen im Wettbewerb. Glauben die Autoren wirklich daran, dass eine Abwertung innerhalb von Europa jenen Schuldnerländern danach die ökonomische Wettbewerbsfähigkeit wieder zurückbringt? Geht es den Verantwortlichen in Italiens Regierung wirklich um die Wiedererlangung der Wettbewerbsfähigkeit ihre erwerbstätigen Landsleute gegenüber denen aus den Niederlanden, Deutschlands Polens und all die anderen?
Wir denken, es geht nicht darum. Wir haben ein ähnliches Szenario kennengelernt, als der damalige Finanzminister Yanis Varoufakis anfangs einigermaßen heimlich Pläne für eine griechische Parallelwährung zum Euro verfolgte, um im Fall eines Rauswurfs Griechenlands oder seines Austritts aus der Währungsunion den Zahlungsverkehr halbwegs aufrechterhalten zu können. Diese Optionen wurden von einigen Experten bereits im Jahr 2009 diskutiert und internationale Banken bereiteten sich hinter verschlossenen Türen damals ernsthaft auf die Wiedereinführung der griechischen Drachme vor. Seit 2009 mit dem neu formulierten Vertrag von Lissabon gibt es eine Regelung, wie ein Mitgliedstaat der EU aus der Union austreten kann, aber keine Regelung, den Euro-Raum zu verlassen; bis heute nicht. Damals hätte Griechenland ganz legal durchaus neben dem Euro eine zweite Währung, etwa die Drachme einführen können und so tut dies anscheinend heute, im Juni 2019 Italien.
Was Griechenland damals, 2012 unter dem starken Druck aus Brüssel und besonders aus Berlin in personam Finanzminister Schäuble und letztlich der Finanzmärkte nicht gelungen war, will Rom nun erneut versuchen. Die Lehre für Rom aus dem griechischen Rückzug sei, früher und mit zunächst eher harmlos anmutenden ersten Schritten anzufangen und sog. Mini-Bots (von Buono del Tresoro, italienische Staatsanleihen mit kurzer Laufzeit) herauszugeben, mit denen Empfänger direkt ihre Steuerschulden begleichen könnten bzw. diese Bots mit einem gewissen Abschlag an andere Italiener zu verkaufen, die ihrerseits damit ihre Steuerschulden begleichen könnten. Der Vorteil für die durchaus zahlreichen Gläubiger Italiens, denen der Staat Mini-Bots zur Schuldentilgung anböte, würden diese wohl freiwillig und mit einer gewissen Restfreude in der Not statt Euro akzeptieren, wenn sie dafür schneller an die Rückzahlung ihrer verliehenen Vermögen kämen.
Nun kann man sich kaum vorstellen, dass eine Regierung und nicht zuletzt die italienische sich solcherart selbstlose Gedanken um die Vermögen privater Investoren bzw. Anleger macht, ohne dabei auch einen kleinen Vorteil für sich selbst zu erdenken. Und dieser Vorteil ist durchaus gegeben und zwar ein ganz und gar unschöner, den die britischen Brexiteers wohl auch gerne hätten, was aber nicht geht, da Großbritannien ja nicht im Euro ist. Der Hintergedanke ist der, dass mit den Mini-Bots und dem Target-2-System die Voraussetzung gegeben ist, ein übles Spiel zu spielen, in der Wirtschaft unter Moral Hazard bekannt. Ursprünglich erkannt und gefürchtet wurde diese Verhaltensweise des Moral Hazard im Zusammenhang mit privaten Feuerversicherungen und beschrieben den Anreiz eines feuerversicherten Gebäudeeigentümers, weniger Sorgfalt bei der Schadensvermeidung bzw. -begrenzung aufzuwenden als ein Hausbesitzer ohne Versicherung; dies gilt fast für jede Art des vertraglichen Versicherungsschutzes.
Im Falle einer italienischen Parallelwährung würde eine solche Wirkung dann entstehen, wenn die Notenbank eines mit seinem Exit spielenden Landes mit Absicht und bösem Willen Geld schöpfen würde und anschließend damit ausländische Vermögenswerte finanzierte, was Italien durchaus beabsichtigt. Im europäischen Target-System würden durch ein solches Verhalten ein Target-Guthaben entstehen, den das Land nach dem Austritt aus der Eurozone möglicherweise nicht begleichen würde bzw. diese Tatsache, zumal rechtlich durchaus möglich, in seinen Verhandlungen gegen die Gemeinschaft einsetzen würde. Das Drohpotenzial ist also nicht gering und ließe sich leicht als enormer politischer Druck durch weitere Trittbrettfahrer des Moral Hazard innereuropäisch erhöhen. Das böse Spiel, welches zur Zeit durch Salvini, der nicht einmal italienischer Ministerpräsident ist, sondern lediglich ein politisch kastrierter Innenminister, hat die offen und mehrfach bekundete Zielrichtung, die EU über den Druck auf den Euro so zu verändern, dass die italienische Spielart der Modern Money Theory EU-Verfassungsrang erhält, mindestens stillschweigend gebilligte Alltagspraxis werden kann.
Dem muss aber nicht nachgegeben werden. Weder muss die Summe der Target-Forderungen der Bundesbank Angstschweiß auslösen, noch sind diese Forderungen eine Ewigkeitsposition, wenn die Regierungen der Eurozone sich zu einer Reform durchringen würden. Den italienischen Nervereien und den etwaigen Trittbrettfahrer könnte man sehr einfach den lauen Wind aus den Segeln nehmen, indem der Rat die Offenmarktaktivitäten der nationalen Notenbanken einstellt bzw. diese in die EZB-Zentrale verlegt. Der Effekt wäre radikal, denn damit würden alle Target-Salden verschwinden. Auch könnte man aus den USA und deren District-Fed-Struktur lernen und zum Modus Operandi der Frankfurter Notenbankzentrale machen. Dann gilt auch hier die Struktur regionaler Salden, die in der Regie der EZB in temporären Abstanden sich wiederholend ausbalanciert werden müssten und somit dem bisherigen Target-System die notwendige Anpassung an eine Lage erlaubt, die die eigentliche Stärke des Target-Systems, seine Unabhängigkeit, zum Moral Hazard missbraucht.
Was Krahnen vorschlägt ist eine Reform des europäischen Notenbanksystems, deren Notwenigkeit wie aus dem Begriff gemalt die Not der narzisstischen Übertreibung einzelner Politiker wendet. Eine stärkere Integration der Euro-Zone war ja bereits bei der Gründung des Euros im Hinterkopf und welche Strukturreform wäre besser geeignet, als eine in Anlehnung an das US-District-Fed-System, am besten noch verbunden mit einer, dem US-Fedwire und CHIPS angelehnten, institutionellen Struktur4. Mit einer Reform zu mehr Integration im Euro-Bankensystem wäre im ersten Schritt damit die Rolle und die Funktion der EZB im Target-System gestärkt und die der Notenbanken minimiert und wie es aussieht, wird gerade dieser Schritt zurzeit vorbereitet. In der Folge dieser Reform wären dann im Kapitalverkehr die Bundesbank und z.B. die Banca d’Italia nur noch Zentralbankfilialen, bei denen keine Positiv- oder Negativsalden mehr entstehen würden und sollte in dr Zukunft wieder eine Phase eintreten, in der die EZB neue Anleihenkaufprogramme auflegen müsste, was sehr wahrscheinlich ist, würden diese Programme nicht länger dezentral über die Notenbanken abgewickelt, sondern zentral von der EZB selbst und es würden daraus fortan keine Target-Salden entstehen.
Das bisherige Target-2-System erfüllt gewissermaßen die gleiche Funktion wie die US-Fedwire Securities Services und das US-Clearing House Interbank Payments System und ist entstanden auf der Basis eines Verbundes politisch autonomer Entscheidungsträger mit der Maßgabe, das System und damit das gesamte Euro-System nicht durch übermäßige Risiken zu beschädigen. Dieser recht einfache Gedanke, dass alle im Euro-Raum wie in einem Boot sitzen kann natürlich nicht funktioneren, wenn einige der 28 Regierungen in unterschiedliche Richtungen paddeln. Die Funktion eines regelmäßigen Saldenausgleichs ist ja, Risiken bzw. die Risikobereitschaft und die Beziehung zwischen Risiken und Funktionieren des Gesamtsystems einzuschränken; dies hielt man bislang nicht für notwendig und überließ diese Risikobegrenzung der Einsicht der Regierungen.
Nun muss man aber stets bedenken, vor welchen Problemen die EU in ihren Integrationsbestrebungen auch wirtschaftlich schwächerer Staaten steht. Da macht es sich Thomas Mayer zu einfach in seiner pessimistischen Grundstimmung, wenn er nur die Zukunft der Deutschen Bundesbank fokussiert:
„Es wäre naiv, zu erwarten, dass die anderen Zentralbanken und ihre Regierungen der Ablösung von Target 2 durch ein erweitertes System mit Saldenausgleich, nennen wir es Target 3, freiwillig zustimmen würden. Um dies durchzusetzen, müsste die Bundesbank einseitig erklären, dass sie Target 2 schließen und Zahlungen künftig nur noch über Target 3 abwickeln wird. Dazu bräuchte es aber politische Rückendeckung.5
Risikoteilung in der Eurozone wird auch in Zukunft eng verknüpft bleiben mit einem großen Engagement in geldpolitischer Solidarität, was nichts anderes meint, als in der Gemeinschaft wirtschaftlich sehr unterschiedlich entwickelter und erfolgreicher Staaten für den Zugang aller Staaten zu den Kapitalmärkten den günstigsten Bedingungen zu sorgen. Was machte es denn für einen Sinn, Staaten in die EU zu integrieren und sie dann auf den Kapitalmärkten vor geschlossene Türen zu stellen? Das macht weder Sinn für die Eurozone, nicht für die EU und nicht für das neue Mitglied. Es braucht nicht nur Technologie-Transfers, sondern auch Kapitaltransfers zur Entwicklung einer Volkswirtschaft und die gelingt in der Eurozone in Gemeinschaft besser als außerhalb.
Man muss nicht wie Mayer Target-2 als „Wahnsinn“ und als „Finanz-Krake“ beschreiben, noch muss man Angst vor der Zukunft in der Eurozone haben, eher außerhalb. Es ist niemand in Sicht, der seriös daran zweifelt, dass die Integration in den Euro für die Staaten aus der Gründungszeit wie auch für die jüngeren Mitglieder sichtbare Vorteil gebracht hat. Neben vielen anderen Vorteilen stehen die wirtschaftlichen deutlich auf den vorderen Seiten, wobei mehr Handel, tiefere Finanzintegration, günstigere Finanzierungsbedingungen und offenere Kapitalmarktzugänge, erhöhte Preisstabilität und sogar die größere Intensivierung des Wettbewerbs allen Staaten und ihren Regierungen die wirtschaftspolitische Habenseite positiv bilanziert haben.
Wie wir gezeigt haben waren es Regierungen und nicht der Euro, die diese enormen Vorteile wie Tafelsilber im Casino verspielt haben, indem sie diese nicht zur Stärkung ihre Wirtschaft und zur Konsolidierung ihrer Staatshaushalte verwendet haben. Unwissend oder zynisch in Hybris haben Regierungen die außerordentlich guten und günstigen Finanzierungsbedingungen, die ihnen die EU und der Euro geboten haben dazu benutzt, die öffentlichen Schulden sowie auch den Bereich der privaten Schulden weiter zu belasten. Die Folge davon, und nicht die einer unterstellten Euro-Krise, war die Schieflage ihrer Volkswirtschaften und Haushalte, deren Neigung nur mühsam in der Gemeinschaft vor dem Umkippen bewahrt werden kann.
Nach wie vor gibt es den Anreiz für die regionalen Notenbanken, aus ihrem Zuständigkeitsbereich Kredite an riskante Kunden zu billig zu vergeben und weit über über dem Maß ihrer Eigenkapitalabsicherung hinaus Staatsanleihen im Depot zu halten. Die Erfahrung mit dem europäischen Bankensystem zeigt mittlerweile aber eine, mit den Target-Salden wachsende Schwachstelle, die die europäischen Regierungen beseitigen muss und wird, wenn auch bei vielen contre couer. Diese Schwachstelle ist nicht am derzeitigen Haushaltsstreit mit der italienischen Regierung umschrieben, sondern geht weit darüber hinaus an die Grenze zur Gefährdung der Existenz der Währungsunion. Die Schwachstelle ist die Aushebelung des marktwirtschaftlichen Haftungsprinzips, wie wir dies an verschiedenen Stellen bereits beschrieben haben, die nun überdeutlich sichtbar wird in ihrer gesamten Sprengkraft für die Währungsunion, wie sie zurzeit besteht.
Dass Italien seinen Haushalt so sehr über die Maßen und den von Italien selbst unterschriebenen vertraglichen Bedingungen der Gemeinschaft ausgedehnt hat und heute die Ausgabe von Mini-Bots vorbereitet sowie Vereinbarung zur Erhöhung der Mehrwertsteuer im Lande und zur Einhaltung der Schuldengrenzen schlicht missachtet und damit mehrfach vertragsbrüchig geworden ist und vorhat, dies auch in Zukunft nicht zu unterlassen, liegt allein daran, dass das marktwirtschaftlich Haftungsprinzip nicht zur Anwendung kommt. Diese Anwendung erreicht man aber heute nicht mehr durch Sanktionen und Strafverfahren, sondern allein durch Marktprozesse, die durch an die Marktprozesse angemessenen Rahmenbedingungen einer Gemeinschaft überhaupt zur Geltung gebracht werden. Und dabei spielt es keine Rolle, ob man dem marktwirtschaftlichen Haftungsprinzip ungeteilt positiv oder kritisch gegenübersteht.
Haftung im Markt meint, hier im Falle von Regierungen, die sich einer immer einflussreicheren Politischen Ökonomie bedienen, für die Konsequenzen einer schlechten Wirtschafts- und Haushaltspolitik auch zu haften. Die Verantwortung, was ja lediglich den umgekehrten Fall der Haftung darstellt, der italienischen – wie jeder anderen – Regierung für die Währungsunion ist, dass ihre Politische Ökonomie die gesamte Währungsunion gefährdet, mindestens stark belastet durch deren hoher Verschuldung und Belastung der Ausfallsicherheit. Die italienischen Regierungspolitiker wissen genau, dass der Eigenkapitalsockel ihrer Notenbank nicht ausreicht für ihre Wirtschafts- und Haushaltspolitik. Nach dem Motto: to big to fail strapazieren sie die Banken der drittgrößten Volkswirtschaft im Euro-Raum so sehr, dass die Stabilität des gesamten Finanzsystems in der Eurozone mit italienischen Problemen angesteckt wird.
Dieses Anreiz- und Ansteckungsphänomen lässt sich nur durch die Wiederherstellung des Haftungsprinzips innerhalb der Eurozone lösen. Aber was bedeutet dies und wie kann dieses Kernprinzip der Marktwirtschaft wiederhergestellt werden? Es bedeutet zunächst, dass die Gemeinschaft einsieht, dass das Experiment einer marktwirtschaftlichen Wirtschaftsunion aus autonom agierenden Staaten dann gescheitert ist, wenn einzelnen Regierungen sich gegen die vereinbarten Marktbedingungen stellen, gegen diese agieren. Das freie Prinzip des autonomen politischen Handelns muss natürlich die Haftungsfrage für die Konsequenzen dieses Handeln als „Grenznutzenprinzip“ des Handlungsprinzips selbst vertraglich sicherstellen. Aber nicht in den Maastricht- und den Lissabon Verträgen, wo dies alles notiert ist, sondern in den vertraglichen Bedingungen des alltäglichen Handelns der Politischen Ökonomie.
Das kann also nur da wirksam Bestand haben, wenn vor der Ausgabe von Staatsanleihen bereits in den Anleihebedingungen unwiderruflich festgelegt wird, dass Gläubiger einen Teil ihrer Ansprüche verlieren bis hin zum Totalverlust, wenn der Schuldenstand eines Staates relativ zum Bruttoinlandsprodukt ein vorab bestimmtes Niveau überschreitet; im vorliegenden Fall ist ja die gemeinschaftliche Vereinbarung auf ca. 60 Prozent vom BIP festgelegt, die Italien um mehr als das Zweifache überschritten hat – Europa kann natürlich über die Hohe und den Zeitraum, die fixierte Grenz zu erreichen, Übergangsvereinbarungen verhandeln. Wesentlich ist, dass Anleger von Anfang an wissen, wie hoch ihre Risiken sind und wann es für ihre Investments gefährlich wird. Und dann ist das marktwirtschaftliche Haftungsprinzip wieder voll wirksam, wenn die Anleiherenditen, deren Kurse im Markt zugleich fallen und der ausgebende Staat bzw. dessen Regierung seinerseits früh genug weiß, wann es gefährlich wird und gegen die Risiken des eigenen Handelns noch gegensteuern kann; und für die Bürger dieses Staates wird eine Transparenz in die Politische Ökonomie eingeführt, die ihren politischen Entscheidungen bei der Wahl ihrer politischen Vertreter im besten, demokratischen Sinne hilft und Politik nachvollziehbar macht.
Um die mit dem Haftungsprinzip auf Staatsebene in letzter Konsequenz verbundene und auf staatspolitischer Ebene, der Ebene der Politischen Ökonomie, als die ultimativ vorgestellte Grenze ihres Handelns als Staatsinsolvenz zu vermeiden, muss wenig hinzugefügt werden. Grundsätzlich hat es wenig Intelligenz, gegen den Moral Hazard der Drohung mit dem Zusammenbruch des Eurosystems aus dem Gendanken: to big to fail mit der nicht weniger unmoralischen Drohung einer Staatsinsolvenz zu Felde zu ziehen. Staatsinsolvenz, selbst die Drohung damit ist keine auch nur ansatzweise funktionierende Problemlösung6.
Die Idee eines Insolvenzregimes mag auf den ersten Blick gut klingen und wird auch besonders von im wirtschaftspolitisch eher linken als auch im liberalen Lager mit lauter Zustimmung quittiert. Die Vorstellung hinter dieser Idee dabei ist, dass Staaten mit einem ordentlichen Insolvenzregime, also einem geregelten Insolvenzverfahren, ihre öffentlichen Schulden durch die privatrechtlich Haftung ihrer Investoren reduzieren könnten und sich damit mehr Raum für eine expansive Fiskalpolitik verschaffen könnten, die romantischerweise an den Glauben festhält, dass eine derartige Politische Ökonomie auf mehr Beschäftigung und größeres Wirtschaftswachstum abzielt. Mithin würden Banken und Privatvermögende sowie institutionelle Anleger ins Risiko und direkt für ihre schlechten Kredite in die Haftung genommen und die Steuerzahler anderer Staaten müssten im Krisenfalle nicht in die Bresche springen. Diese marktwirtschaftliche Träumerei, die die privatwirtschaftlichen Haftungsregeln in die Haushaltskalküle der Regierungen überträgt, hat als erster prominenter Vertreter der wissenschaftliche Volkswirte Zunft der linke US-Ökonom Joseph Stiglitz ersonnen7.
Das Haftungsprinzip wie wir es verstehen, muss keine direkte Verbindung mit einem Insolvenzregime beinhalten, was auch unvernünftig und überflüssig wäre. Die Neuformulierung der Anleihen Bedingungen hätte bereits genügend disziplinierenden Charakter und braucht keine Drohung mit einer Staatsinsolvenz mehr. Die Staaten wären damit bereits ausreichend und effektiv der Disziplin der Kapitalmärkte unterzogen und trotzdem blieben Regierungen handlungsfähig. Denn die muss gesichert bleiben, also bringt es wenig, die Politische Ökonomie gänzlich der Idee einer liberalen Marktwirtschaft zu unterziehen.
In den letzten Jahren hat sich die Frage des Haftungsprinzips auf einen andere, die Ebene der Tragfähigkeit von Staatsschulden bzw. deren Nachhaltigkeit verschoben. Die Berechnung der Schuldentragfähigkeit dreht sich nun um eine unterstellte Relation zwischen Staatsschulden und verschiedenen Kriterien, nämlich die Prognose des zukünftigen Wachstums, der Zinsentwicklung, oder der Inflationsentwicklung. Bei der Berechnung der Tragfähigkeit von Staatsschulden geht man also davon aus, dass mit der Annahme eines oder mehrerer dieser Kriterien die zukünftigen, staatlichen Finanzierungssalden entweder gleichbleiben, zunehmen oder abnehmen, und wenn die Schulden bzw. die Schuldenquote nach dieser Berechnung dauerhaft zunimmt, sind die Staatsschulden nicht nachhaltig bzw. nicht tragbar.
Angeführt vom IVW haben aber diese Berechnungen gezeigt, dass sie eher hellseherische als faktische Implikationen beinhalten, etwa wie eine Wetterprognose, die umso stabiler ist, je stabiler die Großwetterlage ist. Aber in eiben diesen Fällen, wenn der Landwirt oder der Spaziergänger sie am meisten braucht, nämlich bei instabiler Wetterlage, die Prognose leider ebenso instabil ist. So hat diese Erfahrung stillschweigen einen Konsens ausgebildet, nämlich als dominantes Kriterium die Referenzzinssätze in die Schuldenformel einzusetzen. Demnach lauten die Relation in der Gleichung nun, dass bei steigenden Zinsen, Investitionen, Wachstum, Beschäftigung und Steuereinnahmen einbrechen und sich deshalb in der Folge das Haushaltsdefizit vergrößert. Gleichzeitig wird für den Staat auch durch steigende Zinsen der Schuldendienst teurer und wir haben das sog. Zwillingsdefizit, was dazu führt, dass die Schulden immer schneller ansteigen.
Wir haben die Zins- und auch die Zwillingszinseffekte von verschieden Seiten her betrachtet und dabei herausgefunden, dass einige der impliziten Annahmen nicht hinreichend sein können. In diesem Fall reicht der Hinweis darauf, dass selbst für Staaten mit nachhaltigen Schulden, die Zinsen auf den Kapitalmärkten steigen können, was wiederum darauf verweist, dass die Kapitalmärkte sich nicht allein nach den Berechnungen der Schuldentragfähigkeit des IWF und den mit ihm theoretisch sympathisierenden Ökonomen richten.
Die Krux mit den Staaten ist, dass sie zwar zahlungsunfähig, aber nicht insolvent werden können. Denn wie soll man Insolvenz bei Staaten messen? Es ist nun so, dass die Zahlungsunfähigkeit eines Staates dann eintritt, wenn eine nicht genau bekannte Anzahl von Gläubigern von einer zukünftigen Zahlungsunfähigkeit ausgehen und dem Staat keine neuen Kredite mehr einräumen bzw. ihrer Forderungen nicht mehr verlängern. Diese für einen Staat fatalen Markterwartungen führen dann zu stark steigenden Zinsen, die ein Staat am Ende nicht mehr bedienen kann. Dann sind die Schulden irgendwann nicht mehr tragfähig und man spricht von einer Insolvenz, gleichwohl ein Staat noch jede Menge an Vermögen besitzt, welcher er im Prinzip auch zu Geld machen könnte, seine Infrastruktur und kulturellen Vermögen z.B.
Würde er diese Vermögen aber liquidieren, würde der Staat sich selber abschaffen. Aber wohin dann mit seiner Wirtschaft und seinen Bürgern? Der Staat könnte auf dem Weg einer Ausgabenreduzierungen Gehälter und Pensionen seiner Staatsdiener streichen bzw. reduzieren. Aber das würde die private Kaufkraft so sehr dezimieren, dass dieses Verhalten sofort auf die Privatwirtschaft durchschlüge und Massenarbeitslosigkeit die Folge wäre. Spätestens hier treten die Vertreter einer Disziplinierung der Staaten durch die Märkte auf die Bühne und preisen diese laut als präventive Rettung vor ausufernden Schulden. Aber sie treiben damit lediglich den Teufel mit dem Beelzebub aus.
In solchen Fällen würden die Märkte genauso handeln, wie in Fällen privatwirtschaftlicher Zahlungsunfähigkeit und den Staat gewissermaßen „vom Markt nehmen“. Spekulationen gegen einen Staat sind dann auch kaum noch mit den sog. Schuldenschnitten bzw. einem Insolvenzregime aufzuhalten; wir haben das im Falle der Staatspleite von Griechenland erlebt, die auch hätte schlimmer für Griechenland ausgehen können. Griechenland hat die Eurozone zum Nachdenken gebracht, Nachdenken darüber, was ein Insolvenzregime anrichten kann, wenn bei größer werdender Wahrscheinlichkeit eines Zahlungsausfalles die Refinanzierungsbedingungen verschuldeter Staaten sich auch dadurch noch verschlechtern, dass die sog. Nehmer- oder Peripheriestaaten relativ zu den Geber- bzw. Kernstaaten sich exponentiell verschlechtern und relativ schnell Investitionen und Wirtschaftswachstum so sehr erdrücken, dass eine Erholung, die ja Ziel sein soll, täglich weiter außer Reichweite geräte.
Im Fazit heißt also ein Festhalten an einem Insolvenzverfahren für Staaten, dass unter der Marktdisziplin Investoren noch viel schneller jede weitere Finanzierung einstellen, als bisher schon. Wann immer die Finanzmärkte nervös werden und das muss gar nicht im Anschein einer kommenden Zahlungsunfähigkeit sein, sondern kann bereits aufgrund einer drohenden, stärkeren Rezession eintreten, oder wegen Schwierigkeiten auf Finanzmärkten in einem mit dem verschuldeten Staat wirtschaftlich und politisch eng verbundenen, anderen Land, sogar wegen eines heftigen, politischen Skandals oder einer deutlichen Revision ökonomischer Daten. Alles das ist auch gar nicht so weit weg von der Realität und wir erleben bereits ein wenig davon.
Was wir erleben, ist nicht nur die wirtschaftliche Vernetzung von global ausgerichteten Unternehmen, nicht nur die Vernetzung der Kapitalmärkte, sondern auch eine finanzpolitische Vernetzung, die das Haftungsprinzip aus der sog. Individualhaftung ausdehnt und in eine Art nicht-vertraglicher, zwischenstaatlicher Bürger-Haftung verschiebt; aber weder geschieht dies bislang geregelt noch auf juristischen Grundlagen. Die Eurozone besitzt zwar ein Regelwerk mit dem eine zwischenstaatliche Haftung ausgeschlossen ist, aber keine rechtlich formulierte und politisch getragene fiskalpolitische Beistandsregelung. Was Europa anstelle eines interstaatlichen Haftungsprinzips hat, ist das sog. OMT-Programm.8
[sidebar]
[title]Begriffe – Anmerkungen – Titel – Autoren[/title]
Parallelwährung – Moral Hazard – CHIPS – Haftungsprinzip – Insolvenzregime – Zwillingsdefizit
1 Paul Krugman: Who Has Draghi’s Back? In: The New York Times – The Opinion Pages, abgerufen am 16.06.2019
2 Albert Funk in: Target 2 Billionen-Bombe oder Panikmache? Der Tagesspiegelabgerufen am 28.09.2018.
Stefan Kaiser in: Geldforderungen der Bundesbank Sitzt Deutschland wirklich auf einer Billionen-Bombe? spiegel.deabgerufen am 28.09.2018.
Manfred Schäfers in: Target-Salden : Deutschland sitzt auf einer Bombe faz.netabgerufen am 28.09.2018.
3 Vgl. Jan Pieter Krahnen SAFE_White_Paper_56 PDF
4 Über Fedwire Securities Services, das für die zeitnahe und sichere Durchführung und Regulierung großer Dollarzahlungen geschaffen wurde, erfolgt die Abwicklung durchschnittlicher Transaktionen in Höhe von mehr als 2.600 Milliarden US-Dollar pro Tag. Damit ist Fedwire das zweitgrößte Clearinghaus für Dollar-Transaktionen hinter Clearing House Interbank Payments System (CHIPS), die privatwirtschaftlich organisiert sind und Transaktionen nach dem Netto-Prinzip bündeln. Zusammen decken Fedwire und CHIPS rund 96 % aller großvolumigen Zahlungen in US-Dollar ab.
Mit Fedwire Funds Services steht ein ähnliches System zur Abwicklung des Wertpapierhandels zur Verfügung (Vgl. Wikipedia).
5 Thomas Mayer in: Ein Wahnsinn namens Target 2 faz.net, abgerufen am 18.06.2019
6 Vgl. hierzu Jörg Krämer: Haftungsprinzip in Kraft setzen. In: Handelsblatt print: Nr. 116 vom 19.06.2019 Seite 056 / Gastkommentar.
7 Vgl. Joseph Stiglitz: We need a fair system for restructuring sovereign debt. In The Guardian, abgerufen am 19.06.2019.
8 OMT steht für „Outright Monetary Transaction, übersetzt etwa „Reine geldpolitische Transaktionen“.
Thomas Mayer (* 3. Januar 1954, Backnang
[/sidebar]