Wir werden an Schulden gewöhnt. Sind wir das bereits? Sicherlich nicht in Deutschland. Deutschland ist, was Schulden angeht, sicherlich noch eine Ausnahme. Sowohl der Grad der Verschuldung ist hier schnell ein Politikum, wie auch die Rede vom Schuldenmachen. Oft wird der generative Aspekt von Schulden moniert, wobei Deutschland im Vergleich nicht gerade als das kinderfreundliche Land gilt. Nur Schulden will der Deutsche nicht vererben. Dann doch lieber ein Eigenheim. Vor nicht allzu langer Zeit tat es auch ein gut gefülltes Sparbuch. Aber das hat zwischenzeitlich zwar nicht ausgedient, aber es erfüllt den Zweck nicht mehr, da es keine Sparzinsen mehr bringt. Am liebsten hätte der Deutsche sein Sparbuch wieder zurück, aber darauf wird er wohl noch warten müssen. Die meisten Ökonomen zählen von heute an noch zehn, manche sogar zwanzig Jahre mit niedrigen Zinsen und einige zeigen sogar auf Japan und sind der Meinung, attraktive Sparzinsen wir noch vor fünfzehn Jahren werden die Deutschen nicht mehr erleben. Und das gilt für alle Europäer und Asiaten. Natürlich auch für Amerikaner. Aber die hatten ja nie Sparbücher und also sind sie an den Auswirkungen einer Nullzinspolitik längst gewöhnt. Sie macht schlicht keinen Unterschied für Menschen, die ihren Konsum auf Schulden bestreiten.
Nicht erst seit dem G20 Gipfel im Juni 2019 scheint sich innerhalb der sich selbst zur Institution der Weltwirtschaft erklärten Regierungsgruppe die Auffassung durchgesetzt zu haben, dass ein Umschwimmen oder Durchtauchen des Schuldenstrudels nicht mehr möglich ist. Selbst ehemalige Kritiker wie Jens Weidmann, Bundesbank-Präsident und gehandelter Nachfolger von EZB Chef Draghi, haben ihre klaren Bekenntnisse gegen eine expansive Schuldenpolitik weitgehend aufgegeben, weniger wohl in der Sache.
Dieser expansiven Schuldenpolitik wird ein Weg eingeräumt mit dem Argument, dass die Kosten für neue Schulden geringer geworden sind und auch die Risiken. „Die Kosten sind niedriger. Die Risiken sind auch niedriger. Es gibt keine Schuldenkrise.“ (Blanchard in Sintra 2019) Ein circulosus vitiosus oder wie man anderweitig auch sagt, eine self fulfilling prophecy. Das Wesen dieser selbsterfüllenden Vorhersage ist, dass die mathematischen Berechnungen, die sich im neuen Schuldenpostulat befinden, das Postulat an sich nicht berühren, sondern dass die Berechnung und die Erwartung am Ende auch übereinstimmen. Aber stimmt das auch? Sind solche Abbildungsmodelle zwischen Berechenbarkeit und Erwartbarkeit, die in jeder Prognose enthalten sind, auch die richtigen Modelle zur Steuerung wirtschaftlicher Verhaltensweisen?
In der Sache hat eine Aussage sicherlich einen hohen, empirischen Wert; die Zinsen, ganz allgemein gesehen, liegen heute deutlich unter dem Stand, den sie vor dem Ausbruch der Finanzkrise anzeigten. Das haben wir ausführlich beschrieben als ein Effekt der expansiven Geldpolitik, also einer Politik des staatlichen Schuldenregimes. Was in den Kreisen der Befürworter der neuen Geldpolitik zwar nicht übersehen werden kann, sogleich aber übergangen wird mit Hinweisen auf die USA, auf China und Japan, ist die Tatsache, dass die expansive Geldpolitik in den USA, China, Japan und Europa gerade den Staat am meisten begünstigt, der die rigideste Haushaltsdisziplin von sich und seinen föderalen Mitgliedern einfordert und dies sogar ins Grundgesetzt geschrieben hat, Deutschland.
Deutschland könnte Schulden machen, sogar ehebliche Neuschulden und die Investoren würden sogar Geld dafür bezahlen, daran mitwirken zu dürfen; wie lange dieser paradiesische Zustand für den deutschen Finanzminister noch anhalten wird, mag niemand zu sagen, aber bereits heute reicht der Zeitraum aus, um nachdenklich zu machen. Die Kapitalaufnahme der Bundesrepublik Deutschland befindet sich in einem seltenen und hoch erfreulichen Zustand; was aber kein Wunder ist. Denn Investoren, die in private wie in öffentliche Schuldner investieren, sind an liquiden und zuverlässigen Schuldnern interessiert, und nicht nur daran. Das mathematische Zahlenwerk interessiert sie zweitrangig. Primär zählt für sie die Renditeaussicht, die sich aus der langfristigen Perspektive eines profitablen Investments ergibt.
Weltweit, aber dominierend in und aus den USA nach Europa einreisend sind die Auffassungen von Ökonomen, die in einer immer breiter werdenden Übereinstimmung fordern, dass kreditfinanzierte Investitionen sich primär an den Wachstumspotenzialen von Industriestaaten und Schwellenländern ausrichten sollen. Das klingt überzeugend, ist aber ein recht alter Hut, wäre da nicht die Idee eingesprenkelt, dass dies in Regie von Regierungen geschehen sollte. So ist natürlich Deutschland als allererstes Land wieder aufgefordert, sich zu verschulden. Selbst der IWF ist also der Meinung, nicht auf die Wirtschaft selbst kommt es an, wann, wo und in welchem Ausmaß investiert werden sollte, sondern der Staat sollte ein Übriges dazu tun, ja die eigentliche Wirtschaftsentwicklung so fördern, dass Schwellenländer und Entwicklungsländer am Weltwirtschafswachstum partizipieren können.
Diese Auffassung wird heute offensiv vertreten, weniger offensiv wird auf die steigende Schuldenlast seit der Finanzkrise hingewiesen. Die ist gestiegen, um 72 Prozent höher verschuldet sind die Staaten der G20, also jene Länder, die die Regierungsgruppe als Kompetenzcenter der Weltwirtschaft auf ihren festlichen Gipfeln rund um die Welt vertritt. Im gleichen Zeitraum von 2009 an gemessen, sind nicht nur die Schulden der wichtigsten Industrie- und Schwellenländer gestiegen, sondern die Wirtschaftsleistung (BIP) nur um 31 Prozent gewachsen ist. Das hat dazu geführt, dass in den Staaten der Weltwirtschaftsregierungen die Staatsschuldenquote bei über 80 Prozent liegt, was natürlich mathematische Ausreißer nach oben und unten einschließt.
Nimmt man die Berechnungen des Institute of International Finance für 2018 in die Hand, dann zeichnet sich ein bedrückendes Gesamtbild aller Schuldenstände. Denn das Institut fasst zurecht alle Schulden zusammen, die auf der Weltwirtschaft lasten, also von Staaten, Unternehmen und Privathaushalten, und kommt auf Verbindlichkeiten in Höhe von 317 Prozent der Wirtschaftsleistung. Dieser Stand ist nicht weit entfernt von dem bisherigen Rekordwert aus dem Jahr 2016 in Höhe von 320 Prozent und deutlich von dem Japans, was auch bedeutet, dass in summa die expansive Geldpolitik wenig an Optimismus bewirkt hat.
Will man Aussagen über die möglichen Auswirkungen von Schulden machen, sollte eine moderne Politische Ökonomie daher zuerst alle Schulden in den Blick nehmen. Die öffentlichen und privaten Schulden zusammen lassen den o.g. Durchschnitt der Staatsschuldenquote von 80 Prozent gleich in einem völlig anderen Licht erscheinen. Nehmen wir zur Illustration dieses Gedankens einmal einen Blick auf die chinesische Schuldenstruktur, dann sehen wir, die Staatsverschuldung in der zweitgrößten Volkswirtschaft der Erde liegt bei vergleichsweise moderaten 50,5 Prozent des BIP. Rechnet man aber die privaten Schulden hinzu, kommt man auf eine Gesamtverschuldung von mehr als 250 Prozent der Wirtschaftsleistung und die Sache sieht schon anders aus, hat eine Dimension wie in Japan. Nur Japan hat seine Schulden bei seinen Bürgern und kommt bei Investoren deshalb noch ganz gut weg. Chinas Schulden sind neben den Schulden des Staates private Immobilienkredite einer erst seit Kurzem aufsteigenden Mittelschicht und eine nicht genau bekannte Summe an außerhalb der Bilanzen geparkten Schulden regionaler Provinzen, die man durchaus als Schattenhaushalt bezeichnen darf. Jedenfalls tut dies in ähnlicher Form auch die Ratingagentur Standard & Poor’s, die 2018 die gesamte Größe dieser verschatteten Schulden auf sechs Billionen Dollar taxiert hat. So sehen die finanziellen Verhältnisse der zweitgrößten Volkswirtschaft der Erde nicht ganz so optimistisch aus.
In der Gesamtbetrachtung der Schuldenstruktur liegt auch die Möglichkeit, überhaupt das besondere Risiko zu erkennen, das in der gleichzeitigen, parallel sich ausbreitenden Schuldendynamik entwickelt. Natürlich müssen Schuldenstruktur und Risikostruktur gemeinsam ins Kalkül, will man die Möglichkeit ökonomischer Krisen vorstellen. Der Trigger für einen volkswirtschaftlichen Schock kann darin von einem unkalkulierbaren Momentum ausgehen. Ob etwa der Handelsstreit zwischen den USA und China solch ein Trigger werden kann, ist ungewiss. Gewiss aber ist, dass, wenn es in China zu Wachstumskrisen kommt, dann sind auch Chinas Handelspartner und die mit der chinesischen Fertigung vernetzten Unternehmen direkt betroffen. Eine bilaterale Angelegenheit ist der Handelsstreit also nicht und das weiß auch die Politische Ökonomie der USA zu nutzen. Es ist kein Zufall, dass die G20 Gipfel seit Trumps Präsidentschaft zu kleine, privaten Vieraugentreffen degeneriert sind, ist dies die Art der Deregulierung sowohl des G20 Formats wie auch der Weltwirtschaft.
Neben dem weltweiten Handel und der Globalisierung sind natürlich auch weiterhin die Anleihenmärkte solch ein Trigger. Steigen hier die Zinsen, wäre die Party für viele Unternehmen und Staaten vorbei. Aber wer will schon vor Mitternacht die Party verlassen, zumal wenn neue Gäste, frischer Champagner, Girls und Live Music unterwegs sind. Es ist nicht so, dass die Märkte bzw. die Investoren ihr Sensorium für die Risiken verloren oder vergessen haben; das Gegenteil ist der Fall. Es waren gerade die Großinvestoren, die in den letzten Jahren in den USA und in Europa dafür gesorgt haben, dass eine Ausweitung der Schulden auch eine deutlichere Risikobegrenzung nach sich ziehen musste. Und sie waren erfolgreich mit ihren Bemühungen der Risikobegrenzung.
In Europa wurde die Haftungsschranke der an den Hilfs- und Rettungsprogrammen teilnehmenden Staaten ausgeweitet und es sind eben diese Staaten, die die Schuldengrenzen fröhlich übertreten, auch von der Allgemeinheit mit in die Haftung genommen werden, insofern nun diese Allgemeinheit auch in die Haftung genommen wurde. Das klingt widersprüchlich, ist es aber nur bei einer Betrachtung, die selbst widersprüchlich ist. Wie kann man eine Gemeinschaft entwickeln und die Haftung für negative Prozesse dieser Entwicklung versuchen abzutrennen von allen anderen Entwicklungen? Das geht nicht. Das ist ein fundamentales Missverständnis, dass man bürgerliche Rechte auf Staaten übertragen könnte.
Die Haftungsfrage als eine Frage der Beziehung zwischen Bürger und Staat ist natürlich immer rekursiv wie alles andere in dieser Beziehung auch. Es sind immer die Bürger im Sinne einer Gesamtgemeinschaft, die als Staat für das, was ihre gewählten oder ernannten Vertreter haften. Jeder Versuch einer Privatisierung dieser Haftungsdimension auf den einzelnen, handelnden Vertreter einer Gemeinschaft, sei dies ein Unternehmen, andere Formen von Gemeinschaften wie Vereine etc. oder ein Staat kann nicht gelingen und gehört ins Reich der Illusionen. Den Bürger schützt das Bürgerliche Gesetzbuch von einer Haftung für das, was ein anderer getan hat. Wählen die Bürger eines Staates eine Autokraten an die Spitze, haften sie auch für dessen Politik.
In der EU dauert es zwar lange, bis die Einsicht in diese eigentlich triviale Erkenntnis sich durchgesetzt haben wird, aber es ist erkennbar auf dem Weg. Dabei sind nicht nur die Bürger Europas mit dieser Idee wenig vertraut, auch viel politische Mandatsträger haben damit erhebliche Schwierigkeiten.
Wenn heute Regierungen und führende Ökonomen aus dem wissenschaftlichen Bereich für eine Ausweitung der Verschuldung plädieren, gelingt dies einfacher im Diskurs, als niemand dafür in eine Privathaftung genommen werden kann. Aber auch an Inhalt ist dieses Plädoyer schwach, weil niemand die eigentliche Problematik eines neuen Schuldenregimes überblicken will oder kann. Der rückgewandete Erkenntnisprozess hat stets die gleichen Formalien. Man schaut zurück auf die sog. Lehmann-Krise und hält dann fest: es darf nie wieder zu einem Bankenzusammenbruch wie im Falle Lehman Brothers kommen. Es darf nie wieder ein solches, exzessives Kreditwachstum geben, wie das, das zur Lehman-Krise geführt hat. Und Politik muss tunlichst darauf achten, dass die Grenzwerte der Verschuldungskennzahlen im Finanzsystem eingehalten werden müssen. Das sind die „Lehren“, die aus Krisen gezogen werden; das nächste Missverständnis von Schulden und Haftung ist darin schon angelegt.
Was die Politik gerne verschweigt, die Ökonomik aber anscheinend nicht wirklich begriffen hat, ist die Tragweite der Ursachen der weltweiten Finanzkrise, die sich aus einer Idee der Politischen Ökonomie der USA heraus entwickelt hat. Diese Idee, dass jeder US-Bürger zu einer Immobilie und also zu Vermögen kommen sollte, auf einem leichten Weg der Schuldenfinanzierung dieser Immobilien durch niedrige Zinsen bei gleichzeitig minimaler Haftung haben wir eingehend dargelegt. Der Ursprung der weltweiten Finanzkrise war also eine politische Idee, die verheerende Auswirkungen in den USA und danach auch in Europa hatte und ganz im Sinne unserer Ausführungen wie ein Trigger wirkte, dessen Momentum im Jahr 2008 sichtbar wurde, dessen rekursive Prozesse aber lange vorher sich durch die Banken und Versicherungen in und über das Territorium der USA hinaus akkumuliert haben. Die Verschuldung der privaten Haushalte kam wie so oft vor Ausbruch einer Krise auf dem Umweg über zahllose Verbriefungen und Versicherungspolicen, die ja die Risiken und damit die Haftung beschränken sollten in die USA zurück und wie immer dort mit negativem Vorzeichen.
Was so eben noch ein lukratives Geschäft war, wurde in den Kernreaktoren der Bankenwirtschaft in zahllose Produkte aufgespalten, kombiniert und weiterverkauft und auf diese Weise zu einem unkalkulierbaren Risiko; und das ging im Bankhaus Lehman Brothers hoch. Genau gesagt, tauchte es dort zum ersten Mal sichtbar geworden auf und dessen toxische, virale Ausbreitung über Banken und Versicherungen sowie dem weltweiten Interbankenhandel hätte durchaus verhindert werden können, wäre die US-Politik und ihre Notenbank beherzt als lender of last resort aufgetreten. Das aber hat sie nicht getan, sie hatte die virale Ansteckungsgefahr innerhalb eine hoch-vernetzten Wirtschaftssektors schlicht und ergreifend unterschätzt. Politik und Notenbank wurden von einer weltweiten Krise überrascht; man glaubt es kaum.
Die Eurozone hat im Nachgang der Finanzkrise eine Form der Gewährträgerhaftung1 eingeführt, was die Investoren in einem Ausnahmefall, den Fall einer drohenden Staatspleite, einen Anspruch auf die Erfüllung seiner Forderungen gegen die Notenbank des Gläubigerstaates und damit gegen die Bürger des Landes gewährt. War es bisher so, dass die Bürger indirekt durch die Nullzinspolitik Schaden trugen, als sie die schleichende Enteignung privater Vermögen durch Streichung der außerordentlichen Gewinnbeteiligungen ihrer Versicherungsverträge und die Reduzierung der Guthabenzinsen auf den privaten Sparkonten hinnehmen mussten, so kommt nun ,mit der Gewährträgerhaftung eine weitere Form der Enteignung der Bürger hinzu.
Die Bürger der Eurozone sind nun direkt am Risiko der öffentlich-rechtlichen Schuldenpolitik beteiligt. Das führt in der Eurozone in solchen Ländern zu anhaltenden Finanzströmen zu günstigen Zinsen und Bedingungen, die diese Länder sonst nicht gewährt bekämen. Insofern ist die Gewährträgerhaftung eines der wichtigsten Instrumente zur Stabilität der Währungsunion. Aber was wird aus dieser Hafungsverschiebung von öffentlichen Schulden in die private Haftung?
Finanzpolitik sollte nicht nur flexibel und wachstumsfreundlich sein. Beides per se macht wenig Sinn. Mehr Sinn macht es, schaut man auf Maßnahmen und Zeiträume, die eine Finanzpolitik vorstellen, deren Ziel nicht mehr ist, einen ausgeglichenen Haushalt zu erreichen.
Nachdem in Japan eine Immobilienblase platzte, lag das Haushaltsdefizit bei moderaten 63 Prozent des BIP. Aus einer Krise auf dem Immobilienmarkt wurde eine handfeste Rezession und die Träumerei, die japanischen Finanzpolitik könnte in relativ überschaubarer Zeit die beginnende Haushaltskrise überwinden, schwanden Rosen im Schnee. Ein Ausgabenprogramm nach dem anderen wurde von der japanischen Regierung aufgelegt, die japanischen Notenbank kaufte wie heute die EZB Staatsanleihen in unbegrenzter Zeit und Höhe – niemand weiß heute genau, wie hoch die Summe dieser Transaktionen wirklich ist. Das Ergebnis ist ein Haushaltsdefizit von knapp 240 Prozent des BIPs.
Japans Bürger sind also an Schulden gewöhnt. Und Japans Bürger sind auch daran gewöhnt, was mit dieser Form der Gewährhaftung immer einhergeht, eine schleichende Enteignung ihrer Privatvermögen. Da stellt sich natürlich die Frage, warum Japans Bürger da mitmachen? Warum sie nicht auf die Straße gehen oder Schlimmeres passiert? Japans Bürger halten zum großen Teil diese Staatsanleihen und wehren sich nicht gegen die schleichende Enteignung, die mit den von der japanischen Notenbank verfügten Minizinsen verbunden ist. Der wenig erfahrbaren, weil langsam fortschreitenden Vermögensverlusten steht eine täglich erfahrbare Wirtschaft zurzeit, die gute Jobs bei Vollbeschäftigung und guter Bezahlung vermittelt. Japans Arbeitslosenquote ist im gleichen Zeitraum von Krisenpeak 2009 bis heute eine Erfolgsstory2. So sehr, dass viele Politiker und Ökonomen das japanische Modell in Teilen zum Vorbild ihrer geldpolitischen Vorstellung werden lassen.
Aber nicht nur eine florierende Wirtschaft kompensiert die Enteignung des Vermögens, auch wissen Japans Bürger, dass eine Straffung der expansiven Geldpolitik zu sehr schmerzhaften und über einen langen Zeitraum als schmerzhaft empfundenen Wirtschafts- und Politikreformen unweigerlich fürhren würde. Um zu einem nicht-schuldengetriebenen Wachstum in Jpans Wirtschaft zu kommen, wären Anpassungsprozesse notwendig, die da, wo sie in anderen Ländern versucht worden sind, nie wirklich gelungen sind. Es ist also ein Vergeblichkeitsphänomen sichtbar, ein scheinbar historisch überholter Sinn von Wirtschaftspolitik, den Geldpolitik nicht mehr erreicht. Japans Bürger haben daher nicht wirklich eine Wahl in einer Zeit, die noch keine neuen Antworten auf die alten Fragen der Wirtschaftsentwicklung zu formulieren in der Lage ist.
Deshalb wird Japan auch als eine Art Gesellschaft mit postmodernem Wirtschaftswachstum betrachtet. Postmodern, weil in ihr sowohl traditionelle, auf bestimmte Methoden, Begriffe und Grundannahmen der Wirtschaft zwar zurückgegriffen wird, dieser Rückgriff aber zugleich eine fast unendliche Relativierung erfährt. Japans Wirtschaft wird als die postmoderne Signifikanz betrachtet, die sich gegen die Grundannahme des Wirtschaftswachstums aus einer relativen Verschuldung behauptet und sogar als eine Form der Alternative entwickelt.
Diese alternative Entwicklung sehen Bürger anderer Volkswirtschaften vielleicht mit einer Mischung aus Angst und fataler Neugier, die Politische Ökonomie und ihr wissenschaftlicher Begründungs- und Legitimationsapparat, die moderne Money Theory, mit völlig angstfreiem Wissenschaftsgeist. Auf der Seite der überwiegend ängstlichen Betrachtung florierender, viraler Schuldenpolitik steht an oberster Stelle Deutschland. Deutschland hat in Europa finanzpolitisch eine Sonderstellung, im weltweiten, wissenschaftlichen Finanzsdiskurs eine Außenseiterposition. Gegenüber dem IWF haben wir das in der Griechenlandkrise vernehmen dürfen und seit Jahren in der Aufforderung: „Deutschland hat den fiskalischen Spielraum und sollte die Möglichkeit nutzen, dass es sich zu negativen Zinsen verschulden kann. Es gibt sinnvolle Investitionsmöglichkeiten.“3
Das klingt überzeugend und wird mittlerweile auch quer durch das Lehrenspektrum selbst der deutschen Ökonomik vertreten. Marcel Fratzscher, Chef des Wirtschaftsforschungsinstituts DIW in Berlin, seine Kollegen Clemens Fuest, Präsident des Münchener Ifo, und Michael Hüther, Direktor des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln, ferner der Düsseldorfer Wirtschaftsprofessor Jens Südekum, sie alle plädieren dafür, das deutsche Finanzministerium solle doch die günstige Zinssituation nutzen und sich verschulden; wann denn sonst, wenn nicht jetzt?
Und wozu sollten die neuen Schulden aufgenommen werden? Natürlich für eine Ausweitung der Investitionen, was klug erscheint. Und sogleich wartete die Wissenschaft auch mit Modellen auf, die trotz der vereinbarten Schuldenbremse eine Erhöhung der öffentlichen Ausgaben erlaube. Von einem „kreditfinanzierten Bürgerfonds“4 bis hin zu milliardenschweren Investitionsprogrammen, die der Staat mit der Ausgabe von Anleihen refinanzieren könnte, reichte die Palette der Ideen. Und stets war der Verweis auf die seit der Finanzkrise sich verändernde weltweite Zinssituation der Vater des Gedankens neuer Verschuldungen. Im Heimatland der Schuldenbremse ist es noch gar nicht so lange her, da hat die Ökonomik vor wachsenden öffentlichen Ausgaben gewahrt. Wie also soll die Geistesumschwung verstanden werden? Hüther wird konkret und verweist auf die Zinssituation in Deutschland, die seiner Meinung nach auch noch lange so wie bisher andauern dürfte. Das heißt, dass die Zinsen vermutlich noch sehr lange so niedrig bleiben und unter dem prozentualen Wachstum des Bruttoinlandsprodukts liegen werden und damit sei auch das politische Postulat, eine Regierung dürfe nicht Schulden auf Kosten zukünftiger Generationen machen, entkräftet; wäre da nur nicht das Wort: vermutlich.
Aber nicht nur die zeitliche Unbestimmtheit der Zinsentwicklung macht die ausgabenfrohe Empfehlung zum Würfelspiel. Einer, der es wissen muss, der Wirtschaftsweise Lars Feld, verweist auf einen anderen Zusammenhang mit politischer und ökonomischer Sprengkraft. Wir haben in den vergangenen Jahren deutlich sehen können, dass die Politik neue oder bestehende Verschuldungsspielräume für alles Mögliche verwendet hat, nur nicht für wachstumsfördernde Investitionen. Diese Schlussfolgerung ist also nicht zwingend notwendig, hinreichen sowieso nicht. Dabei stehen gewiss politökonomische Gründe Pate, wenn eine ganze Reihe an teuren Wählergeschenken die Kassen des Finanzministeriums in Richtung Wählerzielgruppen verlassen und nicht einmal diese Richtung zeigt die gewünschten Effekte. Trotz erheblicher Ausgaben für die vermeintliche Kernwählerschaft der beiden Koalitionäre sind deren Wahlergebnisse ein komplettes Desaster. Die fast schon korrupte Behandlung von Wählergruppen, die an Schmiergeldzahlungen erinnert, mehr als an sinnvolle und bedarfsgerechte Ausgabenpolitik für Rentner und Sozialleistungsempfänger, hatte jedenfalls weder das gewünschte Wahlergebnis, mehr aber noch nichts mit wachstumsfördernder und damit auch generativer Arbeitsplatzsicherungspolitik zu tun.
Deshalb sehen weniger ausgabenfreundliche Ökonomen diese, auf kurzfristige Wahlerfolge ausgerichtete Verteilungs- und Ausgabenpolitik auch wenig positiv. Ihre Skepsis geht zudem noch weiter. „Man muss zudem konstatieren, dass nicht jede staatliche Investition sinnvoll ist, nur weil sie als Investition gebucht wird. Es kommt letztlich immer auf die Sinnhaftigkeit des einzelnen Projekts an.“ (Feld 2019)4 Aber gerade an dieser Sinnhaftigkeit der Politischen Ökonomie müssen erhebliche Zweifel angemeldet werden, und nicht nur in aktuellen Entscheidungen. Bereits in den siebziger Jahren haben staatliche Investitionsprogramme außer Schulden nichts produziert, regionale Investitionsprogramme in Miniflughäfen waren beseelt von blühenden Wirtschaftsregionen um Deutschlands Kleistädte herum; alles eine teure Illusion, die dazu noch verschönert wird, wenn völlig unsinnige Prestigeprojekte über und unter der Erde als Investitionsprojekte beschrieben werden, aber nichts anderes sind als überteure Bauwerke zur Steigerung der Popularität provinzieller politischer Mandatsträger – manchmal ist auch ein wenig personality show dabei wie im jüngsten Fall der relativ unbekannten Forschungsministerin Karliczek, die ihrem Heimatwahlkreis das Geschenk gemacht hat, die Forschungsfabrik für die Batteriezellenfertigung nach Münster zu holen.
Wie immer man von Ökonomen beraten die Investitionsausgaben auch formal organisiert, ob in separaten, bundesstaatlichen Vermögenshaushalten wie Hüther vorschlägt, oder ob man über Infrastrukturgesellschaften Schulden aufzunehmen gedenkt, um Investitionen außerhalb der Schuldenbremse zu finanzieren, alle Vorschläge bleiben beschränkt am politischen Willen und dessen ökonomischer Sinnhaftigkeit.
Wenn Südekum errechnet:„Deutschland könnte locker 25 Milliarden Euro im Jahr mehr ausgeben, ohne die europäischen Schuldenregeln zu brechen“, dann erfüllt dieser Vorschlag bereits den Verdacht der Umgehung der Schuldenbremse und trägt nichts zu der Frage bei, zu welchem Zweck sinnvollerweise Investitionen in die Zukunft getätigt werden sollen. Und eine Antwort auf diese Frage ist allein ökonomische nicht ganz so leicht, sind die Wirkungen der Investitionen in einer so hoch vernetzten Welt nicht mehr planbar. Schöne lineare Verläufe sind in einem System kommunizierender Röhren, bei dem auf jede einzelne Röhre zeitlich und in der Höhe unterschiedliche Druckverhältnisse herrschen, schwer nachzuvollziehen, zumal die Änderungen der Druckverhältnisse nach unlogischen Prozessen sich vollziehen.
Das Momentum der Politischen Ökonomie sprengt gewissermaßen jede Berechnung. Natürlich ist es rein rechnerisch richtig, dass Schuldner mit guter Bonität wie Deutschland bei länger anhaltenden Negativzinsen ein gutes Momentum zur Aufnahme neuer Schulden haben. Rein arithmetisch wäre daher an schuldenfinanzierten Investitionen nichts auszusetzen. Und schon schwillt die Riege der arithmetisierten Lehrmeinungen dramatisch an und vertritt laut und offensiv die Meinung, dass selbst wachsende Verbindlichkeiten in einer solchen Situation unproblematisch, ja sogar sinnvoll wären. In einer Welt zunehmender Unberechenbarkeit schlägt die Stunde in einen Zustand euphorischer Verliebtheit um, wenn am Horizont erneut die Illusion berechenbarer Phänomene erscheint. Doch so sehr auch die Liebe in die mathematische Berechenbarkeit ansteigt, die Ökonomik sollte damit leben lernen, dass Realpolitik nun leider von Menschen mit ihren intellektuellen und auch ihren psychologischen Schwächen gemacht wird und letztlich ihre größten Gefühle dem Willen zur Macht widmen.
Die wieder ausufernden Machtphantasien sitzen seit längerer Zeit auf den Thronen undemokratischer Staaten, sind aber mittlerweile in vielen westlichen, demokratischen Industrieländern angekommen. Die Politikwissenschaft muss sich daran gewöhnen, dass die einstige Zuordnung von nicht-demokratischer Macht mit Diktaturen so nicht mehr notwendig ist. Autokraten vertragen sich einigermaßen gut mit Demokratien und sind durchaus in der Lage, Mehrheiten zu beschaffen. Was wir aber in diesem Kontext fokussieren ist eine Art postmoderner Renaissance von politischer Macht, die nicht nur auf undemokratische Art sich selbst reproduziert, in alle Belange privater Wirtschaft und in die Privatsphären der Bürger eingreift, was allein schon mehr als bedenklich erscheint, sondern die offen und öffentlich als Politische Ökonomie imponiert, ihren Anspruch auf den Primat der Politik mit dem Primat staatlicher Geldpolitik begründet und vertritt.
Dabei wird stets eine Umdeutung sichtbar, die darin besteht, dass die Relation zwischen staatlichen und privaten Schuldenständen in eine Richtung interpretiert wird, die dann als Ausgang quasi kausal von den zukünftigen privaten Schuldenständen die Erhöhung der staatlichen Schuldenstände quasi als einzig mögliche Rettung vorstellt. Natürlich ist der Staat notwendigerweise der zuletzt Handelnde, quasi ein ’subject of last resort‘, wenn die Privatwirtschaft und die Zivilgesellschaft ihren Anteil am gesellschaftlichen Wohlstand nicht mehr zu erbringen in der Lage ist, aus welchem Grund auch immer. Krisen sind durchaus auch mit staatlichen Mitteln zu bekämpfen, dafür hat die Regierung das Mandat.
Aber selbst in ökonomischen Krisenzeiten folgen staatliche Investitionen in vielen Fällen nicht der Logik von Volks- und Betriebswirtschaft, wie etwa bei Programmen wie der Abwrackprämie, sondern der Arithmetik von politischer Macht und Handlungsfähigkeit. Schnelles Handeln hebt das Prestige der Macht aber oft nur kurzfristig, weil meist recht schnell sich erweist, dass staatliche Investitionen nicht per se in die richtige Richtung ausgreifen, sondern oft nur niedrige oder sogar negative Renditen abwerfen, und ganz besonders in Bezug auf das Gemeinwohl.
Aus der Nichtberechenbarkeit ökonomischer Programme leitet die Politische Ökonomie ab, nur sie sei in der Lage, besonders in Krisenzeiten „logisch“ zu handeln; die Nachhaltigkeit der Politischen Ökonomie steht aber nicht nur nach Krisenzeiten in Frage. Das Beispiel Griechenland haben wir notiert, auch um zu zeigen, dass selbst in eine gelpolitischen Umfeld von niedrigen Zinsen, niemand in der Lage ist vorherzusagen, warum gerade zu einem, post festum bestimmten Zeitpunkt, viele in Griechenland investierte Kapitalgeber noch bevor das die Rating Agenturen taten, an der Bonität Griechenlands starke Zweifel ausgesprochen haben. Diese Zweifel bestanden eine Weile bevor dann urplötzlich im Jahr 2009 der Markt für griechische Staatsanleihen einbrach, also sich niemand mehr finden wollte, um dessen Anleihen zu kaufen.
Das Momentum ist eins von Wahrscheinlichkeiten, die auch keine Kennziffer diskriminieren kann. Denn wie es richtig ist, dass zu hohe nominelle Schulden wie auch zu hohe Schuldenquoten, seien diese durch öffentliche oder private Schulden oder beide zusammen bedingt, immer ein gefährliches Stabilitätsrisiko in einer Volkswirtschaft anzeigen, so sagen die Schuldenstände und -quoten aber noch nichts darüber aus, ab welcher Höhe die Krisenindikation wirksam wird. Im Vergleich zwischen Japan mit Griechenland zeigt sich die Obsolenz der Kennzahlen. So sind die Defizitkriterien in Europa schon unterschiedlich zu interpretieren, weltweit sind sie kaum noch als individuelle Kennzahlen nationaler Volkswirtschaften theoretisch anzusetzen.
Warum setzt Europa sich mit einem Defizitkriterium von 60 Prozent des BIPs, also der jährlichen Wirtschaftsleistung ein so enges Ausschlusskriterium, welches bei näherer Betrachtung weder heute noch in Zukunft von den meisten der Staaten eingehalten werden kann?
Europa hat mit der Schuldenquote eine Vorgabe zur Disziplinierung staatlicher Ausgabenpolitik versucht, die die Regierungen in ihrer Ausgabenpolitik begrenzen soll. Mehr als ein Postulat ist dabei nicht herausgekommen. Und, das Postulat behauptet eine Position, eine Messlatte, die mehr willkürlich als hinreichend begründet ist, zudem so unflexibel wie pädagogische Kollektivmaßnahmen per se sind. Und kaum unterschreitet die Bundesrepublik das selbstgesetzte Defizitkriterium zu ersten Mal in 2019, kommen sofort die Rufe nach Erhöhung der Staatsausgaben mit dem Hinweis, dass nun ja kein zwingender Grund zur Haushaltsdisziplin mehr bestehe. Wurde vorher die Kontingenz des Kriteriums kritisiert, wird nun dessen Unterschreitung zum logischen Grund für höhere Ausgaben; wie es beliebt!
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[title]Begriffe – Anmerkungen – Titel – Autoren[/title]
kreditfinanzierte Investitionen – Haftungsfrage – Gewährträgerhaftung
1 Gewährträgerhaftung ist in Deutschland eine auf Gesetz und/oder Satzung beruhende, subsidiäre Haftung des Gewährträgers einer bundesunmittelbaren, landesunmittelbaren oder kommunalen Anstalt des öffentlichen Rechts für den Fall, dass deren Vermögen für die Forderungen ihrer Gläubiger nicht ausreicht. (Wikipedia)
2
3 Vgl. IWF-Chefökonomin Gopinath im Handelsblatt print: Nr. 122 vom 28.06.2019.
4 Vgl. Lars Feld, Unternehmertag 2019. Youtube Video, abgerufen am 03.07.2019.
Lars Peter Feld (* 9. August 1966 in Saarbrücken)
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