Das erste Opfer der Politischen Ökonomie in Europa ist die Demokratie. Das ist die Lehre aus der letzten Europawahl vom Juni 2019 und der Kanditatenauswahl für die europäischen Spitzenpositionen und Ämter im Nachgang der Wahl. Man darf ruhig sagen, dass der wirklich große und scheinbar auch einzig wirkliche politisch relevante Verlust für Europa, der durch den Brexit nachhaltig verbleibt, das „tertium non datur“ der Deutsch-Französischen Politik ist. Deutsche und Franzosen vertreten diametral entgegengesetzte Auffassungen von Politik und Politischer Ökonomie, die man leicht erkennen kann im Personalpoker der europäischen Institutionen1 und im Versuch, das Primat der Politik gegenüber dem Parlament zu behaupten.
Das Primat der Politik2 über Fragen der nationalen und der internationalen Wirtschaft meint natürlich nicht das wirtschaftspolitische Mandat von Regierungen. Es ist ein nie ganz überwundenes Relikt aus feudalen Zeiten, hoch attraktiv in den Händen der Politik als eine Vorstellung, den wirtschaftlichen Erfolg als politischen Ertrag für sich selbst zu verbuchen. In einer Zeit, in der aber Politik die Wirtschaft begleitet und nicht als bestimmend vorausgeht, ist dies natürlich recht schwierig. Deshalb hat Politik auch nach der großen Bürgerlichen Revolution stets Wege gesucht und gefunden, mehr als nur wirtschafts- und ordnungspolitische Rahmenbedingungen für die Wirtschaft zu formulieren.
Im Rahmen der marxistischen Theoriediskussion besonders Mitte des letzten Jahrhunderts wurde eine Engführung zwischen Politik und Kapitalismus versucht, der entweder allgemein auf die Frühphase der industriellen Revolution, oder im Besonderen auf das Verhältnis von Politik und Geld, vom Wechselspiel zwischen Geldpolitik und privaten Großbanken abzielte. Die Beziehung zwischen Politik und Notenbanken sowie zum Internationalen Währungsfonds sowie der Weltbank wurde selten und nie ausreichend dargestellt. Dabei waren IWF und Weltbank in ihrer politischen Ausrichtung und personalen Besetzungen Ergebnisse des Machtkartells von Bretton-Woods seit im beschaulichen Kurort 1944, also noch vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Grundlagen des neuen Weltwirtschaftssystems entworfen worden sind.
Auch heute wird die Problematik der Besetzung des IWF-Direktoriums unter den politischen Tisch gekehrt. Es geht dabei scheinbar um die Frage, ob der IWF von einem Deutschen – im Ausgleich zu Frau Lagarde an der Spitze der EZB – oder einem anderen Europäer geführt werden soll; Amerika leitet ja nach wie vor die Weltbank. Die Frage, ob in einer Zeit, in der die geldpolitischen Entscheidungen mit globaler Reichweite bzw. deren Auswirkungen auf die sog. Schwellenländer nicht auch eine personale Besetzung aus den „Rest der Welt“ angezeigt wäre, geht dabei selbstgefällig in neu-feudalen Diskursen und daraus resultierenden Machtkartellen einmal mehr unter.
Noch bevor wir uns mit der Ausweitung neo-feudaler Machtkartelle über digitale Medien beschäftigen, ist ein Umblick über die geldpolitischen Transformationen hinaus vielleicht hilfreich. Wir haben nicht zufällig mit dem Datum des Beginns der weltweiten Finanzkrise 2008 einen Zeitpunkt markiert, der uns erlaubte, die Geldpolitik in den USA und in Europa deutlicher erkennbar werden zu lassen. Schauen wir auf die europäische Notenbankpolitik, dann blicken wir gewissermaßen in ein „schwarzes Loch“ zwischen 2008 und 2011, also etwa drei Jahre, was in geldpolitischen Angelegenheiten ein fast endlos langer Zeitraum ist, in dem die Politik des damaligen EZB-Chefs Jean-Claude Trichet der von Mario Draghi, der am 1. November 2011 Präsident der Europäischen Zentralbank wurde, voran ging.
Trichet war der letzte EZB-Präsident, der den Referenzzinssatz noch erhöht hatte, damals auf 1,5 Prozent. Die mehr als dürftige Begründung war, dass die schwere Rezession der Weltwirtschaft auch für Europa als überwunden galt, was natürlich überhaupt keinen Gehalt hatte, weil bereits einige Monate später Draghi mit einer bis heute andauernden Flutung der Märkte mit Liquidität begann. Das ist nun über acht Jahre her und die Weltwirtschaft hat sich in Teilen mehr als erholt und gleichzeitig bleiben starke Zweifel an der Bonität einiger Länder der Eurozone, wie wir dargelegt haben. Wir haben dabei nicht nur die Notfall- und Rettungskredite kritisch hinterfragt, sondern auch die verfassungsrechtlichen Auswirkungen der Geldpolitik der EZB diskutiert.
Angedeutet haben wir auch, dass das eigentliche Mandat der EZB, für Preisstabilität zu sorgen, ein Postulat ist, welches aus der heutigen Sicht einige grundlegende Zweifel erlaubt. Das Postulat hat seinen Anfang in der Geldmengentheorie von Milton Friedman, die behauptet, dass die Preisstabilität in einer notwendigen Beziehung steht zur Geldmenge und diese wiederum in Relation zu den Wachstumsmöglichkeiten, dem Potenzialwachstum einer Volkswirtschaft. Man erkennt unschwer, dass die Relation zwischen Preisstabilität und Geldmenge keine starre, sondern eine flexible Größe darstellt und dass mit dem Potenzialwachstum eine spekulative Größe ins Spiel gekommen ist, die aus einer Ableitung von Vergangenheitswerten in Formeln fortgeschrieben wird. Wichtig und willkommen war die Geldmengentheorie bei Großbanken und der Politik und wurde so, unserer Auffassung nach, zur Geburtsstunde der neuen Politischen Ökonomie in Europa und den USA.
Es verwundert vielleicht, dass ausgerechnet die Deutsche Bundesbank es war, die damals als erste Notenbank der Vorstellung folgte, mit der Steuerung der Geldmenge auch die Preise und somit das Potenzialwachstum der Wirtschaft so grundlegend beeinflussen zu können, wie dies bis dato weder theoretisch formuliert noch praktisch ausprobiert worden war. Alles schien einfach und klar und vor allem praktikabel. Aber die Vorstellung von der Steuerbarkeit der Wirtschaft durch das Bankensystem mit der Notenbank an deren oberster Spitze währte nicht lange und die Politik, die sich auf die Expertisen der Bundesbank und den Geldtheoretikern resp. dem Monetarismus verließ, wurde mithin zunehmend enttäuscht. Das Gekungel zwischen Geld und Staat, Geld und Macht in einem Kartell musste fehlschlagen, da sich die Geldmenge, so zeigte die Erfahrung, schlechterdings nicht steuern lässt und auch der vorgestellte Zusammenhang zwischen Inflation und Geldmenge somit obsolet wurde.
Es dauerte keine fünfzehn Jahre und schon hatte das Grundpostulat des Monetarismus ausgedient. Aber die Vorstellung von der Steuerbarkeit bzw. der Kontrolle der allgemeinen Preissetzung der Wirtschaft wollte man nicht so schnell über Bord werfen und so wurde es die Geldpolitik via Notenbank, die den nächsten Versuch startete, über die Inflationssteuerung einer Abwärtsspirale der Preise und somit, so die These, auch einem Wirtschaftsabschwung wie des Rückgangs des allgemeinen Wohlstands entgegenzuwirken. Letztlich war es wie alter Wein in neuen Schläuchen, denn über die Inflationssteuerung behauptete nun die Notenbank die Transmission zu den Preisen und je mehr von Zinssteuerung in einer wirtschaftlichen Krise in die Transmission kam, um so eher wäre eine Deflation zu stoppen. Es war also mitnichten das Ende der Gelmengentheorie, sondern dieselbe mit anderen Mitteln.
Das Hauptmittel aber der neuen Zinssteuerung war zunächst einmal die Festsetzung einer Richtgröße, die die Politik für ratsam, weil ausgewogen hielt; das Zwei-Prozent-Inflationsziel war geboren. Denn Zinssteuerung macht wenig Sinn, wenn kein Ziel vorhanden ist, auf das hin man die Steuerung auszurichten versucht. Nur war dieses Zwei-Prozent-Inflationsziel durch nichts begründet, allein eine zinspolitische Setzung. Diese Setzung erhielt noch einige Feinjustierungen als Bundesbank-Ziele, sei es als „unter zwei Prozent“ oder als Korridor zwischen 1,7 bis 1,9 Prozent Inflation, gleichwohl blieben diese Zielwerte reine Spekulation, da es keine analytische Begründung dafür gab, auch nicht bis heute. Ob dieser kontingenten Setzung des Zinszieles wurde natürlich auch die Ableitung der Wirksamkeit zwischen Realwirtschaft und Geldwirtschaft mit Kontingenz infiziert, gleichwohl war der Monetarismus noch so sehr in aller Munde, dass diese Relation weiter behauptet wurde. Aber die Realwirtschaft gab der Kontingenzannahme Recht, denn bald schon erwies sich die europäische Notenbankpolitik als empirisches Hauptargument gegen die Notwendigkeitsvermutung der Wirkbeziehung zwischen Geld und Wirtschaft. Hätte der Monetarismus in Draghis Geldpolitik seine empirische Rechtfertigung gefunden, hätten wir in Europa einen deutlichen Anstieg der Inflation in den letzten Jahren erleben müssen; nichts davon aber ist geschehen.
Aber nicht nur die europäische Geldpolitik relativierte die Zinsteuerung der Marktpreisentwicklung. Seit langem waren schon in der wissenschaftlichen Diskussion kritische Stimmen laut geworden, dass der Verbraucherpreisindex wohl mittlerweile nicht mehr als Repräsentation der tatsächlichen Preisentwicklung in einer Volkswirtschaft fungiert. Der sog. Warenkorb war von Anfang an umstritten und dieser Streit wurde lauter, als mit der Ausbreitung der Digitalwirtschaft mehr als deutlich wurde, dass dieses Repräsentationsmodell nicht nur Lücken hat, sondern für die Digitalwirtschaft überhaupt nicht funktioniert, vom Ansatz her also schon obsolet ist.
Plattformökonomien und zwar weit über solche hinausgehen, die unter Social Media gefasst sind, erbringen alle möglichen Arten von Dienstleistungen, die scheinbar kostenlos erbracht werden und somit keine inflationären Effekte haben. Dies gilt auch, wenn die Nutzer von Social Media Platforms mit ihren Daten „bezahlen“, denn da kein Geld fließt zwischen Anbieter und Nutzer kann auch nicht von Verkauf bzw. Kauf also von einem traditionellen Marktgeschehen gesprochen werden. Deshalb finden auch die zahlreichen und äußerst lukrativen Dienstleistungen der großen FAANG Unternehmen keinen Eingang in den Warenkorb, da dort ja nur die Dienstleistungen gelistet sind, die einen Marktpreis haben.
Das gesamt Gefüge der repräsentativen Kennziffernlogik der wissenschaftlichen Ökonomie gerät unter der neuen Betrachtung stark ins Wanken und wird zunehmend wie traditionelle Produktion zu einem Fall der Disruption. Wir benutzen an dieser Stelle den Ausdruck „Disruption“ lediglich zur Kennzeichnung einer Position im aktuellen Diskurs und übertragen dessen Bedeutung als „Zerstörung“ traditioneller Geschäftsmodelle auf den wissenschaftlichen Diskurs. Das „Geschäftsmodell“ des wissenschaftlichen Diskurses steht am Rande seiner Zerstörung. Das meint, dass die Kategorien der Ökonomik ihre Gültigkeit verlieren, allen voran die von Menge und Preis.
Wir sehen, dass in der Digitalwirtschaft allein schon bei den Dienstleistungen der Social Media Plattformen jede Menge Daten erwirtschaftet werden, deren Erwirtschaftung aber ohne Preis ist. Wir erkennen, dass diese Daten, je größer die Menge ist, also im traditionellen Geschäft eine Wertsteigerung stattfindet, diese Wertsteigerung keine geldwerte Repräsentation dort findet, wo das Gut entsteht bzw. bei denen, denen diese Daten gehören. Das ist keine ontologische Frage und hat also nichts mit Daten an sich zu tun. Daten können sehr wohl Güter sein im marktwirtschaftlichen Sinne, aber in viele Plattfomökonomien sind Daten in diesem Sinne keine Güter bzw. Waren. Und wer hier vorschnell und unüberlegt von Datendiebstahl oder Datenausbeutung spricht, hat nicht einmal diesen Unterschied verstanden.
Wir halten an dieser Stelle fest, dass Daten in den großen Social Media Plattformen durchaus Ökonomien sind und zwar, ausgehend von deren Marktkapitalisierung die mit weitem Abstand größten Unternehmen der Welt, die aber keine Einfluss auf die Inflation haben. Diese Tatsache ist sicherlich einigen Mitgliedern im Board oder im Rat der amerikanischen und der europäischen Notenbanken bekannt, aber selbst diese Erkenntnis lässt die Notenbankpolitik allein zurück. Was sollen sie machen? Ihre Richtwerte einmotten? Ihre Geldpolitik einstellen? Mit wenig Bedauern nehmen wir zur Kenntnis, dass Notenbankpolitik zunehmend zum Blindflug wird. Allerdings mit einem blinden Autopiloten und den kennen wir schon aus anderen Kontexten. Als wir über den „Good Will“ gesprochen haben, konnten wir zeigen, dass die Unternehmensbewertung maßgeblich an den Zukunftserwartungen der möglichen Unternehmensentwicklung sich ausrichtete. Zu diesem Unternehmens-Potenzial-Wachstum, welches in der Marktkapitalisierung eines Unternehmens, also in dessen Börsenwert3 ausgedrückt wird, gehört somit ein hoher Anteil an nicht-marktwirtschaftskonformen Kennziffern, der in den letzten Jahrzehnten fast unbemerkt von der Ökonomik sein Eigenleben in der Realwirtschaft entfaltet hat. Fassen wir diesen Anteil an marktwirtschafts-inkonformen Wirkprozessen zusammen, können wir ganz allgemein gesprochen mit dem Ausdruck „Erwartungen“ weiterarbeiten. Den Ausdruck Erwartungen oder auch „Motivation“ in seiner intrinsischen wie extrinsischen Bedeutung benutzen wir vorerst und lediglich in einer impersonalen Dimension, um ganz allgemein die Handlungsbereitschaft, einen Impetus als solchen auf der Grundlage von Erwartungen bzw. Motivationen darzustellen.
Was ist dann davon zu halten, dass z.B. die EZB an ihrem selbst gesteckten Inflationsziel von nahe zwei Prozent festhält, obwohl mit allen bisherigen geldpolitischen Maßnahmen wie auch den jüngst noch von Draghi angekündigten, neuen Maßnahmen dieses Ziel in immer weitere Ferne zu rücken scheint? Tatsache ist und bleibt anscheinend, die vorgestellte, logische Beziehung zwischen Geldpolitik und Verbraucherpreisen muss, so vorhanden, eine andere als die vorgestellt sein.
Die EZB hat Jahre darauf verwandt, Anleihen zu kaufen. Dadurch hat die EZB wesentlich beigetragen, dass die Renditen von Anleihen nominell gefallen sind. In den Nominalrenditen sind enthalten sowohl die Summe aus realer Rendite und Renditeerwartungen und eben diese Renditeerwartungen spielen nun die entscheidende Rolle. Denn wenn die EZB, was sie ja angekündigt hat, die Anleihenmärkte weiter mit Geld flutet und diese eigentlich inflationäre Geldpolitik aber einen anti-inflationären Effekt hervorruft, indem die Anleger von einer weiterhin sinkenden Inflation ausgehen und somit auch von nominell sinkenden Anleihen Renditen, dann hat die EZB mehr als nur ein logisches Problem. Wenn Erwartungen sowohl den geldpolitischen Entscheidungshorizont beeinflussen wie auch einen großen Anteil an inflationären Effekten haben, dann befindet sich die Geldpolitik in einem Prozess sich ständig irrational verändernder Bedingungen sowohl für die Entscheidungsfindung in der Geldpolitik wie für die tatsächliche Inflationsentwicklung.
Bleibt der Prozess wie er seit Jahren zu beobachten ist, dann führt jedes neue Programm aus dem „schiefen Turm“ in Frankfurt zu fallenden Nominalrenditen auf dem Anleihenmarkt, was wiederum in einer Art zirkulärer Rekursivität zu weiter sinkenden Inflationserwartungen führt worauf die EZB eigentlich unmittelbar wiederum mit neuen, geldpolitischen Maßnahmen reagieren müsste; was sie auch tut. Wir summieren diesen zirkulären Rekursionsprozess zwischen geldpolitischen Maßnahmen, Markterwartungen und Markteffekte dann so: wenn die andauernde, expansive Geldpolitik der europäischen Notenbank letzten Endes selbst den Grund dafür abgibt, dass sinkende Inflationserwartungen auf den Märkten zu sinkenden Renditen bzw. allgemein gesprochen zu sinkenden Preisen bzw. zu nicht marktwirtschaftlich adäquaten Preissteigerungen in der Eurozone führt, kann man von einem Prozess der Self Fulfilling Prophecy sprechen. Letzten Endes erfüllt sich dann eine Prophezeiung auf den Anleihenmärkten und den Konsummärkten mit einem negativen Vorzeichen und wir sehen sowohl bei den Renditen wie bei den Preisen keine inflationären, sondern deflationäre Tendenzen.
Und das dies so ist, auf breiter Front auf den europäischen Anleihenmärkten eingetreten ist, erkennt, wer genau hinsieht, bereits heute. Die europäischen Anleihenmärkte haben eine Transformation vollzogen, die mit Marktwirtschaft nichts mehr zu tun hat. Im Juli 2019 sind die Renditen für griechische Staatsanleihen kaum noch zu unterscheiden von amerikanischen, was für eine Umkehrung aller Werte! Italien, als Krisenkanditat Nummer Eins kolportiert, hat kein Problem damit, Anleger für seine Anleihen mit fünfzigjähriger Laufzeit zu finden und dies zu Konditionen, die bis vor ein paar Monaten noch niemand für eine Laufzeit von fünf Jahren akzeptiert hätte; vor zwanzig Jahren hätte Italien sich eher mit Speiseeis als mit Anleihen refinanziert.
Mittlerweile finden wir die Situation, dass Investoren Geld dafür bezahlen, um Geld bei Staaten parken zu können, in fast der Hälfte aller nordeuropäischen Länder. Die Gründe dafür haben wir ausgeführt und daran ist noch nichts so Bedenkenswertes, ist ja eine Marktsituation für Anleger gegeben, in der langfristig die Zinsen fallen und daher hoch wahrscheinlich auch die Kurse steigen werden, gegeben. Wenn Anleger in solch einer Situation auf steigende Kurse spekulieren, die die Negativzinsen übersteigen, ist der Marktwirtschaft entsprochen. Aber wie wir ausgeführt haben, sitzt die EZB wie andere Notenbanken auch in der Rekursionsfalle. Die europäische Notenbank wird wie Draghi stets betonte und nun auch weiterhin betonen muss, alles tun, um einen wirtschaftlichen Abschwung zu verhindern, der unweigerlich zum Ausverkauf der Anleihen führen dürfte, was katastrophale Folgen in der Realwirtschaft hätte, deren Anleihen vielzählig in den Konten der EZB lagern.
Die EZB hat sich mit der Geldpolitik der Staaten der Eurozone in eine Situation manövriert, die ein „point of no return“ geworden ist. Ohne eine Idee einer Umkehr dieser Geldpolitik muss sie nun hoffen, dass alle diese Unternehmen, die einen hohen Verschuldungsgrad erreicht haben, dessen Refinanzierbarkeit bereits in diesem Zinsumfeld mehr als scharf kalkuliert ist, ihre Hausaufgaben gemacht haben und ihre Geschäftsmodelle saniert und ihre Kosten- und Wettbewerbssituation konsolidiert haben. Aber wer glaubt wirklich daran? Zumal die deutlich zu hohen Finanzierungssummen auch daherkommen, dass Firmen riesige Summen für Aktienrückkaufprogramme oder für teure Firmenübernahmen ausgegeben haben. Und auch im privaten Sektor hat die Niedrigzinspolitik zu gefährlichen Fehlallokationen geführt. Zu viele Menschen sammeln Verträge für Immobilienkredite in ihren Leitz-Ordnern mit hoch riskanten Anschlussfinanzierungen, die selbst bei geringsten Zinserhöhungen perdu sein dürften. Der private Sektor aus Unternehmen und Privatpersonen hat gegen alle Regeln der Marktwirtschaft Schulden anhäufen können, die von Beginn an durch mangelnde Bonität und großzügiger Risikobewertung ermöglicht worden sind.
Das sind nur einige wenige mit marktwirtschaftlichem Verhalten inkonformen Auswirkung der Geldpolitik der EZB. Das sind beileibe keine „Nebenwirkungen“, zumal anders als bei einem Medikament, ein Absetzen der Medikation zur Unterbrechung der toxischen Gegenwirkungen durch ein Aussetzen oder ein Aufkündigung der Niedrigzinspolitik der EZB nicht möglich ist.
Und wie immer in Prozessen ohne Umkehr, in Situationen, deren Bedingungen langanhaltend erscheinen, entwickelt sich ein enormer Anpassungsdruck sowie gleichsam als eine Art von Alternative auf die Anpassung ein Diskurs des Auswegs. Dann erscheint der Ausweg als realistisch, wenn es zum Ausweg keine wirkliche Alternative gibt, als die bittere Pille der Ausweglosigkeit wie ein Placebo zu schlucken. Einen Ausweg aus der Niedrigzinsphase bzw. der Geldpolitik der Notenbank gibt es nicht. Draghi und Powell haben dies in ihren magisch verschlüsselten Reden betont. Aber mittlerweile ist es egal, was und wie sie es sagen; die Zeiten haben sich geändert.
Eine Welt ohne Zins ist sowohl jenseits wie diesseits des Atlantiks auf absehbare Zeit zementiert. Worüber Notenbanker und ihre politischen Ideengeber ungern bzw. gar nicht sprechen, sind die unvorstellbar hohen Summen, die z. B. die europäischen Sparer zur Zeit verschenken; man könnte auch von sanfter Enteignung sprechen, wie wir dies an verschiedenen Stellen in diesem Zusammenhang bereits getan haben. Nun wollen wir einen Aspekt betonen, der für einen Teil dieser Gruppe als eine Alternative, als ein Ausweg vorhanden ist.
In Europa hat sich die unglaubliche Summe von bereits über zwei Billionen Euro akkumuliert, die als zinslose Sichteinlagen oder als Bargeld unter den Kopfkissen gehortet werden. Geld, welches nicht nur dem Konsum entzogen wird, oder, wie wir an anderer Stelle ausgeführt haben, dazu beiträgt, dass die Mieten in Deutschland auf Rekordniveau steigen. Diese Summe aus zinslos erwirtschafteten Kapitalien oder Vermögen, verdankt seine Herkunft, aus marktwirtschaftlicher Sicht gesprochen, verkehrten Verhältnissen. Diese verkehrten Verhältnisse sind direkt abgeleitet aus der Niedrigzinspolitik der EZB und haben zugleich das Charakteristikum, dass sie neu sind und deshalb von vielen Sparern und Anlegern bislang noch nicht verstanden wurden. Wie anders verstünde man, dass ein Betrag in solcher Höhe quasi herumliegt und selbst die von Sparern mindestens bewusst geforderten Erträge in Höhe der Inflation unkompensiert lassen darf. Eine gewisse Hilf- und Ausweglosigkeit ist allein darin schon spürbar.
Die Situation der Sparer ist vergleichbar mit einer Schockstarre, die nicht nur die Ausweglosigkeit beschreibt, sondern auch die zukünftigen Aussichten derart als ausweglos darstellt, dass implizit durch dieses Sparverhalten so etwas wie ein Locked-in-Syndrom provoziert wird4. Dies mag ein wenig übertrieben klingen, soll aber deutlich machen, dass eine Vielzahl von Sparern einen Großteil, wenn nicht gar alles an privatem Vermögen riskieren durch Nichtstun über Jahre mittlerweile hinweg und dieses Vermögen der Inflation anheimfallen lassen. Der Vermögensverlust kommt indirekt in vollem Umfang Banken und Versicherungen hauptsächlich zugute, die keine Zinsen bzw. Ertragsprämien zahlen müssen.
Und diese verkehrten Verhältnisse, die natürlich den Anfang von neuen Verhältnissen markieren, haben noch einen weiteren Effekt, den man nicht unterschätzen sollte. Im Verhalten eines großen Teils von Anlegern erkennen wir bereits fatale neue Muster, sowohl bei Aktienanlagen wie bei Anleihen Käufen. Wir erinnern uns gerne mit einem Schmunzeln an die Käufer von Zinsanlagen, wie sie alljährlich den Zinscoupon abschnitten, denn um nichts anderes als den Zins einzustreichen ging es diesen Anleger ja. Der Zins war eine Positiventwicklung, ein „Mehr“ an Wert des hinter der Anlage stehenden Schuldners. Anleihen sind Wertpapiere, die den Gläubigern das Recht auf Rückzahlung sowie auf Zahlung vereinbarter Zinsen einräumen und wurden anfangs synonym mit „Rentenpapier“, später auch mit „Schuldverschreibung“ gleichgesetzt5. Die Geschichte der Anleihe macht deutlich, dass dies eine eher sichere Anlageform war und bis auf gewisse „wucherliche Contracte“, bei denen ganze Güter zur Sicherheit auf den Gläubiger umgeschrieben wurden, auch einigermaßen überschaubare, sichere Anlagen, die deshalb eher etwas waren für Menschen mit Kapital, welches sie für ihre „Rente“ nutzten, woher auch der bis heute geltende Spruch kam: Renten stellt man nicht ins Risiko.
Nun steht diese Anlageform Kopf, denn heute in Niedrigzinzeiten kauft man Anleihen nicht um den Zins einzustreichen, sondern hofft auf weiter fallende Zinsen, also Minuszinsen, um daraus Kursgewinne einzustreichen. Dies Form der Spekulation war aber bislang den Aktienanlegern gemein, wenn diese auf fallende Kurse spekulierten, aus sog. Short-Spekulationen. Und so stehen auch Aktienanlagen auf dem Kopf. Denn in diesem Anlagesegment herrscht heute eben dieses Anleihendenken, also eines stetigen „Mehr“ an Rendite für die Anlagen, die als Dividenrenditen bei vielen der großen Titel etwa im DAX mittlerweile zum Hauptaugenmerk der Anleger geworden sind. Wenn Anleihen Spekulationen auf fallende Zinsen setzen, wenn Aktienanleger in vermeintlich sichere Produkte investieren mit einer Art Rentendividende, dann ist einiges am Markt durcheinander gekommen.
War früher der Käufer einer z.B. zehnjährigen Bundesanleihe der Typ „Sparer“ auf den Finanzmärkten, so ist er heute am Ende der zehnjährigen Laufzeit etwa vier Prozent seines Geldes los. Und dabei sind neben den Zinsverlusten durch Minuszinsen die Inflationsverluste noch nicht einmal mitgerechnet. Und der risikobewusste und an einer guten Performance eines Unternehmens in der Zukunft interessierte Anleger nimmt heute gerade in Deutschland zunehmend die Position des Sparers ein, der durch Dividenden eine ordentliche „Rente“ vor allem in den letzten zehn Jahren hat einstreichen können. Was aber eine Welt ohne Zinsen auf Dauer wirklich bewirkt, ist damit nur angedeutet. Niedrig- bis hin zu Minuszinsen werden gegenwärtig fast wie ein gutes Schicksal behandelt, als hätten die Götter Deutschland und weite Teile Europas mit besonders vorteilhaften Refinanzierungskonditionen für Staatshaushalte und Großunternehmen gesegnet. Das eine sieht man in Deutschland an der „Schwarzen Null“, das andere an den hoch performanten Aktienindizes. Doch beides ist ein großer Trugschluss.
Wenn alltäglich in den klassischen und den sog. neuen Medien über den DAX gesprochen wird und dabei besonders die täglichen „Wasserstandsmeldungen“ kommentiert werden, dann sieht es so aus, als spräche man über Wert- und Gewinnsteigerungen von Unternehmen, als ginge es bei den Bewertungen von Unternehmensaktien allein um die Markteinschätzung der zukünftigen Entwicklung von Unternehmen, um deren Marktpotenzial.
Was die Menschen an der Glotze und am Monitor oder auf dem Smartphone aber zu sehen bekommen, ist der Dax-Performance-Index, in dessen Berechnung auch Dividenden und deren Wiederanlage mit einfließen, also ein gewisser Zinseszinseffekt auf den Dividende genannten Zinscoupon. Die wenigsten Medienkonsumenten wissen dabei, dass es den Dax auch als reinen Kursindex gibt, der Dividenden bzw. Ausschüttungen völlig unberücksichtigt lässt und damit allein die Kursveränderung der 30 wichtigsten deutschen Aktien widerspiegelt. Und ebenso wissen wenige Menschen, dass diese beiden unterschiedlichen Indizes, der Kursindex und der populäre Dax-Performance-Index erst seit dem 31.12.1987 existieren und beide am 01.01.1988 bei 1000 Punkten gestartet sind. Während der Dax-Performance-Index seitdem ein Plus von 1.137% verzeichnet, steht bei seinem Pendant lediglich ein Kursgewinn in Höhe von 452% auf der Anzeigetafel6, ein Unterschied von fast 700 Prozent; kein Pappenstiel!
Interessant bei der Betrachtung der beiden Charts ist, dass die Bewegungen von Kurs- und Performance-Index seit etwa dem Jahr 1998 deutlich auseinanderstreben und ab dem Jahr 2011 die Lücke zwischen beiden immer größer geworden ist. Das Jahr 1998 war für die deutsche Wirtschaft ein Boom-Jahr mit dem stärksten Wachstum seit der Wiedervereinigung und das Jahr 2011 kennen wir als Jahr der sog. Euro-Krise; alles dies kann das Gap der Indizes aber nicht erklären.
Das Gap, die Lücke erklären vielleicht die oben genannten Überlegungen besser, als reine Wirtschaftskennziffern. Wenn der Dax – damit ist im Folgenden immer der Performance-Index gemeint – seine gute Performance hauptsächlich aus den regelmäßigen Ausschüttungen, den ausgeschütteten Renditen auf die Aktien der Unternehmen schöpft, dann darf man seine Bewertung als eher Rentenanlage denn als spekulative Anlageform teilen. Das heißt aber zugleich auch, dass Anleger ihr Geld überwiegend jenen Unternehmen geben, die eine sichere Verzinsung der Anlage versprechen und damit nicht zugleich auch die Unternehmen sind, denen man durch eine hohe Innnovationskraft eine gute Zukunftsaussicht attestiert. Überspitzt ausgedrückt werden deutsche Dax-Konzerne eher als sicherer Hafen für in- und ausländisches Kapital betrachte, wo man sein Geld eher parkt, denn risikobereit in neue Technologien, in aufstrebende Unternehmen mit neuen Geschäftsmodellen investiert.
Das wird in den meisten Standardwerken der Ökonomie sowie in der aktuellen Diskussion unberücksichtigt gelassen, dass einige Kapitalmärkte durchaus als Surrogate traditioneller Spareinlagen sich entwickeln können, sogar über lange Zeiträume hinweg. Und das kann natürlich erhebliche Auswirkungen haben, die wir bereits überall zu sehen bekommen. Was passiert, wenn die im Dax gelisteten Unternehmen in schwere See geraten? Wir sehen das nicht nur am Beispiel der Deutschen Bank. Wenn Dax-Unternehmen, was auch bereits sichtbar wird, Aktienrediten ausschütten, die keiner Kursentwicklung mehr entsprechen und Unternehmen sich damit sogar verschulden müssen, weil sie ihre Hände bereits am Tafelsilber haben, kann es schnell eng werden, zumal bei solchen Unternehmen schnell jede Kursphantasie verfliegt.
Der Dax-Wert heute ist also ein Pyrrhussieg, ein teuer erkaufter zudem. Den Preis zahlen Sparer und Anleihenkäufer und letzten Endes die Arbeitnehmer in den Dax-Konzernen, wenn Gewinnwarnungen schließlich den Abbau von Arbeitsplätzen nach sich ziehen. Denn nicht nur stehen die erwähnten zwei Billionen Euro an Sparvermögen im Risiko, ein Risiko, welches es in den Zeiten, als Spareinlagen noch Zinsen abwarfen nicht gegeben hätte. Es ist ein Trugschluss zu meinen, heute wird ja viel Geld, welches einst in Spareinlagen gebunden war, endlich den Unternehmen als Kapital zur Verfügung gestellt und das wäre gut so, zumal damit auch endlich der Weg des Geldes weg von den Sparbüchern, hin zu einer privaten, kapitalgedeckten Altersvorsorge beschritten ist.
Das hat Politik oft und über Jahre hin gefordert und nun scheint sich ihr Rentenpostulat endlich zu erfüllen. Aber diese Vermögensverschiebung von Spar- hin zu Kapitalanlagen ist doppelter Unsinn. Sie ist eine Fehlallokation, weil Aktien nicht dazu da sind, als Surrogate Anleihen zu ersetzen. Sie ist eine Fehlallokation, weil viel zu viel Kapital nur deshalb in die Dax-Konzerne fließt, weil viele von ihnen eine satte Aktienrendite ausschütten, die aber nicht unbedingt etwas mit der Kursentwicklung, also der tatsächlichen Innovationskraft des Unternehmens und dessen Marktpotenzial zu tun hat; im Gegenteil.
Von der Seite der Investoren betrachtet handeln diese in ihren Investments in diesen Fällen nach dem Opportunitätskostenprinzip, also nach Maßgabe der Mindestrendite als der besten alternativen Kapitalverwendungsmöglichkeit auf der Basis von relativ festen Zinszahlungen. Unter Rentengesichtpunkten ist ein Dividendentitel natürlich die beste aller möglichen Alternativen in Zeiten von Minus- oder Niedrigstzinsen auf Sparguthaben.
Aber auch für Unternehmen ist diese Form der relativ preiswerten und sicheren Kapitalversorgung über die Ausgabe von Aktien mit relativ hohen Dividendenversprechen nicht ganz so sorglos und nur in guten Zeiten mit wirtschaftlichem Erfolg in der Mindestgrößenordnung der Ausschüttungen angeraten. Denn die Rendite ist ja für die Unternehmen jene Größe, die eine Investition mindestens erwirtschaften sollte und deshalb ist auch die von Investoren gewünschte bzw. geforderte Rendite maßgeblich für den in der betrieblichen Investitionsrechnung relevanten Kalkulationszinssatz.
So wiegen sich viele Dax-Konzerne noch in ruhigen Gewässern, stehen Rentabilität und kalkulierte Ausschüttung in einem gesunden Verhältnis zueinander. Wankt eine Seite, fällt die andere. Welches Unternehmen, das in den letzten zehn Jahren, als die Geschäfte gut gingen, Ausschüttungen von jährlich zwischen vier und acht Prozent verkraften konnte, will seinen treuen Kapitalgebern nun, wenn die Geschäfte einbrechen, mitteilen, dass die Ausschüttungen ausbleiben oder massiv gekürzt werden müssten, wo doch gerade dann Kapital am meisten gebraucht wird. Also bleibt nur, Schulden zu machen. Schulden machen muss dann aber den jahrelangen Investitionsstau kompensieren, den die Unternehmen haben auflaufen lassen. Jetzt gerät das Opportunitätskostenprinzip7 kräftig in Schieflage, schießen die Opportunitätskosten in die Höhe. Gehen Sie mal zu Ihrem Chef und bitten ihn um eine satte Gehaltserhöhung und müssen ihm dabei mitteilen, dass eine längere Krankheit bei Ihnen ins Haus steht.
Gesamtwirtschaftlich betrachtet ist diese Entwicklung hoch bedenklich, da Unternehmen mit Kapital versorgt werden aus Motiven, die in Aktienanlagen nicht unbedingt etwas zu suchen haben. In summa fehlt den deutschen Indizes nach der Pleite des sog. Neuen Marktes ein adäquates Nachfolgemodell. Vergleicht man die Risiko- bzw. Wagniskapitalmärkte in den USA oder in Großbritannien, dann haben Deutschland und Europa hier erheblichen Nachholbedarf. Aber selbst im traditionellen Dax-Bereich wirken die als Kapitalanlagen verpuppten Spareinlagen sedierend. Deshalb, weil Anlagen unter Opportunitätsgesichtspunkten meistens zu Fehlallokationen führen, mehr am Bestand, am Status Quo interessiert sind, als am offenen Wettbewerb. Vor allem bei Großunternehmen haben wir unter den Dax-Konzernen in vielen Fällen in den letzten zehn Jahren eine Unternehmensstrategie erleben können, die ganz überwiegend geprägt war vom Ebitda, also von Optimierungsstrategien, nicht einmal unbedingt dazu von Effizienzstrategien.
Das bewahrende Element in der Unternehmensentwicklung ist keine „deutsche“ Angelegenheit, etwas, was dem deutschen Management oder einer deutschen Unternehmenskultur entspränge. Da mehr als 55 Prozent der im Dax gelisteten Unternehmen mehrheitlich in ausländischem Besitz sich befinden, sind solche pseudo-kulturwissenschaftlichen oder soziologischen Behauptungen unrichtig, längst schon kalter Kaffee.
Dieses bewahrende Element, was wir als eher Sparer-Mentalität assoziiert haben, kommt ja aus einer Verschiebung von Kapital aus der Anlageform der Anleihen hin zu Aktienanlagen und mit dieser Kapitalverschiebung verschiebt sich auch die Anlegermotivation nach regelmäßigen Zins- bzw. Renditeerwartungen. Für uns ist jener Aspekt aber viel wichtiger, den wir in diesem Zusammenhang mit der Verschiebung innerhalb der deutschen Rentenpolitik skizziert haben. Die verschiebt einen Teil der privaten Rente aus der Finanzierung der staatlichen Rentensysteme hin zu privaten Finanzierungssystemen wie etwa den Finanzmärkten.
Für die Politik ist das ein Segen. Denn so werden die staatlichen Rentensysteme stillschweigend entlastet und wir sehen hier etwas in Analogie, was seit vielen Jahren bereits strukturell auf die gleiche Weise gelungen ist. Im deutschen Bildungssystem hat eine deutliche Verschiebung von den öffentlichen zu den privaten Trägern stattgefunden. Von den rund 10,8 Millionen Schülern in Deutschland besuchte 2016 jeder Elfte eine Privatschule; Tendenz stark steigend. Den größten Anteil bei den allgemeinbildenden Privatschulen machen mit rund 23,8 Prozent die Grundschulen aus, gefolgt von Förderschulen (18,5 Prozent) und Gymnasien (14,7 Prozent). Besonders in diesen Schulformen kann der Staat seine erheblichen Ausgaben senken und diese erfolgreich privatisieren, natürlich ohne fiskalische Kompensationen, im Gegenteil nimmt der Staat von den privaten Trägerschaften einen Teil des elterlichen Schulgeldes durch Steuern ein.
Ausgabenreduktion bei gleichzeitiger Einnahmeerhöhung, Konsolidierung von Staatshaushalten gelingt kaum besser also so. Deutschland folgt damit einer Realität, die in Europa bereits weit fortgeschritten ist. Hier beträgt der Anteil der allgemeinbildenden Schulen unter privater Trägerschaft fast 15 Prozent. Und dieser Trend zeigt ein klares Profil, sowohl in der Bildungs- bzw. Schulpolitik wie der staatlichen Rentenpolitik. Der Staat schöpft auf diesem Weg immer mehr von den Erwerbseinnahmen seiner Bürger ab, öffnen für immer mehr Privatunternehmen den Zugang zu den äußerst lukrativen Märkten sozialer Wohlfahrtsysteme und entlastet zudem die Wirtschaft von ihren Anteilen an den Wohlfahrtssystemen.
Die Zahl der öffentlichen Schulen nimmt seit vielen Jahren stark ab und das hat nicht allein seinen Grund im Rückgang der Baby-Boom-Jahre8. Die Zahl der Menschen, die sich vermehrt privat um ihre Renten kümmern müssen, nimmt zu. Allein diese beiden Aspekte deuten darauf hin, dass die Politische Ökonomie in Deutschland beide Bereiche: Bildung und Rente mehr und mehr privatisiert. Die Ökonomisierung von Wohlfahrtssystemen muss daher als ein wichtiger Faktor der Politischen Ökonomie mit ins Kalkül genommen werden.
Nimmt man diesen Faktor ins Kalkül, erklärt sich leichter das bereits sichtbar gewordenen soziale Paradox, dass einerseits die relative Kluft zwischen Arm und Reich in der BRD seit Jahren größer wird und andererseits gerade die große Gruppe des sog. deutschen Mittelstands am unteren Rand immer näher an die Grenze der sozialen Todeszone gerät. Hier im unteren Mittelstand müssen immer mehr Teile des Erwerbseinkommen für private Renten und andere Formen der Altersabsicherung, für Gesundheit und Bildung ausgegeben werden. Erschwerend kommt hinzu, dass mit dem Anstieg der privaten Ausgaben für die private Wohlfahrt das private Risiko gleichzeitig mit ansteigt. Denn private Ersatzsysteme sind keine gleichwertigen, vertraglichen Rechtsansprüche auf Leistungen wie in staatlichen Wohlfahrtssystemen; das weiß jeder, der einmal einen Vertrag in diesen Bereichen unterschrieben hat. Meist führen die privaten Systeme wie z.B. in der privaten Krankenversicherung im Alter zu viel zu hohen Kosten und erhöhen dramatisch die Gefahr für einen Absturz in die Armut.
Im Vorgriff auf Späteres sei an dieser Stelle vermerkt, dass wir hier mit einem Aspekt der Politischen Ökonomie einschleichend vertraut gemacht werden, die deshalb nicht mehr als reine Politik betrachtet werden kann, weil es nicht mehr um ausgleichende Verschiebungen staatlichen Wohlstands geht, dahin, wo die gesellschaftliche Solidarität greift, um Asymmetrien im Verhältnis zwischen Erwerbstätigkeit, Lebensschicksalen und Wohlfahrt auszugleichen, also um Soziale Marktwirtschaft, sondern einzig um den Primat der Ökonomie im Sinne Liberaler Marktwirtschaft. Der Staat zieht sich zunehmend aus seinen Aufgaben zurück und überlässt seinen Bürgern das Feld eines Wettbewerbs, auf dem die meisten Menschen wenig zu gewinnen haben.
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[title]Begriffe – Anmerkungen – Titel – Autoren[/title]
Primat der Politik – neo-feudale Machtkartelle – Potenzialwachstum – Zwei-Prozent-Inflationsziel – Disruption – zinslose Sichteinlagen – Locked-in-Syndrom – Dax-Performance-Index – Opportunitätskostenprinzip
1 Wenn die gewählten Vertreter des englischen Brexitgedankens sich nach ihrer Wahl demonstrativ verblödet bei der Europahymne im Parlament umdrehen, um sie mit dem Rücken zu lauschen, dann ist der Verlust für Europa verkraftbar; warum machen die idiotes das nicht außerhalb des Parlaments?
2 Das Primat der Politik bezeichnet in der Wirtschaftssoziologie allgemein, dass die Politik gegenüber anderen staatlichen Bereichen (wie etwa Verwaltung, Militär) oder auch nichtstaatlichen Feldern führend ist.
In der marxistischen Theorie steht das Primat der Politik für die Annahme, der Staat habe eine eigenständige Einwirkungsmöglichkeit auf den kapitalistischen Wirtschaftsprozess. In der Diskussion über Ursachen und sozialökonomische Basis des deutschen Faschismus sowie über die Thesen vom staatsmonopolistischen Kapitalismus (Einbeziehung des Staates in den kapitalistischen Reproduktionsprozess aufgrund einer politisch-bewussten Reaktion der Monopole auf die Bedrohung durch den Sozialismus) wurde diese Annahme ausführlich erörtert.(Vgl. Wikipedia)
3 Die Marktkapitalisierung (englisch market capitalisation, kurz market cap, auch Börsenkapitalisierung oder Börsenwert) ist der rechnerische Gesamtwert der Anteile eines börsennotierten Unternehmens. Er ist das Produkt aus dem Kurswert, also dem an der Börse gehandelten Börsenkurs, und der Anzahl der im Umlauf befindlichen Anteile des Unternehmens. Die selbst im Bestand gehaltenen Anteile (Eigenbestand) bleiben bei der Berechnung der Marktkapitalisierung unberücksichtigt.
4 Das Locked-in-Syndrom (engl.; dt. Eingeschlossensein- bzw. Gefangensein-Syndrom) bezeichnet einen Zustand, in dem ein Mensch zwar bei Bewusstsein, jedoch körperlich fast vollständig gelähmt und unfähig ist, sich sprachlich oder durch Bewegungen verständlich zu machen.
5 Das Wort Rentenpapier lässt sich auf das altfranzösische rendre für „Ertrag“ zurückführen, das erstmals verbreitet im Jahre 1340 in Deutschland als „Rente“ auftauchte. Im Deutschen wurde das Wort Rente zunächst für den – regelmäßig zahlbaren – Zins benutzt, so dass ein Rentenpapier ein „Zinspapier“ darstellte.
Das Wort Schuldverschreibung tauchte erstmals 1585 in einem Urkundenbuch des Landes Dithmarschen auf („Fürstliches Mandat betreffend Schuld- und Pfandverschreibungen und wucherliche Contracte“), wonach eine Schuldverschreibung unter Anwesenheit von Schreibern und Zeugen protokolliert sein musste.
Das Wort Anleihe als Synonym für Schuldverschreibung tauchte erstmals am 16. September 1789 auf einem Plakat für Geldaufnahmen der Herzogtümer Schleswig und Holstein auf. Es leitet sich aus dem althochdeutschen analёhan (um 800) ab, das im Deutschen für ein Darlehen (lateinisch mutuum) benutzt wurde.
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7 Vgl. Gabler Wirtschaftslexikon.
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