Wir haben gesehen, dass das, was in der ökonomischen Kalkulation nicht aufgeht, als Marktanomalien uns wieder begegnet. Wir haben den Mechanismus beschrieben, dem wir diese neuerliche, nun abgespaltene Begegnung mit dem Unberechenbaren verdanken, eben dem Mechanismus der Abspaltung von mathematischen und auch mit sozialwissenschaftlichen Methoden der Stochastik nicht berechenbaren Marktprozessen – und Produktionsprozessen, wie wir gleich sehen werden.
Wer einmal von Berufs wegen in einer wichtigen Verhandlung saß, weiß, wie „vorteilhaft“ es war, eine weitgehende Unabhängigkeit vom angestrebten Ergebnis mit in die Verhandlunssituation bringen zu können; auch die entwickelte Fähigkeit zum „Bluff“ ist übrigens nicht zu unterschätzen. Chinesen sagt man nach, dass es uns Langnasen schwer fällt, hinter dem Dauergrinsen die Motivation wie die Absichten zu erkennen, denen sie in einer Verhandlung folgen; und da ist etwas dran. Der homo oeconomicus, stets nach Maximierung seines Nuzens und Wohlergehens strebend, ist so ein stets nur selbstbezogener Akteur im Tausch1. Sein Verhalten ist stets rational, er kennt weder Neid noch Ranküne, ihm machen Unterschiede zwischen ihm und dem anderen (Akteur) nichts aus.
Das, was ihn treibt, ist einzig, von einer feststehenden Gesamtmenge an Waren und Gütern den größeren Anteil zu erwerben. Und was er hinnehmen muss, ist, dass mit dem Zuwachs seines Besitzes, also der von ihm erworbenen Gütermenge, mit jedem neu hinzu gewonnenen Stück sein Nutzen sinkt2.
Nachvollziebar allemal ist, dass eine Verhandlung ein Mittel ist, um einen Zweck, ein Ziel zu erreichen, und, dass es oft sinnvoll undvon Nutzen ist, Mittel und Zeck von einander zu trennen, sich ganz auf das Mittel zu konzentrieren und weniger Katheter-Diskussionen um Zwecke und Ziele zu führen. Auf den Sinkflug des Grenznutzens kommen wir später noch zurück.
Ob man nun das erste oder das zweite Gossensche Gesetz heranzieht, das zweite um den Gesamtnutzen (eines Haushaltes) rechnerisch zu analysieren, es bleibt bei einer hoch abstrakten und irrelevanten Extratheorie eines vermeintlich rein individuell begründeten Nutzenkalküls, dessen Entscheidungsrelevanz im Tauschverhalten nur dann aufgeht, wenn Entscheidungen unabhängig von Kontexten, insbesondere von den konkurrierenden Akteuren, von gesellschaftlichen Formen der Arbeitsteilung noch den Bedingungen der Warenproduktion in marktwirtschaftlichen Ökonomien bedingt sind. Diese Trennung von Inhalten, diese Abstaltung von Qualität zugunsten einer berechenbaren Gleichung hat Tradition, ist eine Hypostasierung von Wissenschaft gegenüber allem, was sich einer bestimmten Form von Wissen entzieht.
Foster vergleicht die Neoklassik treffend mit der mythischen Gestalt des Königs Midas, der sich von Dionysos ausbedang, dass alles, was er (Midas) berührt, zu Gold werden sollte, was natürlich sogleich ihm dem Hungertod sehr nahe brachte3. In ökonomischen Kategorien gesprochen, ersetze man Gold durch Geld und erhalte im Dialog zwischen Cecil Graham und Lord Darlington den fundamentalen Unterschied zwischen zwischen Preis und Wert einer Ware:
Cecil Graham: Was ist ein Zyniker?
Lord Darlington: Ein Mensch, der von allem und jedem nur den Preis kennt und nicht den Wert.4
Oft zitiert, um dem tumben homo oeconomicus einen Spiegel vorzuhalten, aber ebenso oft am literarischen Ort nicht weitergelesen:
Cecil Graham: Und ein Romantiker, mein lieber Darlington, ist ein Mensch, der allem einen übertriebenen Wert beimißt, ohne sich je nach dem gängigen Preis für irgend etwas zu erkundigen.
Bei aller Irrelevanz der neoklassischen Substitution von Wert und Preis soll aber eines durchaus hier festgehalten werden. Der homo oeconomicus steht für einen Aspekt menschlichen Verhaltens in wirtschaftlichen Kontexten, der als ein ontologischer Aspekt dieses Verhaltens generalisierbar ist, nämlich, dass die beiden wesentlichen Grundannahmen für wirtschaftliches Handeln aus marktwirtschaftlicher Sicht Rationalität und Streben nach Nutzenmaximierung sind. So trivial es klingt, so wichtig ist, diese Grundannahmen nicht vom Tisch zu fegen. Kein Arbeitnehmer wird vor der Wahl stehend, zwischen einem Arbeitgeber, der weniger bezahlt als ein anderer – und vielleicht auch noch weitere Nachteile bietet – die schlechtere Lösung für sich wählen. Rationales und nutzenorientiertes resp. vernünftiges Verhalten bildet nicht nur eine individuelle Größe, sondern eine, den wirtschaftlichen Prozess enorm antreibende Kraft, die, unter Wohlfahrtsgesichtspunkten betrachtet, ebensolche Vorteile bietet. An dieser Stelle ist auch eine Ebene der Diskrimation zwischen marktwirtschaftlicher und staatsmonoplistischer Wirtschaftsordnungen zu suchen, insofern darin eine rationale Orientierung am gesellschaftlichen Nutzen im Faktor Arbeit nicht stattfindet.
Hebt man diesen Gedanken auf eine grundsätzliche, wissenschaftskritische Ebene und die Frage, wie kann Wissenschaft überhaupt einen Beitrag leisten, ökonomische Wohlfahrt „berechenbar“ zu machen, dann sieht man in der frühen, nachkeynesianischen Ökonomik eine Verbindung zwischen sozialen Nutzen und dem Pareto-Prinzip, dass dessen wissenschaftliche Grundlage bildet. Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass es erkenntnistheoretisch höchst problematisch ist, intersubjektive Nutzenvergleiche anzustellen wie auch theoretische Schlussverfahren zwischen einer Wohlfahrtsökonomie und induviduellen Nutzenkalkülen anzustrengen. Die neoklassische Ökonomie war sich anfangs durchaus bewusst, dass diese theoretische bzw. logische Schwierigkeit besteht, fand aber im englischen Utilitarismus einen möglichen, gangbaren Weg.
Dort wurde im Nutzenkalkül zugleich auch ein Schlüssel gesehen, Fragen der normativen Ethik gleich mit zu beantworten. Hat ein Hungernder durch den Diebstahl eines Brotes von einem Reichen nicht einen gerechtfertigten Nutzen, da jener das Brot unbedingt, dieser aber nur bedingt braucht? Wiegt der Nutzen des Armen den Verlust des Reichen nicht auf? Die Schwierigkeit, die immer dann ins Spiel kommt, wenn man von einem individualistischen Ansatz aus zu kollektiven Größen wie dem Gesamtnutzen kommen möchte und seinen diese Schwierigkeiten auch nur rein rechnerischer Art, umgeht der englische Utilitarismus dadurch, dass er einfach das Maß des kollektiven Wohls außer Acht lässt. Ohne Maß, ohne Anspruch auf Messbarkeit kann er aber durchaus mit dem schwachen Pareto Prinzip von einem Optimum für ein Kollektiv sprechen, solange der Nutzenzuwachs eines Individuums nicht in gleichem oder höherem Maße eine Verschlechterung bei einem anderen Individuum nach sich zieht.
Dann stimmt anscheinend die „Formel“ wieder, wenn sich ein Zustand verbessert, ohne, dass sich damit ein anderer verschlechtert. Und wenn dann noch eine Situation erreicht ist, in welcher sich kein Individuum mehr weiter verbessern kann, also ein Pareto-Optimum, ist zugleich auch ein zwar nicht durch Messbarkeit vorhersagbarer, aber doch ein nachträglich messbarer und zugleich de facto optimaler Zustand erreicht. Wir erinnern uns an die Ausführungen zu Wachstum und Umverteilung, die nun durch den englischen Utilitarismus in ein neues Licht geraten.
Über Kaldor5 und Hicks6 gelangte der Gedanke, dass Umverteilungsgerechtigkeit kein wissenschaftlicher, sondern ein politischer Begriff ist und deshalb aus der Ökonomik ausgeschlossen werden muss in die Diskussion der folgenden Jahre. Dabei blieb das Nutzenkriterium bestehen und mit ihm das Pareto-Prinzip. Alle Formen politischer Verbesserungen der wirtschaftlichen Situation, also Reformen, wurden nun nach dem sog. Kaldor-Hicks-Kriterium bewertet. Demnach ist eine Reform generell zu begrüßen, wenn sie eine potenzielle Verbesserung im Sinne des Pareto-Prinzips darstellt. Und es ist nicht Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung, ob dabei de facto Gewinne und Verluste, also Nutzen und Schaden nicht nur ungleich verteilt bleiben, nicht einmal, wenn Gewinne und Verluste im gesamtgesellschaftlichen Sinne diese Ungleichheit sogar noch verstärken – Oskar Wilde’s Zyniker grüßt.
Aber was ist gewonnen durch den Abschied der Wissenschaft der Ökonomik von der Politik, außer, dass sie ihre Fröhlichkeit bewahrt? Immerhin ist die Ungleichheit, diese größte aller Anomalien im ökonomischen Gleichgewichtsmodell, wieder ins Kalkül herein geholt worden. Und, wichtiger noch, in dieser Form der Verallgemeinerung auf wohlfahrtskonforme Kriterien erlaubt das Pareto-Prinzip den Ökonomen, fortan Fragen der Effizienz zu stellen und von Fragen der Verteilung getrennt zu halten. Ökonomen können nun – und das war der Anfang ihrer Hochzeit als Experten und politische Berater – alle wirtschaftlichen und auch die wirtschaftspolitischen Sachverhalte, Reformen wie Abkommen und Gesetzesentwürfe, einer wissenschaftlich nüchternen, rein zahlengetriebenen Kosten-Nutzen-Analayse unterziehen, ohne sich der Frage der Verteilungsgerechtigkeit stellen zu müssen.
Die Kosten-Nutzen-Analyse7 wurde schnell zum bevorzugten Verfahren der Witschaftsökonomik, angewandt vor allem auf Entscheidungsprozesse öffentlicher Infrastruktur-Investitionsvorhaben und damit auch Liebling der politischen Entscheider. Dort avencierte die Kosten-Nutzen-Analyse als Sicherung und Legitimation staatlicher Investitionsentscheidungen und als Spielball deren wechselnder Interessenlagen.
Denn selbst immanent betrachtet, also aus rein mathematischer Sicht, ist die Kosten-Nutzen-Analyse als politisches Mittel zum Zweck recht flexibel, dehnbar, mit anderen Worten manipulationsanfällig.
Ihre „Rationalität“ hängt ganz wesentlich davon ab, ob die einzelnen Kosten- und Nutzendeterminanten ausreichend quantifiziert werden können, von der Bestimmung der relevanten Zeitperiode, in der ein Investitionsprojekt abdiskontiert wird und der damit verbundenen Größe des Diskontfaktors; eine Reihe von Nebenwirkungen, von z. B. nicht-pekuniären Erträgen positiver wie negativer Art, die sich zu erheblichen Größen aufsummieren können, ganz zu schweigen.
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[title]Begriffe – Anmerkungen – Titel – Autoren[/title]
König Midas Effekt – Rationalität und Streben nach Nutzenmaximierung – englischer Utilitarismus – Kaldor-Hicks-Kriterium – Kosten-Nutzen-Analayse
1 In der Übersetzung self regarding vs. selfish
2 Das erste Gossensche Gesetz (auch Gesetz vom abnehmenden Grenznutzen oder Sättigungsgesetz) lautet:
„Die Größe eines und desselben Genusses nimmt, wenn wir mit Bereitung des Genusses ununterbrochen fortfahren, fortwährend ab, bis zuletzt Sättigung eintritt.“
Siehe: Hermann Heinrich Gossen: Entwickelung der Gesetze des menschlichen Verkehrs, und der daraus fließenden Regeln für menschliches Handeln. Braunschweig 1854.
Paradebeispiel ist der Konsum von Nahrungsmitteln, bei denen typischerweise Sättigung eintritt (und in der Folge der Grenznutzen auch negativ werden kann). So stiftet der Genuss eines ersten Glases Wasser durch einen Durstigen einen sehr hohen Nutzen, wohingegen das zweite bereits einen etwas geringeren, das dritte wiederum etwas weniger zusätzlichen Nutzen bringt und das vierte vielleicht schon Völlegefühl oder Übelkeit verursacht, d. h. der Grenznutzen schlägt ins Negative um. Der Extremfall könnte soweit gehen, dass man im Wasser ertrinkt, falls zu viel davon da ist. Und man natürlich zu lange darin schwimmt oder unter einer „Waterboarding-Prozedur“ steht.
3 Forster, John Bellamy, Brett Clark Barrett und Richard York (2009). „The Midas Effect: A Critique of Climate Change Economics“. In: Development and Change 40(6), S. 1085-1097
4 Wild, Oscar (1999). Komödien. Zürich, Haffmans Verlag
5 N. Kaldor verknüpft explizit die Einkommensverteilung (gemessen an der Lohnquote) mit der Investitionsquote, wobei die Investitionsquote durch die autonomen Investitionsentscheidungen der Investoren/Produzenten festgelegt wird.
Aufgrund des reinen Kreislaufzusammenhangs muss die Lohnquote sinken, wenn die Investitionsquote steigt bzw. steigen soll. Wird die Investitionsquote quasi autonom durch das Investorenverhalten festgelegt, so sorgt die Variation der Lohnquote für die Aufrechterhaltung des Kreislaufgleichgewichts. Bei kurzfristiger Analyse, d.h. Konstanz von Realeinkommen, Beschäftigung und Lohnniveau, kann diese Anpassung über Preisbewegungen erklärt werden (Umverteilungswirkung von inflationären Multiplikatorprozessen). Verlässt man die kurzfristige Analyse und unterstellt, dass in einer Expansionsphase die Arbeitsproduktivität steigt, und nimmt man weiter an, dass das Lohnniveau verzögert an die Entwicklung von Arbeitsproduktivität und Preisniveau angepasst wird, sinkt die Lohnquote in dieser Phase. Für eine analog aufgebaute Kontraktionsphase gilt das Umgekehrte. Diese Umverteilungswirkungen von Lohn-Lags sind mit heranzuziehen, wenn die in der Realität zu beobachtenden zyklischen Schwankungen der Lohnquote erklärt werden sollen. Für eine langfristige Analyse stellt die Kaldor-Theorie einen Zusammenhang zwischen Verteilung und Wachstum dar. (Gabler)
6 Hicks veröffentlichte im Jahr 1939 das sog. Kaldor-Hicks-Kriterium, mit dem die Effizienz von Kompensationszahlungen bei Wohlfahrtsvergleichen beschrieben wird.
Des Weiteren trug er maßgeblich zur Wohlfahrtsökonomik bei – er entwickelte die nach ihm benannten Wohlfahrtsmaße: equivalent/compensating variation/surplus. Sein Konzept des Einkommens, das auf Vorarbeiten von Erik Robert Lindahl und Irving Fisher basiert, gilt bis heute als theoretische Basis Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnung (Wikipedia)
7 Auf der Wohlfahrtsökonomik beruhendes, v.a. in öffentlichen Haushaltswirtschaften angewendetes Verfahren zur vergleichenden Bewertung von Objekten oder Handlungsalternativen; Cost-Benefit-Analyse, Nutzen-Kosten-Analyse, Benefit-Cost-Analyse.
Hermann Heinrich Gossen (* 7. September 1810 in Düren; † 13. Februar 1858 in Köln)
Nicholas Kaldor, Baron Kaldor (Káldor Miklós; * 12. März 1908 in Budapest; † 30. September 1986 in Papworth Everard, Cambridgeshire)
Sir John Richard Hicks (* 8. April 1904 in Leamington Spa, England; † 20. Mai 1989 in Blockley, England)
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