Der Normenstreit

Da, wo mit wenig Verstand jeder Innovation das Wort geredet wird, stellt sich sofort auch das Thema der Macht der Märkte. Was hier erneut fälschlicherweise mit dem politischen Begriff der Macht belegt, ja verschleiert wird, ist der Glaube an die Metaphysik der Technik und deren normativen Charakter. Der ruft den Einfluss der Politik auf die Bühne, einen scheinbar erneut wild gewordenen Kapitalismus auf den Neuen Märkten zu disziplinieren. Der normative Charakter der Märkte, so schreit es aus den Parlamenten, versetzt ein paar blutjunge Analysten oder Fondsmanager in die Lage, ganze Volkswirtschaften, besonders in den sog. Schwellenländern in die Knie zu zwingen, indem sie ihnen die Geldhähne zudrehen; was für ein Glaube an die Allmacht einzelner.

Ohne dabei auf die gleichzeitig vielfältigen anderen ökonomischen Einschränkungen zu blicken, finden seit 2007/08 um so leichter jene Zuspruch, die die demokratisch legitimierten Regierungen noch höher auf ihre Sockel hiefen und breite Zustimmung – auch in nicht ganz so demokratischen Kreisen – finden, die Märkte durch starke Regulierungen zu bändigen. Die Idee vom Primat der Politik tritt auf gegen die Idee, freie Märkte könnten sich selbst organisieren und machten bis zu einem gewissen Punkt Politik sogar überflüssig.

Normativ und sein Antonym: ‚deskriptiv‘ streiten um die Deutungshoheit dessen, was in der Welt vor sich geht. Die einen auf dem Feld der Märkte und die anderen auf dem der Politik. Und dabei stehen dann für eine gewisse Zeit eher die Märkte für Vernunft und Rationalität, die Politik für Chaos und Anarchie wie umgekehrt. Wir erkennen, dass der normative Charakter wie sein Antonym nicht aus der Technischen Entwicklung allein stammen, sondern aus der Verzahnung von Wirtschaft und Politik, wobei die Politik ihren vorherrschenden Status, ihre Macht zur Regulation, mehr oder weniger in das wirtschaftliche Geschehen einbringt. Dabei besteht immer die Gefahr, dass das politische Normativ das ökonomische so sehr beschneidet, dass Konjunkturen und die gut laufenden Märkte in verschiedensten Volkswirtschaften negativ betroffen sein können. Verzahnung und Vernetzung von Märkten und Wertschöpfungsketten sowie internationaler Handel und Finanzmärkte, kurz Globalisierung, ermöglichen diese weitreichenden Effekte.

Nationale wie internationale Politikfelder werden besetzt und als Regulative in die ökonomischen Zusammenhänge gebracht. Dabei sind militärische Felder ebenso bedeutend, wie handelspolitische, fiskalische, besonders, wenn sie wie jüngst in den USA zu einer weitreichenden Steuerreform mit hohen Staats-Verschuldungseffekten führen, sowie geldpolitische, oder konstitutionelle Politikfelder, wie etwa die Einführung eines türkischen Präsidialsystems und die Ausbreitung populistischer Parteinenströmungen.

Sowohl für Anleger wie für Arbeitnehmer haben solche politischen Regulationen entscheidenden Einfluss. Notenbanken greifen zur Zeit heftig in eine stark von nationalistischen Verhaltensweisen geprägte Politik ein, stimmen ihre geldpolitischen Ziele und Maßnahmen miteinander ab, während politische Vereinbarungen und langjährige Normen reihenweise außer Kraft gesetzt werden. Was wenige einsehen wollen, ist, dass Politik ohne Zweifel nach den großen Krisen der jüngsten Vergangeheit tatsächlich erfolgreich die Märkte bis zu einem gewissen Grad gebändigt, weitgehend sogar kontrolliert hat: durch höhere Auflagen für die Banken, durch eine sehr aktive Geldpolitik, in Europa durch die Schaffung eines Rettungsfonds, der die Bonität starker Staaten nutzt, um schwachen Staaten verbilligt Geld zu beschaffen, also gegen die eigenen politischen Verträge quasi zur Hintertür die EU als eine Transferunion langsam aber stetig einführt.

Auf der anderen Seiten waren es z.B. die fünf großen US-Plattform- und IT-Companies, die einen kaum verhüllten Anspruch, die höhere Rationalität gegenüber der Politik zu verkörpern, nicht nur öffentlich geäußert, sondern auch in ihren Geschäftsmodellen umgesetzt haben. Erste gegenläufige Regulierungen im Bereich Datenschutz durch die europäischen Regierungen setzten normative Grenzen und deuten jetzt schon darauf hin, dass Regierungen, zuminest in Europa, die Einfüsse von Unternehmen und Wirtschaft auf politische Felder nicht überborden lassen; der Gewinner dieses Kampfes zwischen dem Träger politischer Macht und den gegenüber Politik einflussreichen, privatwirtschaftlichen Institutionen steht natürlich schon fest.
Die Frage ist also nicht, von wo aus der normative Chrarakter seinen Ausgangspunkt nimmt, sondern wie sich unter dem Primat der Politik, Wirtschaft und Politik prgmatisch einigen und welche alltäglichen Bedeutungen dies für die Menschen haben wird.

Kontrolle und Regulierung können in den westlichen Ökonomien bislang die „Verzerrungen“ in den Märkten beeinflussen. Sie können aber nicht verhindern, dass es zu neuerlichen Deregulierungen und Kontrollverlusten kommt. Und dies gilt für beide Seiten. Das ist neu, denn bislang galt dies allein für den Bereich der Wirtschaft und nicht auf dem Feld der Politik selbst. Auf dem Feld der Wirtschaft sind maximales Wachstum und maximale Gewinne in einem gewissen Maße selbstregulierend. Selbstregulierend insofern, als sie Triebkräfte der Destabilisierung der marktwirtschaftlichen Prozesse selbst sind.
Die Instabilität der Marktwirtschaft hat also nicht nur inhärente ökonomische, sondern auch politische Regulative zur Ursache, die sowohl wiederum wirtschaftpolitischer Natur sein können wie aber auch rein machtpolitischer Natur.
Die Ökonomie selbst tut sich bislang schwer damit, was in der Finanzmarkttheorie längst bekannt ist: Hohe Gewinne und großes Wachstum gibt es nur bei einem hohen, unkalkulierbaren Risiko. Im Gegenteil; in der weit höher als der Mikroökonomie angesehen Makroökonomie, immerhin das Wirtschaftsfeld, das sowohl die Entwicklung der kulturellen wie der sozialen Bedingungen als Folgen der Gesamtökonomie gerne als ihre ureigensten Errungenschaften feiern möchte, wird nach wie vor ein bis an die Grenzen des Möglichen gehendes Wirtschaftwachstum angestrebt und glorifiziert, ohne die damit einherkommenden Risken zu beachten und zu benennen, schon gar nicht in öffentlichen Diskursen. Wirtschaftswachstum, so deren Grundgesetzt wirtschaftlichen Handelns oder oberstes Normativ, ist gleich bedeutend mit gesellschaftlicher Wohlfahrt.

Einzig Inflation wird als Risikofaktor eines ungebremsten Wachstum erkannt und benannt. Und das heilende Gegengift gegen eine ausufernde Inflation wird gleich mit geliefert, das Zinsniveau, das durch die Notenbank zu gegebenem Zeitpunkt einfach erhöht wird. Dass aber die notgedrungen meist brachiale Erhöhung der Zinsen durch die Notenbanken das Wachstum ziemlich abrupt abwürgt und sozial wie kulturell enorm riskant ist, darüber schweigt die ehrwürdigen Gesellschaft der Wirtschaftsweisen und Lehrstuhlakademiker. Dass dies übringens auch im umgekehrten Falle gilt, wie man leidlich erkennen kann zur Zeit, wird auch als scheinbar notwendiges Opfer bzw. Übel hingenommen. Hinnehmen müssen es vor allem die, die man dort zum Humankapital zählt und die ganz und gar nicht hingebungsvoll diesem scheinbaren ultimativen Normativ der Marktwirtschaft folgen wollen. Sie sind nicht risikoscheu, wenn sie nicht bereit sind, ein hohes Risiko in Bezug auf ihre Arbeit einzugehen. Sie sind aus Erfahrung und Umsicht klug, klug im Sinne von Vorsicht, wie dies übringens auch weite Teile der Ökonomie sind bzw. wie dies im Kern eigentlich die Marktwirtschaft selbst ist.

Anpassungsfähig und vorsichtig sind die wesentlichen Eigenschaften der Mikroökonomie, selbst jener, der man kaum noch das Präfix: mikro zubilligt, weil sie auf großen Marktfeldern operiert. Aktiengesellschaften etwa wurden als Risikogemeinschaften gegründet, sind also Begrenzung von zu großen Risiken, vor allem bei Investitionen und Innovationen. Flexibilität und Vorsicht haben deshalb auch wenig mit moralischem Impetus in der Wirtschaft zu tun, also mehr mit pragmatischem. Bis auf wenige bekannte Fälle sind Aktiengesellschaften wie auch die Akteure auf den Finanzmärkten alles andere als Glücksspieler. Hasardeure leben in der Regel in solchen Landschaften selten lang.

Mit jeder Technischen Erneuerung einher gehen meist doch „reelle“ Erwartungen an Erfolg und ein Exit-Plan, der im umgekehrten Fall das Risiko so weit wie möglich reduziert. Natürlich sehen wir die Hasardeure auf den „Neuen Märkten“, für die ein reeller Umgang mit Geld, Wachstum und Politik nicht möglich erscheint. Die investieren blind in die unterschiedlichsten Bereiche, gerne in die Wissensökonomie und in die Konzepte von Alternativwährungen wie etwa das Kryptogeld. Das galt als absolut sicher, bevor es bereits kurze Zeit später gehackt wurde und einigen Hasardeuren Millionen-Defizite bescherte. Gerdade die Kryptowährung zeigte schnell und eindringlich, dass eine wahre Innovation, nämlich die Risiken und die Abhängigkeiten zu überwinden, die in dem traditionellen, bankenbasierten Geldsystem liegen und zum Geschäftsmodell zu entwickeln, nicht nur selbst schnell zu einem unkontrollierbaren Spekulationsfeld und Feld für Kriminelle werden kann.
Was scheinbar unangreifbar stabile Algorithmen zu garantieren schienen, wurde einen Wimpernschlag zeitlich entfernt zu einem extrem risikoreichen, instabilen Geschäftsmodell. Es braucht mehr als eine Idee. Es braucht auch die praktische Vernunft.

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