Epistemologische Fragwürdigkeiten

Wir haben das Modell der Neoklassik und seine Implikationen kennen gelernt. Der methodische Individualismus bestimmt das Induviduum als Subjekt oder Ausgang – man kann auch sagen, als „Anfang“ – von wirtschaftlichen Handlungen. Ausgang seiner wirtschaftlichen Verhaltensweisen ist ein Motiv bzw. eine Motivation, nämlich seine rationale Nutzenorientierung. Nun sollte man nicht gleich vorschnell diesen Gedanken beiseite schieben und darauf verweisen, dass Marx etwa ein gänzlich anderes „Subjekt“ vor Augen hatte, nämlich die Arbeiterklasse, deren Motiv die Bekämpfung und Überwindung der Widersprüche zwischen Kapital und Arbeit sind, die epistemologisch im Sinne der Ökonomik in das Thema der „Wohlfahrt“ gehört. Epistemologisch ist es sicherlich fragwürdig, wie ein Widerspruch ein Handlungsmotiv werden kann, zumal selbst Marx einräumen musste, dass ein Bewusstsein des Widerspruches zwischen Arbeit und Kapital so leicht nicht zu bekommen ist? Jedenfalls nicht, indem man einfach nur seiner Arbeit und seinem Konsum nachgeht1. Generell sind Motive bzw. Motivationen, unterstellt sie sind auch tastsächlich mit dem folgenden Verhalten ursächlich verbunden, epistemologisch schwierig und fragwürdig.

Denn Motivationen sind lediglich zur Schlussfolgerung sich aufdrängende Phänomene, die sich in empirischen Experimenten erschließen, wie dies die experimentelle Psychologie typischerweise anstellt. Motivationen selbst sind empirisch nicht nachweisbar. Lediglich zu schließen ist auf sie aus phänomenalen Beobachtungen. Und dies gilt generell. Man kann als außenstehender Beobachter aus Verhaltensweisen auf Motivationen schließen; altruistische, faire, egoistische u.a. Motive selbst kann man nicht sehen, mithin also an sich nicht beobaachten. Motiv und Verhalten können also einen Konnex haben, mehr nicht. Damit steht der methodische Ansatz des methodischen Individualismus gleich mehrfach in Frage. Einmal sind seine Erklärungen nicht aus empirischen Forschungen entsprungen, zum anderen sind seine Motive nicht begründet, sondern schlichte Behauptungen bzw. nicht einmal wissenschaftlich überprüfte Hypothesen. Das alles wäre zu verschmerzen und würde den arg reduktionistischen Modellentwurf der Neoklassik nicht gleich samt und sonders in Frage stellen, wäre da nicht die theoretische Diskrepanz, die dem Modell selbst inhärent ist. Demnach ist dem Modell des homo oeconomicus inhärent, dass selbst altruistische u.a. Motivationen eben nicht mit altruistischen Verhalten kongruent sind; dies gilt übringens auch umgekehrt, und dass sie aber in einem asymmetrischen Verhältnis zu einander stehen können.

Nicht selten findet man in der Ökonomik und nicht nur in der Neoklassik Versuche, sozialpsychologische und kulturelle Dispositionen evolutionär erklaren bzw. begründen zu wollen. Das ist epistemologischer Unsinn wie auch ein völliges Missverständnis der evolutionsbiologischen Forschung von Darwin. Weder Egoismus als gattungsspezifische Form noch Altruismus können mit Evolution begründet werden. Egoismus als eine Art von Selbstreferenzialität gattungsspezifischen Verhaltens wäre, so zu bestimmen versucht, aber nichts anderes als die Vererbung selbst, also Selbsterhaltung der Gattung und nichts daran konnotiert damit mit sozialpschychologischen Dispositionen.
Altruismus ist sogar eine Verhaltensweise, die in jedem evolutionsbiologischen Modell ein äußerst gravierendes Problem darstellt, weil es dem Grundsatz der Vererbung ganz generell widerspricht. Die Vererbung erfolgt phänotypisch, weil nur ein solcher Phänotyp die Generationsgrenze zu überschreiten vermag, sich also fortpflanzen kann, wenn genügend zeugungsfähige Nachkommen der gleichen Art bzw. des gleichen Phänotyps vorhanden sind.
Würde man nun wie es oft genug geschieht, diesen Vorgang als Individualismus bezeichnen, hätte man ebenso nichts anderes bezeichnet, als die Chance der Vererbung durch gattungsspezifisches Verhalten, also etwas konträr Verschiedenes zum Individualismus als sozialpschychologische und kulturelle Disposition.

Wenn wir in diesem Zusammenhag von sozialpsychologischen und kulturellen Dispositionen2 sprechen, dann bestimmen wir damit keine „Persönlichkeitseigenschaften“ als eine Art Anlage zu einer immer wieder auftretenden Verhaltensbereitschaft noch eine schicksalhafte oder ‚dispositio omnipotens‘. Wir bestimmen Dispositionen schlicht als soziale, psychologische oder kulturelle Ermöglichungsform, also etwas, was die Bedingung dafür, das etwas möglich ist, in sozialen, kulturellen oder psychologischen Realitäten hat, auch, um den Unterschied zu Restriktionen klar zu markieren, die in allen diesen Zusammenhängen auftauchen können und defacto auch präsent sind. Wenn wir von Dispositionen in ökonomischen Kontexten sprechen, dann greifen wir auf die Arbeiten von Erich Kosiol (1962)3 zurück, der den sinnvollen und weitreicheden Unterschied zwischen zweckgerichteten Handlungen in „Strukturierung“ und „Disposition“ auf Unternehmensebene herausgearbeitet hat, wobei er die Grenzen zwischen Organisation, Planung, Disposition und Improvisation, die unter dem Oberbegriff „Ordnung“ zusammengefasst werden können, als fließend betrachtete. Wir pointieren dabei weniger die Tatsache, dass die Grenzen zwischen Disposition im Sinne von planbarer Tätigkeit und Organisationsstruktur, die die Planung gleichsam restriktiv behandelt, allein schon, weil jede Organisation auch einen hohen Grad an Nachvollziehbarkeit und Kontrolle von Entscheidungen und Verantwortlichkeiten beinhaltet. Wir weisen vielmehr darauf hin, dass jedes Unternehmen wie auch jeder Markt asymmetrische Strukturen und Prozesse4 aufweist, aus denen heraus sich beide, Unternehmen wie Märkte, besser verstehen lassen, als durch phantasievolle Gleichgewichte.

Auch wenn unter betrieblicher Disposition heute durch Digitalisierung betrieblicher Abläufe und Prozesse neue Formen der betrieblichen Organisation und teilweise auch neue Formen angegliederter Geschäftsbereiche- und modelle entstehen, hat die betriebliche Disposition nicht an Aktualität verloren; im Gegenteil. Durch die anfallenden Datenmengen und Auswertungsmöglichkeiten wird dem neoklassischen Wirtschaftssubjekt sozusagen der Boden unter den schwachen Beinchen entzogen. Insofern er Akteur im betrieblichen Ablauf ist, erschüttert Big Data seine Funktion zwischen Informationen und Prognosen. Die Diskrepanz zwischen der klassischen Informationsverarbeitung und der Prognosemöglichkeit aus moderner, digitaler Datenverarbeitung ist bereits heute so groß, dass dahinter der angestammte Akteur, der Disponent auf allen betrieblichen Ebenen bald verschwunden sein wird. Aber was bzw. wer kommt danach?
Aber auch für den Konsumenten, unseren homo oeconomicus bedeutet das, dass zwischen dem neoklassischen Wirtschaftsubjekt und dem empirischen Kaufverhalten dieses Dispositiv Big Data implementiert wird, so dass er seinen eh‘ schon geringen Residualstatus sogar noch zu verlierén droht an ein neues „Wirtschaftssubjekt“, etwas unbeholfen noch Digitalisierung und in noch schmahafter Euphorie KI – Künstliche Intelligenz – genannt. Noch ist die Scham das Ergebnis nicht eingelöster Versprechen; bis heute. Mit den Siegeszügen der Künstlichen Intelligenz, also mit der Kommodifizierung menschlichen Denkens, die heute noch im maschinellen Lernen in den Kinderschuhen steckt, mithin also noch in der peinlich überholten Industrialisierung menschlicher Intelligenz und Kommunikation auf digitaler Prozessbasis steckt, wird aber zunehmend diese „Scham“ verschwinden und die Schar der stolzen Apologeten der drastischen Effizienzsprünge durch Digitaliserung immer lauter.
Diese Vorstellung dreht einem nicht nur den Magen um. Das ginge ja noch und wäre auch einfach los zu werden. Es verrückt den Verstand. Und das ist erheblicher.

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MotivationenDispositionenRestriktionenDisponentKommodifizierung


1 We got the experience, but we missed the meaning.
2 Disposition (aus lat.: dispositio = „Aufteilung“, „Zuweisung“; „Anordnung“, „Verwaltung“, „Verfügung“ [dispositio omnipotens], „Fügung“ [schicksalhaft], „Aufstellung“, „Gliederung“, „Plan“)
3 Disposition hat stets die Aufgabe, die richtige Menge, zur richtigen Zeit, am richtigen Ort bereitzustellen, um die geplante Arbeitsleistung zu erreichen. Es handelt sich bei der Disposition um Funktionen, die mit planvollen Tätigkeiten wie der Einteilung, Verteilung oder Sortierung zusammenhängen. Dazu gehört konkret die Registrierung vom Kundenauftrag in der Kundenbetreuung (Auftragsannahme) über die bedarfsbezogene Bestellung der Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffe durch die Materialwirtschaft, die Planung der Durchlaufzeiten bei der Produktion, der Einsatz des Personals durch Personaldisponenten am richtigen Arbeitsplatz, die Verfügung über Finanzierungsinstrumente in der Finanzierung bis zum Vertrieb des Endprodukts in der Logistik durch Disponenten.
Vgl. Erich Kosiol, Organisation der Unternehmung, 1962, S. 28f.

4 Wir werden später auf die betriebliche Asymmetrie zwischen Entscheidung und Verantwortung ebenso eingehen wie auf die Asymmetrie zwischen Angebot und Nachfrage.


Erich Kosiol (* 18. Februar 1899 in Köln; † 7. September 1990 in Salzburg)

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