Ein Umsatz von jährlich knapp 62 Mrd. US-Dollar erscheint auf den ersten Blick nicht viel für den weltweiten Kunstmarkt. Damit aber, verglichen mit den jeweiligen Staatsumsätzen, steht der Kunstmarkt auf Platz 73 in der Liste der 192 Länder mit dem höchsten BIP weltweit, also da, wo Länder stehen wie Luxemburg oder Panama, aber noch vor Uruguay, Costa Rica, Bulgarien, Kroatien, Weißrussland und Tansania.
Von allen diesen Ländern wird über verschiedene internationale Institutionen wie etwa dem IWF und in internationalen Handelsverträgen weit mehr gesetzliche Treue und Einhaltung von vertraglichen Bedingungen und Richtlinen erwartet, als von den Akteuren auf den weltweit agierenden Kunstmärkten.
Wir haben bereits einige der Unterschiede zwischen Kunstmarkt und anderen Marktformen herausgestellt. Nimmt man mit Vorsicht einige andere Eigenschaften hinzu, die den Kunstmarkt und den Aktienmarkt vergleichbar machen, dann zeigt der Kunstmarkt gegenüber dem Aktienmarkt eine dramatisch schlechtere Transparenz und eine ebensolche Liquidität. Hinzu kommt noch, dass auf dem Kunstmarkt die Transaktionskosten enorm hoch sind und teilweise bis zu 25 Prozent des Objektwerts betragen können, was sicherlich auch daran liegt, dass hier nur zwei Auktionshäuser das Gros der Transaktionen durchführen. Preisindikationen gibt es nur auf Anfrage. Käufe und Verkäufe finden im Vergleich höchst selten statt. Daneben ist die Gefahr von Fälschungen eher so groß wie auf dem sog. „Grauen Aktienmarkt“ und deutet also auch mehr auf die strukturelle Verwandtschaft zwischen grauem Aktien- und zwielichtigen Kunstmarkt.
Beide, durch staatliche Duldung diskret akkzeptiert, haben die Aufgabe, Risikogelder – so nennt man auch jene Gelder, deren Herkunft unklar ist wie deren Eigentümer diskret sind – einem Markt und somit dem Zugriff einer öffentlicher Instanzen wieder zuzuführen; so vornehmlich das finanzpolitische Kalkül. Aber während die Investoren auf den Grauen Finanzmärkten eher kurzfristig denken, müssen Investoren bei Sammelobjekten in der Mehrzahl der Fälle langfristig investieren. Dabei aber stellt sich leider nicht der in der öffentlichen Diskussion entstandene Eindruck eines kurzfristig sagenhaft lukrativen Investments auch tatsächlich ein; im Gegenteil.
Gegenüber Aktienmärkten schneidet der Kunstmarkt, langfristig betrachtet, katastrophal negativ ab. Im Vergleich mit Aktien um etwa das Vierzigfache, sogar Briefmarken waren im gleichen Zeitraum um etwa das doppelte lukrativer1. Bleibt die Frage, warum das Wirtschaftssubjekt, der homo oeconomicus auf dem Kunstmarkt gegen jede Vernunft investiert? Denn den deutlich besseren Nutzen verspricht ja schon seit langem ein Investment in Aktien wie auch andere Allokationen. Sogar gegenüber US-Anleihen, die bekanntlich wegen der anhaltenden Niedrigzinsphase durch die Geldpolitik der Fed als völlig unattraktiv galten und lediglich durch die Verpflichtungen der institutionellen Anleger überhaupt noch gekauft wurden, liegt der Kunstmarkt zurück.
Der Kunstmarkt ist also im Vergleich zum Aktienmarkt das bei weitem schlechtere Investment und keiner sollte kommen und sagen, hier herrsche eben die Liebe zur Kunst. Das wird dem Sammler unterstellt und mag auch in einigen Fällen zurecht so sein, die ganze Geschichte aber erzählt sie nicht. Wenn denn diese romantische Remanenz einen Sinn ergibt, dann in der diskursiven Bestreitung und Homogenisierung all‘ der unschönen Dinge, die der Kunstmarkt beherbergt und austrägt.
Die ontologische Komplexität des Kunstmarktes aufzuzeigen und auszuhalten wäre eine Minimalanforderung an den Diskurs über Kunst, die aber ist in der Kunstgeschichte, im Feuilleton und im allgemeinen Bildungsdiskurs mit ihren opaken Begrifflichkeiten und dem romantischen Kitt an Schönheit gebildeter Syntax zugeschmiert.
Unterhalb des diskursiven Firniss, gerade noch durchscheinend zur Oberfläche, erkennt man eine Art „Refeudalisierung“2 der Kultur, an deren Spitze der Kunstmarkt agiert. Und an dessen Spitze wiederum agieren die beiden Autionshäuser Christie’s und Sotheby’s. Refeudalisierung bezeichnet einen Prozess, in dem remanent scheinbar überwundene Strukturen in unserer aktuellen Gesellschaft und Geschichte wieder auftauchen:„(es)droht mit dieser Entwicklung das, was man eine Refeudalisierung der Gesellschaft nennen könnte: eine Gesellschaft, in der Reichtum ebenso wie Armut innerhalb abgegrenzter sozialer Gruppen ‚vererbt‘ werden, und zwar nicht nur durch die Weitergabe bzw. das Fehlen von materiellen Gütern, sondern – sozialisatorisch weit früher und tiefgreifender – insbesondere durch die soziale Determination von Bildungs- und Aufstiegschancen.“3
Man kann diese Entwicklung auch als eine fraktale Struktur abbilden, in der Tradition, die wir als einen ‚Grundstock an Übereinkunft‘ bestimmen, um so der historischen Unbestimmtheit von Tradition zu entgehen, gleichsam wie eine Art Einschlüsse im geschichtlichen Veränderungsprozess sichtbar werden. Grundstock deshalb, weil per definitionen sich der gebräuchliche Begriff der Tradition auf keinen genauen historischen Moment bezieht oder sich chronologisch genau eingrenzen lässt. Ein Grundstock oder eine Versammlung von Übereinkünften ist im operativen Sinne besser zu handhaben, da aus dieser Sicht die Bedingungen für eine Übereinkunft in das Blickfeld geraten und so wiederum operativ von Nicht-Übereinkünften sich besser unterscheiden lassen. Konsens und Dissens lassen nicht nur die jeweiligen Bedingungen klarer werden, sondern eignen sich auch besser für eine Neubestimmung oder Neubearbeitung und Erweiterung. Weil der Begriff Tradition aus seiner Gebrauchstradition mittlerweile seinem Wesen nach als reaktionär (um-)bestimmt wurde, insofern er stets nur rekursiv und restriktiv gebraucht wird und also Erweiterungen, Neuerungen, Umwertungen negativ bestimmt, ist er für uns also wenig geeignet.
Der Ausdruck ‚Grundstock an Übereinkunft‘ ist gegenüber dem Begriff der Tradition weder rekursiv, also unabgeschlossen, noch restriktiv, verneinend und ablehnend. In seiner fraktalen Struktur überwindet er auch die ontologische Reduktion der Wirklichkeit zwischen Immanenz und Transzendenz, erweitert das Gesichtsfeld auf eine Immanenz, in der Transzendenz wie heute fast aggressiv bis mitleidig arrogant üblich überhastet und ohne jede Form von Nachdenklichkeit aus dem Immanenzfeld verbannt wird.
Jene Löchrigkeit der Immanenz, von der wir sprachen gleichsam als einen Index transzendenter Einschlüsse, stellt also beide Begriffe nicht als Gegenbegriffe vor, sondern bezieht die Dynamik der Veränderbarkeit jeder individuellen, kollektiven wie objektiven Existenzweise mit ein; natürlich gilt dies auch für jede andere Art von Interaktionstheorie, auch die naturwissenschaftlichen. So betrachtet bewahrt die Tranzendenz die Immanenz vor jeder Form von Totalisierung.
Refeudalisierung oder feudale Remanenz im Kunstmarkt adressiert nicht nur die Zementierung von materieller Ungleicheit und kultureller Segregation. Die Spreizung von kultureller Zugehörigkeit und kulturellem Ausschluss geschieht vielfältig, etwa durch materielle Bedingungen im Verein mit sozialer Herkunft, durch die diskursive Verschleierung partikularer Interessen der Kunstmarkt-Protagonisten in scheinbar gesellschaftlichen und kulturell wertvollen Allgemeininteressen, durch die damit entsprechenden, undemokratischen Entscheidungsprozesse, die bis auf die lokale Ebene öffentliche Entscheidungen bzw. die öffentlichen Interessen an der kulturellen Gestaltung ungehört, unberücksichtigt lassend dispensieren und schlussendlich auch durch eine inszenierte Öffentlichkeit, die der Kunstmarkt als reine Selbstinszenierung gleichsam noch als kulturell bzw. künstlerisch wertvoll ‚verkauft‘.
Die materielle Ungleichheit wird noch gestützt durch steuerliche Sonderbehandlungen auf den Ebenen der Erbschafts-, Kapital- und Gewinnsteuern, von denen besonders Erben und Eigentümer von großen Kunstsammlungen profitieren. Kunstsammlungen werden so zu Remanenzen vormoderner, feudaler Eigentumsstrukturen, die darin Bestand haben, dass Reichtum einen speziell begünstigten Erbcharakter hat. Nach vormodernen feudalen Mustern verteilt sich also Reichtum in bestimmten, staatlich begünstigten Erbkreisen, die sich fast als eine ständisch organisierte Klasse des Kunstmarktes, sowohl die Autionshäuser wie auch Museen zum Erhalt ihres Reichtums als quasi Transaktionssytem von Erbmassen bedient, die dem Erhalt und der Wertsteigerung dienen. Und innerhalb dieses Transaktionssystem wirkt eine hierarchisch strukturierte ‚Klassengesellschaft‘ mit klaren Zuständigkeiten und Privilegien; die Kunstmarkt-Akteure.
[sidebar]
[title]Begriffe – Anmerkungen – Titel – Autoren[/title]
Remanenz – Refeudalisierung – fraktale Struktur – Grundstock – Tradition
1
2 Jürgen Habermas (1990), S. 336f.
3 Vgl. Rainer Forst (2005)
Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt am Main, 1990.
Rainer Forst: Die erste Frage der Gerechtigkeit. (2005). In: Aus Politik und Zeitgeschichte(APUZ 37/2005) PDF APUZ 37/2005
[/sidebar]