Immun gegen Empirie

Fragte man die Ökonomen selbst und eine repräsentative Anzahl normaler Menschen, ob denn die Volkswirtschaftslehre eine emirischen Wissenschaft sei, also eine, die sich mit den harten Fakten der Wirtschaft beschäftigt, dann wäre die Antwort wohl deutlich positiv. Viele Menschen meinen, wer wissenschaftlich mit der Wirtschaft zu tun hat, versteht auch etwas davon, versteht nicht nur wie Wirtschaft funktioniert, sondern könnte im Ernstfall auch ein Unternehmen erfolgreich leiten. Das bezweifeln wir.

Unser Zweifel begründet sich dadurch schon, dass mit Wissenschaft und wissenschaftlichen Know-how noch keine praktischen Fähigkeiten notwendigerweise verbunden sein müssen. Der Transfer zwischen Wissenschaft und der Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse ist aber nicht nur nicht notwendig gegeben, im Gegenteil. Er kann auch aktiv, also beabsichtigt ungewollt sein.
Diese seltsame Zurücknahme einer möglichen Anwendung von Wissenschaft auf gesellschaftliche Praxiszusammnhänge nennt man im sog. Kritischen Rationalismus wie auch in Teilbereichen der Wirtschaftswissenschaften: Modellplatonismus1. Das ist ein Verfahren und kann auch als eine wissenschaftliche Verhaltensweise beschrieben werden, Theorien und wissenschaftliche Modelle vor dem möglichen Scheitern an Erfahrungstatsachen durch Anwendung von Immunisierungsstrategien abzusichern.

Empirievermeidung in nenneswertem Ausmaß erkennt man, so Albert, daran, dass drei Arten von Indizien vorliegen. Zuvörderst die Formulierung von sog. unspezifizierten Ceteris-Paribus-Annahmen bzw. Klauseln. Das sind Annahmen bzw. wissenschaftstheoretische Klauseln, die Behauptungen, sofern sie in wissenschaftlichen Abhandlungen formuliert werden, direkt unter den Vorbehalt unveränderter Bedingungen bzw. Umständen stellen2.

Wir sind dieser Klausel kürzlich begegnet, als es darum ging, das Gesetz von Angebot und Nachfrage zu diskutieren. Das besagt nämlich, dass die Nachfrage nach einem Gut abnimmt, wenn der Preis steigt und alle anderen Variablen, wie z. B. die Menge sowie die Preise und Mengen anderer Güter und auch die produzierte bzw. angebotene Gesamtmenge als konstant erarchtet werden.
Wir haben gesehen, dass der Aussagewert solcher Anlaysen, bei denen nur eine Variable geändert werden kann und man dann auf deren „conditio“, also deren Wirksamkeit zum Ergebnis hin, analysiert, schlicht irrelevant sind. Warum also dieser Aufwand, wenn im Ergebnis wenig an Erkenntnis zu holen ist?

Die Immunisierungswirkung modellplatonistischer Aussagen liegt dann fast universell darin, dass jede gegenteilige Aussage die eigene insofern nicht kritisieren oder widerlegen kann, als sie sich ja veränderter Konditionen bzw. anderer Begleitumstände verdankt. Wenn also das Gegenteil zur eigenen Aussage apriori als ebenso richtig wie die eigene Aussage erklärt wird, diese aber weder die Methode noch das Ergebnis als solches in Frage stellt, kann man auch von Tautologie-Produktion sprechen. Die Eingangsbehauptung wird also, sofern eine Variable geändert werden kann und so das Gegenteil der Aussage ebenso richtig ist, eine Tautologie. Ändert man die Farbangabe eines weissen Pferdes, bekommt man im Ergebnis keinen Schimmel.

Nun muss der Richtigkeit halber natürlich gesagt werden, dass im Rahmen der Physik und generell der Natur- und diesen angelehnten Wissenschaften im Rahmen von Fallexperimenten es nicht nur üblich, sondern auch sinnvoll ist, die Wirksamkeit einzelner Variablen zu testen; in der Statik z.B. von großer Wichtigkeit.

Wir wollen in diesem Zusammenhang auch gar nicht so sehr auf wissenschaftstheoretische Zusammenhänge eingehen, sondern daran erinnern, in welchem Zusammenhang wir diese Thematik verortet haben, nämlich als Grenzbestimmung von Individuum und Gesellschaft aus marktwirtschaftlicher Sicht. Der unterstellte Zusammenhang wirtschaftlich wirksamer Maßnahmen auf das einzelne Wirtschaftssubjekt und deren Transfer zur kollektiven Akzeptanz ist unser Horizont.

So hat schon Albert vorgeschlagen, den Modellplatonismus durch konsequente Soziologisierung des ökonomischen Denkens zu überwinden, indem von den tatsächlichen Motivstrukturen, Wertorientierungen und Einstellungen der Wirtschaftssubjekte ausgegangen sowie der verhaltensrelevante Kontext berücksichtigt wird. Alberts methodologischer Individualismus gründet in der Annahme, dass die Grundbestandteile der sozialen Welt Individuen sind, so dass soziale Prozesse und Institutionen unter Rückgriff auf theoretische Aussagen über individuelles Verhalten bzw. Handeln erklärt werden müssen.

Wir sehen aber gerade darin eine weitere Möglichkeit wissenschaftlicher Immunisierung gegen Empirie, als das Modell des methologischen Individualismus sogleich am Grund seiner selbst seinen Anwendungsbereich auf das Individuum, auf dessen Präferenzen und also auf das Pareto-Prinzip, „welches immer als Ausdruck individueller Freiheit betrachtet wurde“3 beschränkt. Diese (Selbst-) Beschränkung stellt also die wissenschaftlichen Annahmen nicht, wie üblich und richtig als Hypothesen vor, sondern als Spezifizierung des beschränkten Anwendungsbereich. So ist diese Beschränkung immun gegen Empirie, als diese im Anwendungsfalls mit genteiligem Ergebnis nicht die Hypothesen widerlegt, sondern die Abweichung von Modell und Empirie als eine Anwendung an einem „anderen“ Ort, an einer anderen Bezugsgröße abwehrt.

Dieser „andere“ Ort, die andere Bezugsgröße, ist in der Wissenschaftsgeschichte der Ökonomie zum sog. methologischen Kollektivismus avenciert, dem wir uns zu einem späteren Zeitpunkt eingehender widmen werden. Es ist nicht ganz zufällig, dass mit der Auseinandersetzung des methologischen Individualimus quasi dessen Gegenpol stärker in den Blick gerät, stellt sich doch die Frage nach einer kollektiven Präferenz gegen eine individuelle Präferenz in unserem Zusammenhang gleichsam von selbst auf.
Um diesen Gegenpolen und ihren methologischen Aporien zu entgehen, bietet sich, gleichsam als dritte, wissenschaftliche Immuninierungsstrategie an, den Anwendungsbereich eines Modells gleich gänzlich offen zu lassen und sich so, bar jeder Empirie, gleich aus welchen methologischen Ansätzen heraus, ungestört der Berechnung von unterschiedlichen Variablen und somit varianten Modellen widmen zu können.
So hat man dann den Modellplatonismus in Reinkultur und nach allen Seiten hin immun und die Volkswirtschaft die „Ehre“ eines hoch-wissenschaftlichen Charakters, der in der Anwendung aufwendiger mathematischer Verfahren besteht und sich nicht mehr um die lästigen „Einzel- und Sonderfälle“ der Wirklichkeit kümmern muss.
Für uns aber ist von noch prominenterer Wirkung, dass sich die Volkswirtschaft, die ja eine Wissenschaft im „Anwendungsbereich“ menschlichen Verhaltens sein will und muss, der leidigen Frage nach dem Zusammenhang von Individuum und Gesellschaft, zu staatlichen und anderen Institutionen wie auch Normen und Regeln nicht mehr stellen muss, ja diesen gegenüber wissenschaftlich immun ist. So kommen zwei Implikationen im Denken der modernen Ökonomik langsam zu Vorschein: die eine ist, dass Wirtschaft eine, ausgehend von einem einzelnen Wirtschaftssubjekt berechnenbare Praxis ist. Die zweite, dass es einen logischen Zusammenhang zwischen einen individuellen und einem kollektiven Nutzen, also zwischen indivduellem Nutzen und kollektiver Wohlfahrt gibt.

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ModellplatonismusCeteris-Paribus-Annahmen bzw. -Klauseln


1 Modellplatonismus. Selbst Gablers Wirtschaftslexikon hat den Begriff von Hans Albert aufgenommen.
Vgl. auch: Modellplatonismus. Der neoklassisch Stil ökonomischen Denkens in kritischer Beleuchtung. In: Sozialwissenschaft und Gesellschaftsgstaltung. Festschrift für Gerhard Weiser. Hrsg. von F. Karrenberg und H. Albert. Berlin: Duncker & Humblot S. 45-76 sowie Hans Albert: Marktsoziologie und Entscheidungslogik: zur Kritik der reinen Ökonomik. Neuwied/Berlin 1967.
Nota bene: Natürlich weisen wir den Begriff Modellplatonismus, insofern er mit der Philosophie Platons assoziiert wird, auf das Schärfste zurück. Die Assoziation der platonischen Philosophie mit Empirielosigkeit ist nicht nur klischeehaft, sondern auch noch falsch.

2 Ceteris-Paribus-Klausel (c.p.); Analyse eines Zusammenhangs unter der Annahme, dass sich nur die betrachtete Variable ändert bei gleichzeitiger Konstanz aller anderen ökonomischen Variablen.
3 Sen, Amartya K. (1970). „The Impossibility of a Paretian Liberal.“ In: Jornal of Political Economy 78 (1), S. 152-157


Hans Albert (* 8. Februar 1921 in Köln)
Amartya Kumar Sen, CH (bengalisch: অমর্ত্য সেন Amartya Sen; * 3. November 1933 in Shantiniketan, Westbengalen)

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