Kunstmarkt: Erneuerung ausgeschlossen

Dass heute auch auf dem Kunstmarkt die Digitalisierung Einzug gehalten hat, ist kein Zeichen für eine Erneuerung des Kunstmarktes. Dass sich durch die Digitalisierung auch keine Skaleneffekte, mithin Preiseffekte ergeben haben, bestätigt dessen Stabilität, deren geschlossene, Einflüsse von außen abwehrende, restriktive Struktur feudale Züge zeigtigt.

Wenn heute der Kunstmarkt mit einer Versammlung großen Reichtums assoziiert wird, dann ist die gedankliche Verbindung weder zufällig noch in der Sache unrichtig. Historisch betrachtet gehörten die Auftraggeber, die ausschließlich direkt mit den Künstlern Auftrag, Ausführung und Bezahlung verhandelten, zu einer feudalen Klasse der Gesellschaft, die ganz überwiegend durch Aristrokatie und Kirche gestellt wurde. Entscheidungs- und Beeinflussungsebenen waren wenigen vorbehalten und die distributive Gerechtigkeit1 auf wenige Ebenen der Kunstmarktpyramide vertikal verteilt.

Distributive Gerechtigkeit, nach Aristoteles, ist eine Art der Beteiligung, die proportional zur „Leistung und Würde“ der Person als maßgebliche Regel definiert ist. Als diese sog. Regelgerechtigkeit, auf deren Grundlage alle Beteiligten nach Leistung und Würde am Ergebnis, hier des Kunstmarktes, beteiligt sind, impliziert sie eine formale Form des Gemeinwohls, die aber bereits von Thomas von Aquin der „Gesetzesgerechtigkeit“2 untergeordnet ist.

Wir haben diese Form der Gesetzesgerechtigkeit auf dem Kunstmarkt als vormodern beschrieben, deren feudale Strukturiertheit keine allgemeine Gerechtigkeit, mithin kein Gemeinwohl adressiert, sondern als eine rekursive Form der „Selbstgerechtigkeit“ bzw. als eine Art freiwilliger Selbstkontrolle bezeichnet werden kann. Insofern also benutzen wir den aristotelischen Ausdruck: distributive Grechtigkeit zur Abgrenzung einer, über die feudalen Strukturen hinausgehenden Verteilungsorientierung wie dies etwa die Allmende ist.

In gewissem Sinne könnte man den Kunstmarkt als ein modernes, staatliches Lehen betrachten, das einer Privatisierung der Kulturarbeit, ehemals Allmende, gleich kommt und worin einige wenige privatwirtschaftliche Institutionen – und Privatpersonen – über alle Marktbereiche bestimmen, auch über die Verteilungsmechanismen und Wertrelationen von Kunst.
Was der Staat davon hat? Er lagert wie im historischen Feudalismus bestimmte Bereiche, vor allem kostenintensive und Wahl-unrelevante an untergeordnete Ebenen aus – eine Art Outsourcing; hier die Kosten für die Aufbewahrung, Pflege und Restaurierung von Kunstwerken sowie die Gesamtreproduktion des Kunstmarktes, der nun in der Folge aber lediglich einen geringen, doch viel beachteten Teil gesellschaftlicher Kulturarbeit darstellt.

Die Erneuerung des Kunstmarktes geschieht also nach einem Kunstmarkt-eigenem Kalkül, nicht aus einem kulturellen Prozess einer Gesellschaft. Das Kalkül, oder das feodum beneficium ist monetär- und gewinnorientiert, also eine staatliche Wohltat zum Eigennutz auf beiden Seiten, des Staates wie der Kunstmarktprotagonisten. Das kennzeichnet auch schon feudale Strukturen seit dem europäischen Mittelalter. Die Reziprozität zwischen Staat und Kunstmarkt ähnelt der zwischen Kaiser und Lehnsmacht.

Mit den heutigen Formen der Selbstvermarktung, die zunehmend aber noch nicht umfangreich genug überall auftauchen, ist die feudale Struktur des Kunstmarkte bei weitem noch nicht aufgebrochen, gar überwunden. Die bildende Kunst war in ihrer Geschichte stets eine besondere Art von Soziotop, das sich heute in ein sehr kleines, marktaffines und ein großes, noch-nicht marktaffines aufgespalten hat. Jenes kennt, wie bereits gesagt, Strukturen von selbständiger Unternehmertätigkeit, nicht selten verglichen mit den „Schulen“ alter Meister, kulminiert mit dem Namen Lucas Cranach der Ältere. Heute kommen zu den „Malschulen“ mit einer ganzen Reihe von Hilfskräften noch Steuerberater, Finanzanlage-Experten, Anwälte etc. hinzu, die alle ‚lästigen Details‘ des Kunstmarktes und des Alltags vom Künstler-Star fernhalten. Und nicht selten wird diese Abkehr vom beruflichen wie gesellschaftlichen Alltag als Resistenz gegenüber einer Wirklichkeit verklärt, deren Existenz rigoros abgelehnt wird, bis auf die Geldströme, die aus der ‚kapitalistischen‘ Ordnung ins monopolistische privatissimo herüberfließen.

Die romantische Verklärung, allein aus einem Grund auf der Welt zu sein, nämlich um Kunst zu machen, transportiert eine Weltsicht, die Veränderung oder Erneuerung als noli me tangere anstrebt, und so diese in dieser berührungsfreien Kontaktart nicht erwirkt wird, der Welt Ideologie unterstellt und sich selbst die keusche Reinheit, sich nicht intrumentalisieren zu lassen, bewahrt. Eine konkrete Negativität zum Kunstmarkt, Grundlage für dessen Veränderung, findet so nicht statt.

Wenn Formen der Selbstvermarktung außerhalb von Galerien heute zunehmen, dann steht neben dem Habitus von Selbstbestimmtheit, der pars pro toto gleich für das gesamte Leben des Künstlers in Anspruch genommen wird, auch meistens diese Form einer ödipalen Selbstzensur an der Seite, die ein eigenes, auf einige wenige beschränktes, persönliches Soziotop herausbildet und starr reproduziert. Darin ist gewissermaßen der Künstler das aristrokratische Stil-Oberhaupt oder es wird eben angestrebt, ein solches zu werden.
Während die einen, die happy few, darunter kolossal leiden, auf Vernissagen und Finnissagen die Belle Etages des Kapitals aufsuchen zu müssen, hocken die anderen ein Leben lang hinter den Bahnhofsgleisen in schummrigen dark rooms eines selbst erfundenen Widerstandes gegen das Kapital und freuen sich doch verrückt, wenn eine Ausstellung in einem Epizentrum des Kunstmarktes angeboten wird.

Erfolglosigkeit und selbstverschuldete Irrelevanz werden in fadenscheinig stolzer Selbstinszenierung als Unkorrumpierbarkeit der Kunst verklärt. Selbstverschuldet, weil bildende Kunst ihre großen Werke historisch betrachtet nie ohne ein Einverständnis mit Kaiser, Papst und Aristrokratie hat verwirklichen können. Das datiert zurück bis in die Anfänge der zivilisierten Kultur.
Sah man einst die Fresken in den Tempeln der Minoer oder in der Sixtinischen Kapelle, so schmücken Richter heute das Kanzleramt und die Living Rooms von Hollywood Stars. Der Skandal heute ist, dass man die Tempel der Minoer und die Sixtinische Kapelle noch besuchen kann, die Livinng Room der US-Film- und Schlagerstars natürlich nicht mehr. Ist die Tragödie der Allmende der Kulturarbeit schon bitter genug in ihrer reduzierten Form musealer Öffentlichkeit, ist sie in den psychotischen Tresoren und ödipalen Schlafzimmern der Reichen, gleich welcher Coloeur, am grauen Ende der Kulturlosigkeit angekommen.

Von da her ist nicht nur die Verweigerung der Instrumentalisierung, sondern auch die Abkehr vom Diskurs zu verstehen, die Kunst heute vehement vorbringt, dass einem größere Sorgen aufkommen. Sprache selbst wird von Seiten der bildenden Kunst und – kaum überraschend – deren berufsmäßig semi-nachdenklichen Protagonisten grundsätzlich und Reflexion über Kunst speziell desavouiert. Sprache verstünde nichts von den Prozessen der bildenden Künste, deren Kreativität und Genialität, und eine kritische Reflexion über Kunst scheint mittlerweile schlimmer als mittelalterliches Teufelszeug. Wir kommen später auf den Zusammenhang von Diskursverweigerung und der Reproduktion vormoderner Strukturen zurück.

Aber hier interessierte uns die Frage nach der Reproduktion von Märkten, speziell des Kunstmarktes, und was die strukturelle Widerstandsfähigkeit sogar feudaler Strukturen im 21. Jahrhundert betreibt. Dazu gehört sicherlich auch immer das Selbstverständnis der Protagonisten, welches aus einem tatsächlichen wie auch eines gewünschten, materiellen wie geistigen Grundstocks an Übereinkünften erwächst, der sich weder mit den wirklichen Bedingungen solcherart Übereinkünfte beschäftigt, noch in Zukunft vorhat, dies zu tun.

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distributive GerechtigkeitRegelgerechtigkeit„Gesetzesgerechtigkeit“Outsourcing


1 Siehe Aristoteles (1991). Pol. III 9, 1280a7–22
2 Vgl. insg. Summa theologica, II-II, 57-79; Michael Schramm: Art. Gerechtigkeit, in: LThK 3, Bd. 4, 498-500


Aristoteles: Politik. Band 9 der Werke in deutscher Übersetzung, begründet von Ernst Grumach, herausgegeben von Hellmut Flashar, übersetzt und erläutert von Eckart Schütrumpf, Akademie Verlag, Berlin ab 1991. Buch I (Band 9.1, 1991), Buch II–III (Bd 9.2, 1991), Buch IV–VI (Band 9.3, 1996), Buch VII–VIII (Band 9.4, 2005).

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