Das Kyrie eleison des modernen Managers ist das der modernen Ökonomie: Erfolg ist eine Eigenschaft besonderer Menschen. Also keine Tugend, sondern ein Bündel von Eigenschaften, die unter die Begriffe Motivation und Kompetenz sich versammeln. Aus einem tugendhaften Menschen, einem Mann ohne einzig auf ihn bezogene Eigenschaften, wurde also der Mann mit Eigenschaften, mit Kompetenzen und dem intrinsischen Willen (Motivation) zum Erfolg.
Motivation und Kompetenz bilden das signifikante Zentrum, an dem sich wirtschaftlicher Erfolg messen kann. Hybris (altgriechisch ὕβρις hýbris ‚Übermut‘, ‚Anmaßung‘) bezeichnet eine extreme Form der Selbstüberschätzung oder auch des Hochmuts. Man verbindet mit Hybris häufig den Realitätsverlust einer Person und die Überschätzung der eigenen Fähigkeiten, Leistungen und Kompetenzen, vor allem von Personen in leitenden Funktionen im Wirtschaftsleben und in politischen Machtpositionen.
Wir haben gezeigt, dass die Signifikanz, also das, was eine „Eigenschaft“ bezeichnet, nicht unbedingt etwas mit der „Sache“ zu tun haben muss; im Gegenteil. Selbst der große Tugendtheoretiker des antiken Griechenlands, Aristoteles, konnte nicht immer und eindeutig gerade die ethischen Tugenden zuordnen, da sie als „Tugenden der Gewöhnung“ stets zwischen dem „vernunftbegabten“ und dem „vernunftlosen“ Seelenteil zu wandern scheinen1. Da aber die Tugenden spätestens seit Aristoteles in einer Art gegensätzlicher Eigenschaften im Sinne von angelegten bzw. durch Gewöhnung passiv erworbenen Möglichkeiten menschlichen Verhaltens, wir würden heute von Charaktereigenschaften sprechen, gedacht werden, ist deren komplexer Sachverhalt allein nur noch post festum signifikant.
Schauen wir auf die klassischen Grundtugenden, die seit dem Mittelalter auch Kardinaltugenden genannt werden, dann finden wir im Verhalten der modernen Wirtschaftführer keine mehr. Klugheit bzw. Weisheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mäßigung stehen fast schon diametral einer erfolgreichen Praxis in ökonomisch-politischen Zusammenhängen entgegen. Fleiß (industria) bzw. die Untugend der Faulheit (acedia), einst den „Himmlischen Tugenden“2 zugehörig, spielen heute im Bereich Arbeit eine wertschöpfende Rolle, keine auf der Seite des Kapitals bzw. der Kapitalvertretung, also im leitenden Management.
Auch die bürgerlichen Tugenden bzw. Eigenschaften zählen im Wertschöpfungsprozess nicht, spielen keine Rolle mehr. Von den sozialen Tugenden bzw. Eigenschaften wie Vertrauen und Aufrichtigkeit, lange Zeit Eigenschaften, die in der Entwicklung der westlichen Industriegesellschaften und deren Finanzkonglomeraten besonders im Management eine wichtige Rolle spielten, ist kaum noch etwas vorhanden. Führungsstark, eigenverantwortlich, visionär, kostenbewusst, entschlussfreudig, dynamisch, loyal, das sind häufig die Antworten der Personalentscheider auf die Frage, welche Fähigkeiten und Eigenschaften der Wunderknabe „Manager“ mitbringen soll. Wunderknabe deshalb, weil er wie ein Unternehmer handeln soll, ohne es aber je zu werden, wenn er nicht ein eigenes Unternehmen gründet.
Als Unternehmens-Repräsentant erwartet man von ihm aber noch ein ganzes Bündel an unternehmerischen Tugenden wie etwa Disziplin. Die hat zwar für viele Menschen den negativen Beigeschmack einer unliebsamen preußischen Tugend, wird aber meist und gerade in leitenden Berufen als unverzichtbar erachtet. Mit ihr gemeint ist ein „rechtes Streben“ (orthe orexis), also konform zu den eigenen Werten zu handeln und nicht stets nur nach schnellem Ruhm oder Geschäft zu streben. Wer dies heute in börsennotierten Unternehmen versuchte, würde wohl nicht lange Vorstand sein.
Der Disziplin zur Seite steht heute und im Vordergrund eher die Loyalität. Gemeint damit ist hauptsächlich die Fähigkeit und Bereitschaft, die Werte des Unternehmens zu den eigenen zu machen; und dies auf unbedingte Weise. Diese Form eines Handlungsaltruismus ist die vielleicht wichtigste Eigenschaft, die auf jeden Fall von leitenden Berufen erwartet wird.
Betrachten wir die Eigenschaft der Ausdauer. Sie beinhaltet als eine Art der Orientierung die sog. Zehnjahresregel, nach der man zehn Jahre – heuristisch eine lange Zeit – braucht, bis man in einem bestimmten Bereich – sei es Beruf, Kunst, Sport, Hobby – herausragende Leistungen unter Beweis gestellt hat. Verglichen mit der durchnittlichen Verweildauer von Vorständen von etwa über drei Jahren mit abnehmender Tendenz, darf man die Ausdauer ruhig zu den „romatischen Tugenden“ zählen; dies aber bei einer „Bezahlung“, die weit höher ist, als die „Habenseite an Bildung und Erfahrung ausweist.
Hartnäckigkeit bzw. Durchsetzungsfähigkeit wird als Voraussetzung für den Erfolg allzu häufig unterschätzt. Selbst hoch talentierte Leute können ohne Hartnäckigkeit und Durchsetzungskraft in modernen Unternehmen keine Spitzenleistungen mehr erbringen. Hartnäckigkeit, also Durchsetzungskraft über einen längeren Zeitraum hinweg, bis an den Punkt einer Zielerfüllung steht aber heute in zunehmend mehr Berufsfeldern im krassen Gegensatz zu den sog. teamorientierten, mehr kooperativen Kompetenzen und bildet ein enormes Spannungsfeld, das einerseit produktiv auf die Arbeitsprozesse wirken kann, andererseit aber bei vielen beteiligten Personen, nicht nur im Management, zu persönlichen Belastungserkrankungen und Schwierigkeiten im Alltag fürhren kann.
Geduld wird heute nicht mehr isoliert betrachtet und als Gegensatz zur unternehmerischen Dynamik, sondern als Gegenstück zum Aktionismus verstanden. Als solche wird sie dringend gebraucht, sowohl bei der persönlichen Weiterentwicklung, der Wahl der zeitlich richtigen Entscheidungen, der Adaption von Entscheidungen an günstige Marktphasen wie ebenso wie bei der Durchsetzung von Veränderungsprozessen im Unternehmen – also im Changemanagement.
Dynamik und Entschlussfreudigkeit enthalten demnach, außerhalb von Changemanagement-Prozessen, den Aspekt des Momentums.
Die Tugenden der Frustrationstoleranz, der einst so genannten Nehmerqualitäten wie der heute geläufigeren Resilienz, versammeln alle mehr oder weniger die Fähigkeit, auch mit negativen Erfahrungen und Erlebnissen produktiv, dh. zielgerichtet umzugehen. Innerhalb der Begeisterung für die Unternehmensziele und dem leidenschaftlichen Engagement deren Umsetzung im eigenen Arbeitsfeld kommt der Fähigkeit, mit Tiefen, Niederschlägen und Krisen konstruktiv umgehen zu können natürlich eine große Rolle zu. Dazu gehört auch die Fahigkeit, mit Kritik von Eigentümergremien, von Vorgesetzten, Kunden und Mitarbeitern konstruktiv umgehen zu können sowie Kontrolle über die eigenen Gedanken zu gewinnen, vor allem nach Fehlschlägen, Notlagen oder bedrohlichen Situationen und sich eine positive, realistische Sichtweise zu erarbeiten, die es erlaubt, Entmutigungen entgegen zu arbeiten und sich auf positive Ziele fokussieren zu können.
Was einmal als Demut gerade in Zeiten der industriellen Entwicklung besonders bei Familienunternehmen imponierte, wird heute fast schon bemitleidet, ist eine fast schon vergessene Eigenschaft. Sie ersetzt heute die Eigenschaft der Kommunikationsstärke, also die Fähigkeit, andere Menschen, Märkte und Investoren von den eigenen Fähigkeiten zu begeistern, zu überzeugen.
Die Pointe dabei liegt also weniger in der Überzeugung von den Marktpotenzialen des Unternehmens, als vielmehr in der unternehmerischen Phantasie des Repräsentanten. Damit ist eine Demarkationslinie überschritten worden, die allgemein die sog, „Old“ von der New Economy3 unterscheidet. Diese Unterscheidung bedeutet nicht, dass die kommunikativen Fähigkeiten des Managements nur für jene gelten, die in der New Economy tätig sind; eben nicht. Sie werden umfassend heute auch in der Old Economy, also auch in den traditionellen Industrieunternehmen erwartet.
Kommunikationsstärke ist deshalb heute so signifikant, weil der Unternehmenserfolg in der Old wie in der New Economy ganz wesentlich von Investoren und zunehmend von aktivistischen Investoren anbhängt. Und diese Abhängigkeit wiederum gründet in den Veränderungsprozessen, genauer gesagt in den Transformationsprozessen, die sich seit etwa zwanzig Jahren um die Begriffe Digitalisierung und Globalisierung anordnen.
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Hybris – Tugenden – Grundtugenden – bürgerliche Tugenden
1 Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik. Artemis & Winkler, Düsseldorf 2001, ISBN 3-7608-1725-4 (griechisch und deutsch; Übersetzer: Olof Gigon).
2 Vgl. Prudentius Clemens: Psychomachia. Erschienen in Psychomachia. Jakob von Breda, Deventer Nicht vor 10. IV. 1497
Aurelius Prudentius Clemens, deutsch Prudenz, (* 348; † nach 405)
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