Ontologische Blendung

Die Technik, die man gemeinhin mit technischen Fortschritt in Verbindung bringt, ist allein deshalb schon mehr als sie ist. Nicht alles an Technik wird mit technischem Fortschritt assoziiert, aber wenn, dann trägt dieser technische Gegenstand schon eine Bedeutung, die weit über ihn als Gegenstand hinausweist; ein Computer ist dann eben nicht einfach mehr ein Computer, ein Auto kein Auto und ein Haus kein Haus mehr. Es scheiden sich also irgendwo die Geister bzw. ein technischer Gegenstand bleibt ein seelenloses Ding, ein anderer bekommt wahre Wirkkräfte.

Laut Duden ist ein Fetisch ein Gegenstand, dem man magische Kräfte zuschreibt. Ein Fetisch kann im psychologischen Sinne jemanden in sexuelle Erregung versetzen und im religiösen Sinn den Glauben an übernatürliche, persönliche oder unpersönliche Mächte bezeichnen, die in bestimmten Gegenständen wohnen und deren Verehrung als heilige Objekte nach sich ziehen; das sind ja schon eine ganze Menge an seltsamen Ungereimtheiten, aber lange noch nicht alle.

Marx bemühte diesen eher animistischen Begriff des Fetischismus, um einer Erscheinungsform in der kapitalistischen Warenwelt näher auf den Grund zu kommen, die man aus der Geschichte als „deus ex machina“ kennt und heute als „Magie“, als „Mystifikation“, als „pars pro toto“ oder „Kult“ als eine Art ‚Transformagie‘ auch in ökonomischen Zusammenhängen wieder auftaucht.
Mit solchen Ausdrücken aber kann man wenig anfangen, sind sie doch wenig präzise bestimmt. Sie alle aber wollen einen Blick werfen hinter eine gigantische Kulissenverschiebung, bei der die Akteure auf der Bühne zur Staffage einer göttlichen Komödie werden; der Verwandlung von Mitteln zu Zwecken, von Gegenständen zu Werten, von wissenschaftlich-technischen Problemlösungen zu ontologischen Seinsentwürfen.

Wie in der antiken Tragödie so erscheinen menschliche Handlungen heute immer zielloser im Dickicht ihrer Komplexität und ihres Konflikt- und Bedrohungspotenzials. In der antiken Tragödie erschien, dann, wenn kein Ausweg mehr sichtbar war, keine Entscheidung mehr logisch überraschend eine Gottheit, die dem undurchsichtigen Geschehen eine weise, glückliche Schlusswende gab. Der Deus ex machina schwebte in einer kranähnlichen Hebemaschine, der sogenannten Theatermaschine, über der Bühne oder landete meist auf dem Dach des Bühnenhauses, um die Macht der Götter und ihr jederzeit mögliches und schicksallenkendes Eingreifen darzustellen.

So bestimmten damals die Götter, heute Wissenschaft und Technik über das Sein des Menschen, gleichwohl Götter, Wissenschaft und Technik allesamt von Menschen geschaffen sind, die Menschen diesen also eigentlich überlegen und nicht unterlegen sind.
So lautet daher auch der Kerngedanke von Marx zum Warenfetisch: So wie Gott, der, obwohl ein Geschöpf menschlichen Denkens, seinen menschlichen Schöpfer beherrscht, erscheinen den Produzenten die von ihnen produzierten Waren wie ein Fetisch, obwohl sie nur Vergegenständlichungen ihrer Arbeit sind. Der Warenfetisch nach Marx bestehe also darin, dass den durch menschliche Arbeit geschaffenen Produkten die Eigenschaften, etwa eine Ware zu sein und einen Geldwert zu besitzen, als dingliche Eigenschaften, also als Eigenschaften der Sache selbst zugesprochen wird, während es sich in Wirklichkeit bei einer Ware und einem Geldwert um gesellschaftlich bestimmte Zuschreibungen, um Grundstöcke an Übereinkünften handelt.

Wer fragt sich schon, warum es so viele Tomatensorten gibt mit so vielen unterschiedlichen Preisen? Es gibt sie und innerhalb ihrer Produktion immanet scheint eine Tomate zu einer Ware mit Geldwertcharakter geworden zu sein, besser, als eine andere, hochwertiger, vielleicht auch bekömmlicher und gesünder.

Für Marx war der Gedanke der Verwandlung von gesellschaftlichen zu dinglichen „Eigenschaften“ ein ganz zentraler Gedanke, insofern der gesellschaftliche Charakter ihrer eigenen Arbeit den Menschen als gegenständlicher Charakter der Arbeitsprodukte selbst erscheint, vorgestellt als deren quasi Natureigenschaften1. Und wie der Ware, dem Geld und dem Kapital anhaftende Eigenschaften unterstellt werden, die ihnen eigentlich gar nicht anders, als durch gesellschaftliche Bedingungen und Übereinkünfte zukommen, so gilt dies auch für die Technik und dem technischen Fortschritt.

Wenn man also in einer Art Zusammenschau von technischem und ökonomischen Fortschritt Wachstum und Wohlstand in ihrer historischen Entwicklung betrachtet, wie dies die Ökonomik allenthalben tut, dann läuft man Gefahr, die wirklichen Unterschiede in der Entwicklung der Produktivkräfte, ob man die Technik nun zu Kapital und Arbeit hinzu nimmt, oder nicht, zu verkennen.

Nimmt man nur die beiden Autoren Marx und Schumpeter zusammen in den Blick, dann muss man festhalten, dass die marxistische Fortschrittstheorie ganz maßgeblich von dem Unterschied zwischen „Produktivkraftentwicklung“, also der Entwicklung aller mit der menschlichen Arbeit zusammenhängenden Elemente und dem „technischem Fortschritt“ ausgeht. Schumpeter, wie gezeigt, nicht.

Die ontologische Blendung, zu dem wir den Begriff der Fetischisierung ausgedehnt haben, liegt darin, dass die moderne Ökonomik die Entwicklung der Marktwirtschaft immer schon in der Zusammenschau von Technik und menschlicher Arbeit betrachtet hat und auch weiterhin so tut. Der Unterschied also zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und dem technischen Fortschrit wird also im marktwirtschaftlichen Entwicklungsprozess als diese scheinbare Einheit von menschlicher Arbeit und Technik im Begriff der Produktivität verwischt. Geblendet von der sog. Mensch-Maschine Synthese als neue Form der Fetischisierung von Arbeit, geht die Ökonomik und das Selbstverständnis moderner Gesellschaften ihrer Wege.

Der Vorgang der Blendung verläuft durch eben die Nahtstelle zwischen technischem Fortschritt und marktwirtschaftlichem Verwertungsprozess. Je nachdem wie man den technischen Fortschritt betrachtet, ist er einmal die Weiterentwicklung bestimmter Produktionsmittel zum Zweck der Steigerung der Produktivkräfte bzw. des Faktors menschliche Arbeit im Produktionsprozess. Betrachtet man denselben Fortschritt aus der Perspektive der Kapitalverwertung, wird dieses Verhältnis von „Mitteln“ und „Kräften“ wie Marx formulierte, auf den Kopf gestellt2. Nach Marx weiter, wird aus der Steigerung der Produktivkraft der Arbeit ein bloßes Mittel zur Erhöhung des relativen Mehrwerts3, also eine Steigerung seiner Produktivität und so erscheint der technische Fortschritt als Steigerung der Produktivkräfte selbst. Was ohne den Menschen nicht geht, erscheint nun also, als ob die Technik das logisch und faktisch erste und derart essentielle wäre, dass der Mensch lediglich als ein Anhängsel der Technik erscheint.

Im Sinne der Kapitalverwertung erscheint die Technik als der Faktor, der zu einem größeren Quantum an Output, also einem Quantum lebendiger Arbeitskraft pro Zeitspanne aus dem Faktor Arbeit,  verwertbar werden lässt. Technik ist aus diesem Blickwinkel ökonomisch zu einem eigenen Wertschöpfungsfaktor geworden, zu einer Produktivkraft, die aber nichts anderes ist, als die Produktionsmittel, die sich im Privateigentum und im Verwertungszusammenhang marktwirtschaftlicher Produktion sich befinden. Und deren Entwicklung durch den wissenschaftlich-technischen Fortschritt insofern mit Kraft betrieben wird, als deren Ergebnisse sich direkt in marktwirtschaftliche Verwertungszusammenhänge „diffundieren“4 lassen.

Was die Ökonomik erkennt ist, dass der Begriff: technischer Fortschritt wertend ist, weil von Fortschritt nur in Hinblick auf eine ganz bestimmte Zielsetzung gesprochen werden kann; die mit dem technischen Fortschritt einhergehenden Begleiterscheinungen (Substitutionen, Rationalisierungen und damit eventuelle Qualifikationsverluste durch die Einführung neuer Techniken, neue Belastungsverschiebungen am Arbeitsplatz, Arbeitsplatzverluste von Betroffenen) nicht einbezogen werden (Gabler).
Was sie nicht erkennt, ist, dass technischer Fortschritt eine Trennung in die Welt der menschlichen Arbeit treibt, aus der die menschliche Arbeit einmal im ökonomischen Sinne als Subfaktor von Technik hervorgeht. Zum anderen, gleichsam als deren gesellschaftlich-kultureller Weiterentwicklung, erhält die technische Entwicklung eine eigene, eine ontologische Dimension.
Technik wird synonym mit Fortschritt und Wachstum als ein moderner Seinsentwurf und im Zusammenhang mit moderner Wissenschaft, hauptsächlich den Naturwissenschaften, als eine moderne Form des Verstehens, die den praktischen Bezug des Menschen zur Natur aber auch zu sich und den Mitmenschen maßgeblich mitbestimmt.

Heidegger sah eine technische Weltauffassung sich immer weiter und tiefgehender in der Welt einrichten. Er sah, oder vielleicht übernahm er auch von Marx den Prozess der Verwandlung von Zusammenhängen im Denken durch Technik:
„Das Wasserkraftwerk ist nicht in den Rheinstrom gebaut, wie die alte Holzbrücke, die seit Jahrhunderten Ufer mit Ufer verbindet. Vielmehr ist der Strom in das Kraftwerk verbaut. Er ist, was er jetzt als Strom ist, nämlich Wasserdrucklieferant, aus dem Wesen des Kraftwerks.“(Heidegger 1953)

Leider übernahm Heidegger von Marx nicht die Reflexion auf diesen Wandel aus den ökonomischen Verhältnissen, sondern beließ es bei einer Wesensschau aus der Philosophie, hier aus der Metaphysik. Deshalb blieb auch Heidegger ontologisch geblendet, zwar nicht durch die Technik selbst, sondern durch deren Abstraktion von deren politischen und ökonomischen Bedingungen.

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[title]Begriffe – Anmerkungen – Titel – Autoren[/title]

Fetisch‚Transformagie‘VergegenständlichungWarenfetischKapitalverwertungSteigerung der Produktivkraft


1 Das hinter dem Geldwert verborgene gesellschaftliche Verhältnis erscheine „unter dinglicher Hülle versteckt“. Marx vergleicht den Vorgang der Fetischisierung mit der Religion:
„Um daher eine Analogie zu finden, müssen wir in die Nebelregion der religiösen Welt flüchten. Hier scheinen die Produkte des menschlichen Kopfes mit eignem Leben begabte, untereinander und mit den Menschen in Verhältnis stehende selbständige Gestalten. So in der Warenwelt die Produkte der menschlichen Hand. Dies nenne ich den Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren produziert werden, und der daher von der Warenproduktion unzertrennlich ist.“ Marx: Das Kapital, Erster Band, Zweite Auflage, MEW 23,86.
Geldfetisch und Kapitalfetisch stellen im Werk von Karl Marx logische Weiterentwicklungen des Warenfetischs dar.

„Eine Ware scheint nicht erst Geld zu werden, weil die anderen Waren allseitig ihre Werte in ihr darstellen, sondern sie scheinen umgekehrt allgemein ihre Werte in ihr darzustellen, weil sie Geld ist.“
Im Geld fänden die übrigen Waren „ihre eigne Wertgestalt fertig vor als einen außer und neben ihnen existierenden Warenkörper.“ Marx, Das Kapital Bd. 1, MEW 23: 107
2 Vgl. Marx, Grundrisse, 584-590; MEW 23, 446; MEGA II, 3.6, 2058 f.
3 Der relative Mehrwert bezeichnet bei Marx die Erhöhung seiner Produktion durch die Verkürzung der notwendigen Arbeitszeit.
Der absolute Mehrwert – die Erhöhung der Mehrwertproduktion durch die Verlängerung des Arbeitstages.

4 Nach Gabler stellt die Phase der Diffusion die Phase 3 des Technischen Fortschritts dar.
(1) Phase der Invention (Erfindung): Erarbeitung naturwissenschaftlich-technischen Wissens, von Forschungs- und Entwicklungsergebnissen und Erfindungen.
(2) Phase der Innovation: Die erstmalige kommerzielle Anwendung führt zur Erweiterung des technischen Könnens und zur Entstehung von Produkt-, Material- und/oder Verfahrensinnovationen; Hauptaktivitäten sind u.a. Konstruieren, Experimentieren mit Prototypen, montagegerechte Anwendung und Verwertung in der Produktion und erste Marketingbestrebungen.
(3) Phase der Diffusion: Die Innovationen werden mittels Marketingaktivitäten und Technologietransfer in Form von Materialien, Produkten, Verfahren (Investitionsgütern), Patenten und Lizenzen wirtschaftlich verwertet; ihre Anwendung breitet sich dadurch aus (diffundiert).


Martin Heidegger: Die Frage nach der Technik. GA 7, S. 16, 1953.

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