Wertpapierbörsen sind strukturell, organisatorisch und inhaltlich völlig andere Märkte als reine Tauschmärkte im Sinne der Neoklassik und vor allem Walras‘. Aber selbst den Begriff Tauschmarkt wird so wenig inhaltlich gefüllt, dass man zu einer gemeinsamen Vorstellung kommen könnte, was denn so ein Tauschmarkt sein könnte. Zurum, es gibt sie nicht. Und wahrscheinlich wird es sie auch in absehbarer Zukunft so geben. Aber alle sprechen von Tauschmärkten, so, als wäre die Welt voll davon; mitnichten.
Im Gleichgewichtsmodell von Walras steck die ein wenig skurile These, dass weder Kauf noch Verkauf zustande kommen, bevor nicht der markträumende Preis gefunden, ausverhandelt ist. Sein Modell basiert also auf eine dualen Situation, in der lediglich der Preis von Interesse, sowohl für den Käufer wie für den Verkäufer, ist. Bei Wertpapieren finden wir diese Situation eher, was die Gesamtmenge1 etwa von Aktien betrifft, die ja bekanntlich festliegt; zumindest über einen für alle transparenten Zeitraum. Aber weder finden wir dort heute einen „Auktionator“ noch werden die Kurse zwischen Angebot und Nachfrage verhandelt. Das meinen sogar heute noch viele, von denen aber niemand anscheinend je etwas mit Börsen zu tun hatte.
So werden heute die Kurse aus einer Vielzahl von Einflussfaktoren gebildet, die aber auf unterschiedlichen Analysematrixen zu entscheidungsfähigen Aussagen versammelt werden. Verfahren aus den Sozialwissenschaften standen hier Pate, die die Grundlage bildeten für stochastische Verfahren, also mathematische Statistik und Wahrscheinlichkeitsberechnungen. Solche Entscheidungsverfahren suchen kein Gleichgewicht, sondern Ähnlichkeitsmuster in der Vergangenheit, die im Rahmen von Projektionen in die Zukunft – beim Day Trading fast auf die Gegenwart, also die aktuellen Kursabschnitte in Minuten – Kurswahrscheinlichkeiten antizipieren.
Unter der Voraussetzung also, dass die Mengen konstant sind und der (Tausch)Markt geräumt werden soll, muss natürlich der Preis so festgelegt werden, dass alles „was da ist“ auch verkauft wird. Und dass das, was verkauft wird, auch den Präferenzen der Käufer weitgehend entspricht. Die Schwierigkeit im Ansatz ist, dass weder das lineare Gleichungssystem funktionierte, wenn sich sowohl der Preis wie auch die Menge dynamisch ändern kann wie wenn auch die Präferenzen sich ändern, die dann per defitionem außerhalb der Betrachtungssituation lägen und so nicht zu den Prämissen gezählt werden könnten.
Hinzu kommt, dass die Neoklassik auch die Funktion von Geld nicht adäquat bestimmen kann. Hier tauschen Individuen zwar Waren mittels Geld, aber theoretisch könnte man in der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie auch Geld weglassen, da es keine andere Funktion hat, als eine Ware selbst zu sein, dieser also gegenüber völlig indifferent ist. Im Ergebnis könnte also der Tausch von zwei Waren, etwa fünf Kartoffeln für ein Ei, auch ohne Geld funktionieren. Ein Ei entspräche dann dem Wert von fünf Kartoffeln und wir hätten einen Warentausch oder Naturaltausch in Reinform.
Bei einem reinen Naturaltausch hätte es noch zusätzlich den Vorteil, dass, da ja das Geld nicht ausgehen kann, weil es indifferent zur Ware ist, am Ende des Markttages, man auch keine Ware vernichten oder wieder mit nach Hause schleppen müsste. Sind noch zwei Säcke Kartoffeln da und nur noch zwei Eier, dann wird eben in diesen Wertverhältnis der Markt geräumt. Besser zwei Eier, als nichts oder nur Müll.
Bei nicht-verderblichen Waren wären eigentlich schon von Beginn des Industriezeitalters an leicht genau gegenläufige Marktprozesse zu beobachten gewesen. Sinken etwa die Fixkosten in der Produktion schneller als die variablen Kosten2, steigen oder sinken auch die variablen Anteile an den Stückkosten z.B. durch höhere Effizienz, dann sinkt in der Regel sogar bei steigender Nachfrage der Preis für die einzelne Ware. So sind fast alle Artikel aus der Unterhaltungselektronik, besonders Handies und Smartphones, preiswerter trotz größerer Nachfrage geworden.
Die ganz prinzipielle Schwierigkeit der Gleichgeichtstheorie liegt schon darin, dass nicht einmal bei den Kosten ein dynamischer Faktor eingesetzt wurde bzw. eingesetzt werden kann. Selbst die Unterscheidung zwischen fixen undvariablen Kosten ist langfristig betrachtet sogar obsolet. Langfristig sind alle Kosten nur noch Kosten. Oder anders gesagt: in den letzten drei Jahrzehnten konnte man beobachten, dass Unternehmen, die mehr Wert auf Bilanzpositionen legten und aus dem Blickwinkel von – durchaus guten – Bilanzbuchhaltern, Controllern oder CFOs wie man heute sagt, geführt wurden, trotz ihrer Kostensicht auf Unternehmen und Markt selbst unter Benchmarkings vom Markt verschwanden oder Teile ihrer Unternehmen verkaufen mussten, weil sie im Wettbewerb nicht mehr stand hielten. Der Satz: dieses Unternehmen produziert zu teuer aber war in einer ganz anderen Art also die ausgedrückte zu verstehen. Nicht zu teuer wurde produziert, sondern die gesamte (oder in Teilen) Produktion war veraltet, ineffektiv, nicht wettbewerbsfähig.
Daran änderten auch keine noch so ambitionierten Kosteneinsparungsprogramme etwas, kein Wechsel in den Vorständen, ohne Neuausrichtung des Unternehmens und seiner Strukturen. Heute muss man fast feststellen, dass es in Deutschland kaum ein Unternehmen, kaum eine Branche in den letzten drei Jahrzehnten geschafft hat, sich den Bedingungen der Digitalisierung zu stellen – wir kommen darauf zurück.
Die Handies von Nokia waren einmal Marktführer. Dann verschwanden sie vom Markt, weil Nokia den Prozess der Digitalisierung nicht mitvollzogen hat. Ebenso ging es den Handies von Mannesmann; ja, die hatten auch mal welche. Und diese Form der Digitalisierung, die technologische Verbindung von PC und digitaler Telefonie war eben jene Präferenz, die die Nachfrage bewegt hat und weniger der günstige Preis für technologisch veraltete Handies. Sie durchbrach gewissermaßen das vorherrschende, also kardinale Nutzenverständnis und setzte ein neues, gleichsam ordinales Momentum in den vorherrschenden Konsens der Kosnumenten. Eine zeitlang existierte ein kardinales Nutzenverständnis neben einem ordinalen, Gewohntheit neben Neuheit. Dass aus den besseren Smartphones allgemeine Präferenzen wurden, hatte mit den Preisen wenig, mit dem Technologie-Image von Apple sicher mehr zu tun. Technologieführerschaft ging synchron mit Marktführerschaft, dem der Preis folgte, gleichwohl man nicht von einer Monopolstruktur auf dem Sektor des sog. Web 2.0 sprechen konnte.
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[title]Begriffe – Anmerkungen – Titel – Autoren[/title]
1 „Sind zwei Waren gegeben, dann ist die einzige nötige und ausreichende Bedingung für ein Marktgleichgewicht oder gleichbleibende Preise bezüglich dieser Güter, dass die angebotene Menge der beiden Güter der nachgefragten Menge dieser Güter entspricht. Existiert diese Entsprechung nicht, muss, damit das Gleichgewicht erreicht wird, der Preis der Ware, deren Nachfrage höher ist als die angebotenen Menge steigen und der Preis der Ware, bei der das Angebot die effektiv nachgefragte Menge übersteigt, sinken.“
aus: Léon Walras, Elements d‘ economie politique pure ou theorie de la richesse, 12° LEÇON, Courbes d’offre effective.
2 Variable Kosten sind beispielsweise Kosten für Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffe, die in ein Produkt eingehen, aber auch Fertigungslöhne oder Frachtkosten.
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