Produktivkraft – Theoretische Ansätze

Wer sich heute theoretisch mit dem Begriff der Produktivkraft beschäftigt, wird bald gewahr werden, dass in dem heillosen Durcheinander unterschiedlichster theoretischer Ansätze kein Durchkommen mehr möglich ist1. War in der marxistischen Theorie die Arbeitskraft letztlich alleiniger Produktionsfaktor, so kamen in der Klassik Boden und Kapital dazu, deren Einkommensarten Bodenrente und Profit sich nun zum Lohn für den Faktor Arbeit addierten.
Bereits in der Mitte des 18. Jhd. wusste der Franzose Say2, dass Kapital allein nichts bewirkt und fügte als weiteren Produktivfaktor die unternehmerische Tätigkeit hinzu.

Dann wurde Kapital zu einem derivaten Produktionsfaktor nach den originären Arbeit und Boden, und in der modernen Ökonomik vollzog sich ein Paradigemnwechsel bei der Bestimmung der Produktivkräfte fast unbemerkt. In der ursprünglichen Bestimmung galt es, eine Zuordnung zu definieren, nämlich die zwischen einer Tätigkeit und einem Ertrag. Der Begriff der unproduktiven Arbeit war erfunden. Es folgten Brachland und unproduktives Kapital.
Die Zuordnungsnotwendigkeit zwischen Tätigkeit und Ertrag ergab sich daraus, dass Wirtschaft keine starre Entität, sondern ein höchst dynamisches Betätigungsfeld darstellt, auf dem es Stillstand, Fortschritt und Rückschritt gibt und man, um den Fortschritt bzw. das wirtschaftliche Wachstum kategorial differenzieren zu können, eine richtungsbezogene Größe deren Meßbarkeit finden musste. Ordnet man einer Tätigkeit einen Ertrag zu, dann denkt man dahinter notwendigerweise die Tätigkeit als eine personelle Tätigkeit.

Auf dieser Grundlage war noch der Boden, insofern er aus sich selbst heraus etwas herstellt, etwas wachsen lässt, auch ohne den Faktor menschliche Arbeit theoretisch zu integrieren, das Kapital machte es dem Wissenschaftler dann schon schwerer, lag es doch ohne menschliches Zutun nur unproduktiv rum. Dem Kapital auf dieser theoretischen Grundlage einen derivaten Status zuzuschreiben, war also naheliegend.

Produktivkraft war also demnach alles, was aus sich selbst heraus die Kraft oder Energie hatte, etwas zu verändern bzw. zu nutzen oder nutzbar zu machen, also ein endogener Faktor. Warum in der Klassik dann die Energie selbst nicht zu den Produktivkräften gezählt wurde, bleibt unverständlich. Neben diesem naturalwirtschaftlichen existierte ein sozialwirtschaftlicher Ansatz, in dem allein Arbeit als Produktivkraft gilt, ist hier die Arbeit ja vom Arbeiter nicht zu trennen.
Im Übergang zu den modernen Ansätzen stellt Preiser3 fest, dass diese Bindung eines Ertrags an eine produktive, personelle Kraft theoretisch nicht aufgeht. Denn dann müsste konsequenterweise der naturalwirtschaftliche Ertragsanteil von Kapital und von Boden eben den Kapital- und den Bodenbesitzern zugeordnet werden. Diese Zuordnung zwischen Kapital und Kapitalbesitzer aber ist von einer ganz anderen Ordnung als die zwischen Arbeiter und Arbeit.

Der Zusammenhang von Ertrag und Besitz ist nicht identisch mit dem zwischen einer Arbeit, die ein Mensch erbringt und dem Menschen, der sie erbringt. Preiser löste das Problem zwischen Identität und Differenz im sozialwirtschaftlichen Kontext einfach dadurch, dass er zu Marx zurückkehrte und nur noch einen Produktionsfaktor, die Arbeit, also einen sozialwirtschaftlichen Produktionsfaktor zuließ. Kapital und Boden wurden Produktionsmittel.

Ein Ochse ist also ein Produktionsmittel, solange ein Bauer ihm mit der Peitsche den Weg durch den Acker weist. Ohne die ist er ein Ochse, der über die Wiesen springt, etwas Gras und Wasser beizeiten zu sich nimmt, kleine Ochsen zeugt und genüsslich rumliegt, wenn seine natürlichen Bedürfnisse befriedigt sind. Würde er dazu nach gelegentlich fischen gehen, hätten wir das Bild eines aus seiner Verdinglichung und Entfremdung durch kapitalistische Produktionsverhältnisse befreiten Menschen; hier als Ochse vorgestellt.

Aus Sicht eines naturalwirtschaftlichen Ansatz aber ist der Ochse, egal was er macht, durchaus als Produktivkraft anzusehen, als eben ein Teil der Kräfte der Natur, die aus sich selbst heraus ein Wachstum zustande bringen. Welcher Art dieses Wachstum ist, stellen wir einmal kurz zurück, sehen aber, dass innerhalb der modernen Theorieansätze der Boden durch den Begriff der Ökologie substituiert wird. Und überhaupt wurde der Ansatz ‚Substitutive Produktionsfaktoren‘ immer wichtiger und hat sich wie ein frei flottierendes Spekulationskapital ungebremst in alle Bereiche der ökonomischen Produktionsmodelle verbreitet.

Man dachte dabei nicht mehr an die eigentliche Fragestellung, wie man Produktivität bestimmen kann, sondern ob und mit welchen Auswirkungen man alles, was als produktiv bestimmt ist, substituieren kann. Die Produktivkraft wurde zu einem Substitutionsfaktor, dessen berechenbare Größe die Isoquante ergab. In der Unternehmenstheorie beschreibt die Isoquante alle möglichen Inputkombinationen, mit denen der gleiche Output erzielt werden kann, also wie viele Ochsen und Humankapital – hier noch physische Arbeitskraft – einem Traktor gleichkommen.

Wir haben andernorts bereits gesehen, dass die Krux aller dieser Isoquanten die Annahme einer festen, gleich bleiben Produktmenge ist; in unserem Ochsenbeispiel etwa die Menge an Getreide. Angenommen auch das Wetter bliebe gleich, so liegt die Grenzrate der Substitution nicht darin, dass derselbe Bauer, der den Ochsen schnurgerade und in der dem Ochsen rechten Geschwindigkeit durch den Acker peitscht, nicht auch den Tracker entsprechend bedienen kann.
Der Wechsel vom physischen zum geistigen Anteil im Humankapital birgt die Gefahr (Grenze), dass, wenn der Ochsenbauer seine Traktorkompetenz erworben hat, er im Falle seiner vollkommenen Substituierbarkeit vielleicht noch als Traktoreningenieur der Landwirtschaft erhalten bleibt, aber der Traktor genauso dumm auf dem Acker rumsteht wie der Ochse ohne Peitsche. Und wir wieder vor derselben Frage, was ist die Produktivkraft?4

Die moderne Theorie hat die Ursache für die Schwierigkeit der Bestimmung der Produktivkraft implizite erfasst, nur leider nicht als konstitutiv für ihre theoretischen Ansätze begriffen. Der Schwierigkeitsgrad hinsichtlich der Substituierbarkeit und in der Folge auch deren berechenbarer Grenzwertigkeit liegt an der Art der Komplementarität der Produktionsfaktoren, die sich in der Substitutionselastizität der Isoqanten repräsentiert.

Das heisst, einfach gesagt: das, was in der Klassik noch aus dem Ansatz einer Indifferenz heraus als Produtivität bestimmt wurde, waren gleich geordnete und -gewichtete – im Begriff des Ertrags – Faktoren: Boden, Arbeit, Kapital. Jeder dieser Faktoren wurde unter der Sichtweise von Wachstum als Technischer Fortschritt vorgestellt und als Indifferenz von Mensch und Maschine oder, sozialwirtschaftlich betrachtet, als Steigerung der menschlichen Arbeit durch technischen Fortschritt bestimmt.

Von dort war es natürlich logisch konsequent, die Substituierbarkeit als Berechnungsgrundlage anzunehmen, sich also zu fragen, wie viele Bauer-Ochsen-Einheiten entsprechen einer Bauer-Traktor-Einheit (bei gleicher Output-Menge), um dabei aber, eben so konsequent, sich vor der Unvereinbarkeit der Gleichsetzung wie der Trennung von Produktivkraft und Produktionsmittel wieder zu treffen.
Wir finden also auch in diesem Kontext wieder zurück zur Komplementarität, zu einem komplementären Verhältnis zwischen Produktivkraft und Produktionsmittel. Letztlich ist immer schon ein Bauer hinter einem Ochsen hergelaufen und es sprechen einige Gründe dafür, dass sich an diesem Bild auch im Verhältnis zwischen Mensch und Smartphone oder PC nichts wesentlich geändert hat.

Gehen wir von der Annahme aus, dass die Grenzrate der Substitution sich innerhalb der Komplementarität der Produktivfaktoren bildet, dann ist keinesweg, wie dies die moderne Theorie annimmt, der knappere Faktor allein, der die Produktion begrenzt, sondern natürlich der mit dem knapperen Faktor verbundene Faktor. Man kann also nicht einfach davon ausgehen, dass entweder die geringere Menge an Traktoren oder, quasi gleichbedeutend, die geringere Menge an Traktorfahrer die produzierte Menge an Getreide beeinflusst, gleichwohl beide Fälle evidenterweise dies nahelegen.

Dieser sog. limitationale Ansatz geht in diesem wie in jedem anderen Fall der Berechnung der Grenzen der Produktivkraft jeweils davon aus, dass es prinzipiell um ein reziprokes Verhältnis von Über- oder Unterkapazitäten bei Traktoren bzw. Traktorfahrern bei der Grenzberechnung der Produktivität geht; im Idealfall ist dieses Verhältnis ausgewogen, aber dann würde es gewissermaßen theoretisch Nacht und alle Katzen grau, sprich, eine Veränderung innerhalb der Produktivfaktoren fände nicht mehr statt, ohne einen exogenen Faktor, den wir uns näher anschauen sollten.

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[title]Begriffe – Anmerkungen – Titel – Autoren[/title]

‚Substitutive Produktionsfaktoren‘IsoquanteGrenzrate der SubstitutionKomplementarität der ProduktionsfaktorenSubstitutionselastizität


1 Die Grafik zeigt übersichtlich den Stand der Begriffsbestimmung zum aktuellen Stand im Jahr 2018.
Grafik Produktivkräfte

2 Jean-Baptiste Say (* 5. Januar 1767 in Lyon; † 15. November 1832 in Paris)
3 Erich Preiser (* 29. August 1900 in Gera; † 16. August 1967 in München)
4 Das Gabler Wirtschaftslexikon demonstriert die grundsätzliche Verwirrung zu diesem Thema wie folgt:
Vollkommene Substituierbarkeit ist im Fall b nicht möglich, weil hier immer alle Faktoren, wenn auch in unterschiedlicher Zusammensetzung, benötigt werden (z.B. Wicksell-Cobb-Douglas-Produktionsfunktion, in der die Faktoren multiplikativ miteinander verknüpft werden, oder ihre Verallgemeinerung in Form der CES-Funktion, die durch eine konstante Substitutionselastizität der Produktionsfaktoren gekennzeichnet ist). Es liegt somit eine gewisse Komplementarität der Faktoren vor. Im Fall c gibt es aus technischen Gründen keine Substitution der Produktionsfaktoren (Fall der strikten Komplementarität). Dies bedeutet, dass der jeweils knappere Faktor die Produktion begrenzt. Daher spricht man auch von limitationalen Produktionsfaktoren. Es liegt dann eine Leontief-Produktionsfunktion mit rechtwinklig verlaufenden Isoquanten vor (Substitutionselastizität).


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