Rechnung mit vielen Fragezeichen

Wer in der realen Marktwirtschaft interessiert sich für Gleichgewichte?
Wir haben gezeigt, dass es in einer Marktwirtschaft wie wir sie verstehen, um eine Praxis geht, die sich schnell an veränderte Rahmen- und Wettbewerbsbedingungen anzupassen versucht. Wenn Präferenzen sich ändern und dies geschieht in modernen Gesellschaften sehr schnell, werden nicht nur Produktionsprozesse angepasst. Neuen Produktionsprozessen auf der Grundlage von transnationalen Wertschöpfungsketten folgen veränderte logistische Prozesse, neue Formen der Informations- und Datenverarbeitung, veränderte Absatzkonzepte usw. wie dies exemplarisch die Modebranche im letzten Jahrzehnt deutlich hat werden lassen.
Hinzu kommen zahlreiche Schocks wie die Finanzkrise, geopolitische Gefahren und Veränderungen, von denen weder die Finanzmärkte noch die Wertschöpfung und der Handel unberührt bleiben, sowie zahlreiche und weitreichende technologische und wissenschaftliche Innovationen, an die sich die wirtschaftlich Handelnden anpassen bzw. daraus neue Geschäftsfelder bis hin zu neuen Geschäftsmodellen entwickeln müssen. Was niemanden dabei interessiert, ist ein Gleichgewicht.

Was die wirtschaftlich Handelnden viel mehr interessiert, oft auch unfreiwillig, sind die ökonomischen wie nicht-ökonomischen Kräfte, die aus den intermediären Phasen geregelter und reproduzierbarer Prozesse hinaus streben. Dort mitzugehen, mitzuhalten, mitzugestalten steht im Fokus, der mitnichten eine freiwillige, autonome Angelegenheit eines einzelnen oder aller Handelnden allein ist, sondern der sich für alle Handelnden unterschiedlich aufdrängt aus dem vielschichtigen Geschehen der komplexen Kräfteverhältnisse wirtschaftlicher und impersonaler Prozesse, zu denen sowohl politische wie auch kulturelle selbstverständlich gehören.

Wenn die Neoklassik die Hauptkonzentration darin ausmacht, wie durch Preis- und Mengenberechnungen ein Markt- und Kosten-Nutzen-Gleichgewicht erreicht werden kann, interssieren die in einer Marktwirtschaft real Handelnden jene Kräfte, die überhaupt und wesentlich zu Preisveränderungen wie zu nominellen und strukturellen Erlös- und Gewinnveränderungen führen bzw. führen können. Und dabei hilft die viel diskutierte und hoch überschätzte Ceteris-Paribus-Klausel wenig wie auch die Anwendung eines Pareto-Optimums dort, wo jede Rechnung versagt, weil unternehmerisches Risiko beginnt, kontraindiziert wäre.

Marktwirtschaft sucht keine statischen Zustände, richtet sich ungern in „vollkommenen“ Märkten ein. Immer findet sich ein Unternehmen, dessen Geschäftsmodell einen statischen Zustand in Frage stellt, die letzte, die entscheidende Schrippe ins leere Regal legt. Kein Gleichgewicht charakterisiert die marktwirtschaftlichen Prozesse, sondern deren permanente Veränderung. Dem widerspricht nicht, dass es so etwas wie Gleichgewichtspreise gibt, dass zwischen Angebot und Nachfrage vorübergehend ein ausgeglichenes Verhältnis besteht. Gemessen am Gesamtprozess der Wirtschaftsentwicklung in den letzten fünfzig Jahren sind solche Gleichgewichte ephemere Zustände, kaum zeitlich benennbare Phasen. Welche Empirie hinter allen neoklassischen Berechnungen will das widerlegen?

Gleichgewichte deuten rein volkswirtschaftlich betrachtet auf Protektion, auf Konzentration, Monopolisierung, Kartelle und Korruption. Marktwirtschaften sind polypol. Was die Neoklassik also beschreibt, sind eher Plan- als Marktwirtschaften. Nie sah man Planwirtschaften ohne Monopole, vielleicht gerade noch Oligopole. Nie hatten Planwirtschaften ein Wirtschaftssubjekt wie den homo oeconomicus innerhalb der Arbeiterklasse, fand man Polypole unter den Genossenschaften und „Volkseigenen Betrieben“ (VEB). In Marktwirtschaften findet man das alles gleichzeitig und nebeneinander.
In Planwirtschaften musste sich bislang keiner Gedanken machen, weder in der Produktion noch als Konsument, wie lange ein Zustand bleibt, sogar im Gleichgewicht bleibt. In Marktwirtschaften gehören solche Gedanken zum täglich Brot der Handelnden. Durch Gleichgewichtsanalysen gewonnene Aussagen wie etwa die, dass ein Produzent, der billiger produziert als seine aktuellen Wettbewerber, seine Waren jedoch zum gleichen Preis wie diese verkauft, höchst wahrscheinlich auch höhere Gewinne einfährt und damit eine Produzentrente kassiert, ist weiß Gott weder eine subtile noch schwer zu erratende Erkenntnis.

In Marktwirtschaften aber treibt ihn die Frage, wie lange seine Mitbewerber wohl brauchen, um ähnlich oder sogar effizienter zu produzieren und so das gerade noch stabile Angebot erweitern, die eben noch kalkulierte Produzentenrente gegen Null schrumpfen lassen und den Gleichgewichtspreis vielleicht sogar so nachhaltig in Ungleichgewicht bringen, dass mit der Verringerung der Preise seine gestern noch gelobten Produktionsverfahren und die damit verbundene Produktivität unterirdisch werden und sein Unternehmen dahin, also in den Abgrund ziehen. Von solchen Gedanken ist Planwirtschaft solange frei, bis mit dem „Geschäftsmodell“ das „Staatsmodell“ perdu ist.

Für uns ist die Produzentenrente insofern von Interesse, als sie Unterschiede in den Produktions- und in den Finanzierungsstrukturen von Unternehmen anzeigt; nicht immer, aber überwiegend. Ob aber ob die Vermutung, denn nichts anderes als eine solche ist sie, stimmt, dass unterschiedliche Produktionsstrukturen und die damit verbundenen Besitz- und Eigentumsverhältnisse, wie dies seit Marx immer wieder behauptet wurde, allein eine hinreichende Bedingung für die Existenz einer Produzentenrente überhaupt ist, diese Frage interessiert uns natürlich auch.

Wir haben bereits an verschiedenen Stellen den Konnex zwischen Preisen und Produzentenrente in Frage gestellt und auch darauf hingewiesen, dass eine Kapitalakkumulation oder eine Gewinnmaximierung allein aus staatlichen Antrieben heraus nicht gewährleistet werden kann. Weder durch geldpolitische noch durch fiskalischen Maßnahmen. Die allein sind unzureichend.
Auch mit den Modellen der Mikroökonomie kommen wir nicht viel weiter, um festzustellen, was eo ipso jeder weiß, dass ein politisch gestützter Preis, der unterhalb oder oberhalb eines Gleichgewichtspreises liegt in unserem Sinne eine künstliche Stabilität von Angebot und Nachfrage erzeugt, deren Ungleichgewicht in den staatlichen Subventionszahlungen bzw. subventionierten Marktbedingungen sich darstellen lässt.

Es gibt Staaten, die den Preis von bestimmten Waren, etwa Smartphones, festlegen. Liegt dieser oberhalb des Marktprieses, dann wird sich selbstverständlich schnell feststellen lassen, dass immer mehr Menschen ein Smartphone besitzen wollen und immer mehr Unternehmen solche produzieren. Ohne auf den „künstlichen“ Gleichgewichtspreis zu schauen, erschiene alles in bester Ordnung und ist es auch. Die Aufrechterhaltung dieser künstlich stabilen Ordnung ist nur recht teuer und bringt Staaten mitunter in Zahlungsschwierigkeiten, besonders durch die immer schwierigere Refinanzierung auf den Kapitalmärkten.

Dieses Mini-Beispiel soll nur daran erinnern, dass durch Preisänderungen durchaus Mengenänderungen, sowohl was das Angebot wie die Nachfrage angeht, erwirkt werden können. Dies bedingt bilanztechnisch auch durchaus eine Änderung im Umsatz wie auch bei anderen, umsatzbezogenen Bilanzpositionen. Eine wirkliche Wertstellung eines Unternehmens ist so aber noch längst nicht erreicht, im Gegenteil. Wie oft musste man erfahren, dass Unternehmen, die sogar Massenmärkte eine zeitlang mit Waren versorgten, lange, bevor es geschah, bilanztechnisch Pleite waren. Und oft nur durch „fremdes Kapital“ resp. „fremde Absichten“ am Leben erhalten wurden.

Alles das, hätte man auch schon aus dem Werk von Adam Smith herauslesen können, ist also keine Neuheit, zumal es ja in dem gleichnamigen Werk um die Frage nach dem Wohlfahrtsstaat geht. Von der Ökonomie her gesehen, war die „Wealth of Nations“ damals noch ein integraler Bestandteil aller Überlegungen aus volkswirtschaftlichen Ansätzen heraus, an dem sich vor allem das „Kapital“ von Marx noch entzündete. Heute ist sie zu einem „externen“ Faktor geworden.

Mit der Erfindung des vollkommenen Marktes in dem der homo oeconomicus als Wirtschaftssubjekt die entscheidende Rolle spielt, wurden alle externen, also nicht ökonomischen Faktoren und damit zugleich die Marktwirtschaft aus den neoklassischen Systemen und deren systemischen Nachfolge-Ideologien exterminiert. Unsere Gläubiger-Schuldner-Kontrakte ebenso wie ständig sich verändernde, persönliche Präferenzen der Wirtschaftssubjekte – wir sehen hier, das das Wirtschaftssubjekt im Kern eigentlich nichts anderes ist, als ein wirtschaftliches Residualsubjekt – ebenso wie die zeit- und ortsgebundenen „Bedürfnisvariationen“, die bisweilen sogar rein ökologischer Natur sein können, und schließlich die aus nahezu partieller Informiertheit – ein anderes Wort wäre auch aus reiner Neugier heraus – durchaus rational handelnden Marktteilnehmer, die in unserer heutigen digitalen Euphorie eine Vielzahl von neuen Märkten und Geschäftsmodellen, allein auf dem Feld der sog. Selbstoptimierung mit entstehen lassen.

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Planwirtschaften

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