Technik – residual?

Unter den Produktivkräften und für das Wachstum einer Volkswirtschaft in einem zugleich materiellen, hier technischen, wie montetären Sinne hat die Technische Entwicklung einen erheblichen Anteil. Wir haben diesen mit Schumpeter im Bereich zwischen 40 % und 60 % am Wirtschaftswachstum notiert, gleichwohl wir meinen, dass solche Berechnungen je nach Blickrichtung stark schwanken können. Dass aber der Anteil der Technischen Entwicklung an der Produktivität eine Volkswirtschaft erheblich ist, ist augenfällig und unstrittig.

Gleichwohl wird der Technischen Entwicklung imnerhalb der wissenschaftlichen Tradition der Ökonomik ein lediglich „residualer Faktor“ zugebilligt. Das beginnt bei Marx, der ihr eine, wenn auch nicht ganz unwichtige Rolle im Begriff des „relativen Mehrwerts“, also bei der Erhöhung seiner Produktion durch die Verkürzung der notwendigen Arbeitszeit zubilligt, um dann bei Schumpeter begrifflich als „Residuum“ oder „Restgröße“ direkt bezeichnet zu werden, gleichwohl die Technische Entwicklung eine wichtige Quelle für Produktivitätssteigerung und Wirtschaftswachstum ist und allein der Technische Fortschritt ein langfristiges Wirtschaftswachstum ermöglicht.

Bei Marx wie bei Schumpeter und allen anderen Ökonomen steht die Betrachtung der Technischen Entwicklung unter dem intellektuellen Vorbehalt einer Zweck-Mittel-Betrachtung. In dieser Betrachtung steht die Technik und ihre Entwicklung, wie wir bereits angesprochen haben, unter der Sichtweise, dass Technik als eine Form der Instrumentalisierung ökonomischer Prozesse erscheint, als komplexe Werkzeugform des praktischen Menschen in seinen ökonomischen Zusammenhängen.

Der Nutzen für den Menschen ist der Zweck, zu dem Technik als Mittel seiner Realisierung erscheint. Gesamtökonomisch betrachtet ist der Technische Fortschritt dynamisch effizient, da aufgrund der Nutzen- im Sinne der Produktivitätssteigerung weitere Anreize zu Innovationen gesetzt werden und im Zusammenspiel mit dem Lernkurveneffekt und der Humankapitalakkumulation die Technische Entwicklung stets auch eine, im postiven Sinne des Nutzens Entwicklung von Mensch und Gesellschaft impliziert. Allein der Klang dieser Begrifflichkeiten schmerzt das Ohr. Die Frage bleibt trotzdem, ist Technik überhaupt mit einer Bestimmung von Zweck und Mittel, von Nutzen und seiner Realisierung angemessen bestimmt? Und was ist dann der Nutzen im individuellen wie gesamtökonomischen Sinne?

Unsere Antwort lautet: Nein. Technik hat nicht allein einen für den Menschen bestimmten Nutzen. Technik muss bestimmt werden als eine Realisierung einer für den Menschen neuen Möglichkeit. Technik macht etwas möglich, was ohne Technik nicht möglich wäre. Wir fliegen heute um die Welt. Wir bewegen uns schneller, als es uns unsere biologischen bzw. physisologischen Voraussetzungen erlauben; bewegen mehr an Masse, sehen weiter als in den miskroskopischen Bereich, hören Frequenzen, die ohne Verstärkung unhörbar blieben. Selbst das Hintergrundrauschen des Urknalls zu repräsentieren ermöglichen technische Apparaturen.

Technik ist also weit mehr als eine Zweck-Mittel-Relation oder Nutzenfunktion. Als Zweck-Mittel-Relation kommt Technik erst in der Bedeutung eines individuellen wie eines gesamtökonomischen Nutzens ins Spiel, wenn ihre Ermöglichung, also ihre Potenzialität in die Umsetzung kommt; um mit Kant zu sprechen: in der praktischen Vernunft. Bis dahin ist die Technik resp. die Technische Entwicklung eine Frage der „Theoretischen Vernunft“, oder anders gesagt, eine ideelle Angelegenheit. Sowohl, was die Idee eines einzelnen „Erfinder“ wie die wissenschaftliche Grundlagenforschung mit staatlichen oder halbstaatlichen Mitteln, also unter staatlicher Forschungsförderung betrifft.

Technik hat also ihren ontologisch fundamentalen, ihren prinzipillen Charakter in der menschlichen Vorstellungskraft, ohne die Technik überhaupt nicht wäre. Ihr Sein ist somit vorgestellte Ermöglichung von etwas neuem, die Grenzen der menschen Physiologie und Biologie sowie der menschlichen Praxis in Hinblick auf den Umgang des Menschen mit der Natur und unter einander zu überschreiten.
Erst in ihrer gesellschaftlichen Form, also in der Nutzung von Technik im Rahmen bestehender, politischer, rechtlicher und ökonomischer Bedingungen, wird Technik zum „Gestell“1. Wir werden an geeigneter Stelle zur Technikphilosophie und zu Martin Heidegger zurückkommen; so viel aber bis hierhin sei schon gesagt, dass wir der Hypostasierung von Technik, ihr also eine eigene „Energie“, eine immanente Kraft zur Veränderung von Mensch, Natur und Gesellschaft zu zu schreiben nicht folgen werden.

Es ist richtig, wenn Heidegger etwa wie später auch Habermas der Technik insgesamt einen Einfluss auf das Denken wie den praktischen Umgang des Menschen mit Natur und untereinander zusprechen. Allein, eine der Technik inhärente „Gesetzmäßigkeit“ davon abzuleiten, der zufolge die Gefahr, dass „die Nutzung eine Vernutzung“ wird und die Technik nur noch „ihre eigene Ziellosigkeit zum Ziel hat“ (GA 7, S. 87 f.) können wir nicht zustimmen.
Natürlich ist der Mensch der, der „die Dinge stellt“ und nicht die Technik an und für sich. Es ist seine Vorstellungskraft und seine Form der Realisierung im Rahmen gesellschaftspolitischer und ökonomischer Verhältnisse; was denn sonst?

Denken, dass „Technik ist das Gestell“, die den Menschen einerseits zum Herrn der Erde sich aufschwingen lässt, anderseits durch die Verkehrung des Zweck-Mittel-Verhältnisses vom Gestell entmachtet und zum bloßen Moment des alles umspannenden technischen Prozesses werden lässt, billigt der Technik und dem Technischen Fortschritt eine „Seinsdimension“ zu, die einmal eine mysteriöse Unmittelbarkeit und zum anderen eine eben solche Gefahr einbildet, die aber ein einigermaßen wacher Geist schnell durchschaut.

Was Heidegger anspricht und auch in einem ZDF-Gespräch mit Richard Wisser von 1969 verdeutlichte (s.u.), ist der „unkritische“ Umgang mit der Technischen Entwicklung; also nichts mysteriöses, nichts eigengesetzliches, nichts unveränderbares. Biotechnologie bzw. Biophysik, die „Verwüstung der Erde“, die „Atomkraft“ und welche Beispiele man noch anführen möchte, sind, schrecklich in ihren potenziellen wie realen Auswirkungen auch immer, weit davon entfernt, einem schicksalhaften Prozess eines im Menschen verankerten „Wesens“ oder einer in der Technik selbst impliziten Gesetzmäßigkeit zu folgen.

Es ist richtig, wenn Philosophie die Technische Entwicklung wie Heidegger es grundsätzlich unternimmt, nicht aus dem Verhältniss von Zweck und Mittel denkt. Aber von Technik, im Unterschied zu einem traditionellen Werkzeug auszugehen und diesen Unterschied darin zu sehen, dass Technik für ihren Arbeitsprozess eine von menschlicher Arbeitskraft unabhängige Energiequelle nutzt und damit auch einen davon unabhängigen Bewegungsablauf hat und somit zugleich einen Herrschaftscharakter, der von der modernen Technik ausgehe, zu unterstellen (GA 7, S. 87 f.), ist nachgerade philosophischer Unfug und mindestens von Marx auf einer deutlich höheren intellektuellen Ebene bereits dargelegt. Nicht nur, dass dies bereits dann zum tragen, pardon, zum Ziehen käme, wenn ein Pferd vor einen Karren und ein Ochse vor einen Pflug gespannt wird; die Parallele zum aristotelischen Gedanken der Kraft der Veränderung aus sich selbst heraus, die er der Natur im Unterschied zum Menschen zuspricht, ist in diesem Kontext fehl am Platze.

Dazu kommt, dass die Gefahr, die vom Gestell ausgeht, dass also die Technik uns in ihren Kontext stellt, und diese Gefahr so zugenommen habe, dass der Mensch kaum noch hinter das durch Technik „verstellende Wesen des Seins“ zu blicken in der Lage ist, dass also eine Art „Metaphysik der Technik“ uns beherrscht, ist ebenso ein Holzweg des Denkens, auf dem der Existenzialismus in seiner fundamental-ontologischen Form umher wandelt. Von welcher Gefahr sprechen wir? Von der Gefahr, dass Technik, die uns ubiquitär umgibt, versagt, dass die Brücken, über die wir gehen oder fahren zusammenstürzen? Es ertrinken mehr Menschen Jahr für Jahr beim Baden im Rhein als durch einstürzende Brücken, die über den Fluss führen, gleichwohl das Gefühl der Angst darauf, also eine Brückenphobie, wahrlich kein schönes Gefühl ist.

Von der Gefahr, dass uns mit jeder neuen Form von Technik ein Wissen verloren zu gehen droht, das der Mensch einmal hatte, heute aber nicht mehr braucht, weil der praktische Kontext nicht mehr existiert, sprechen wir davon?
Nach Heidegger geht nicht nur Wissen verloren, sondern sogar ein höherwertiges Wissen, ein Seinswissen, von dem man aber wenig bestimmtes erfährt, außer, dass es auf Wahrhaftigkeit, Ursprünglichkeit und Schlichtheit gründet. Man könnte auf die Idee kommen zu meinen, dass dieses ominöse Wesen des Seins einer nationalen Kultur und Ästhetik, einem esprit herméneutique nahe kommt, in dem das ‚Ältere‘ zum Unmut des ‚Jüngeren‘ diesem stets vorzuziehen sei. Sich so mit einer Mystifizierung der Geschichte des Altertums, speziell der Geschichte der antiken, griechischen Philosophie ab Platon zu umgeben markiert wahrlich keinen wirklichen Unterschied, wird doch das verstellende Wesen der Technik lediglich durch das verstellende Wesen des Altertums ersetzt.

Wenn man mit Begriffen wie Gefahr argumentiert, dann muss man diese auch benennen, und man kann sie auch benennen, sonst trifft einen selbst das verstellende Wesen dessen, worüber man spricht und man geht selbst wie die von der Technik geblendeten Menschen auf Holzwegen:„Sie gehen in die Irre: aber sie verirren sich nicht.“
Ein schönes Bild einer psychoneurotischen Erkrankung, einer Phobie, zwar ist das eines Holzweges, der in die Irre führt, ohne sich zu verirren – wie soll ein Weg dies auch bewerkstelligen, außer in einer psychoneurotischen Wirklichkeit. Aber um psychologische Phänomene soll es ja nicht gehen, wenn von Technik im Sinne des Gestells die Rede ist. Und dass das Gefährliche der Gefahr eine umfassende Verstellung eines anderen Seinszuganges als der mittels Technik wäre, bleibt unbündig argumentiert.

Denn, wenn Technik ihren Ursprung oder Anfang nicht in sich selbst trägt, sondern im aktiven Denken3, dann wäre dieses Denken selbst schon am Grund seiner Bestimmung verstellend; eine eigenartige Synthese von sinnlicher Anschauung und normativem Denken, dessen Normativ die Entwicklung von Technik selbst wäre. Technik, darauf liefe es hinaus, müsste als eine Form des „Wirklichen innerhalb des Wirklichen“ erscheinen, deren Zusammenhänge nicht nur impersonal und konstitutiv, also wirklichkeits-bestimmend wären, sondern auch schwer zu verstehen; wenn überhaupt.

Technik wäre so betrachtet natürlich nicht residual. Technik wäre- und dies ist dann auch folgrichtig konsequent gedacht, metaphysisch, hätte also den Status einer Metaphysik, der es um die „letzten Fragen“ der Menschheit ginge. Warum ausgerechnet Philosophen, eine Philosophie der Technik, die in der „Auseinandersetzung mit dem Wesen und der Geschichte der abendländischen Metaphysik“ mehr Klarheit ins metaphysische Dunkel der Technik, tiefere „Einblicke in das, was ist“ bringen könnte, als alles bisher da gewesene, bleibt bislang noch unkonkret, ist doch der Folgeband von „Sein und Zeit“ bislang nicht öffentlich. Grundsätzlich aber steht zu bezweifeln, dass ein rückwarts in die Geschichte der Metaphysik gewandtes Denken einen hermeneutischen Horizont für die die Technischen Entwicklungen der Menschheit bzw. ein wenig tiefer gehängt, ab der modernern Form der Industrialisierung menschlicher Arbeit zu leisten in der Lage ist; mindestens das müsste Technikphilosophie leisten.

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„Gestell“


1 Zur Technik und dem Begriff: Gestell vgl. Martin Heidegger: Vorträge und Aufsätze. GA 7, S. 18. Sowie ders. in: Hölderlins Hymne »Der Ister«. GA 53, S. 54. Sowi: GA 7, S. 87 f und GA 7, S. 24. Ebenso ZDF-Gespräch vom 25. September 1969. In: GA 16, S. 706. Und Spiegel-Interview in Reden und Zeugnisse. GA 16, S. 679.
2 Martin Heidegger (1927): Sein und Zeit
3 Wir werden uns später mit dem Ausdruck: aktives Denken im Rahmen der Aristoteles Rezeption noch beschäftigen.

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