Vom Vorrang der Technischen Entwicklung

Wenn wir von der Technischen Entwicklung in einem ökonomischen Sinne sprechen, dann innerhalb eines ökonomisch begrenzten Bedeutungsbereiches, dessen paradigmatischer Anfang in der Trennung der Arbeitsprozesse von den diese ausführenden Menschen bestimmt ist. Die Trennung von menschlicher Arbeit und Arbeits- bzw. Produktionsmitteln, zu denen Technik nun einmal gehört, unterscheidet sich also von anderen Formen der Arbeit, in der die menschliche Arbeit noch verbunden war mit den technischen Arbeitsmitteln, meist bezeichnet als Werkzeug.
Das Werkzeug oder auch das Instrument oder englisch das „tool“ bezeichnet ein nicht zum menschlichen Körper gehörendes Objekt, mit dem die Funktionen des eigenen Körpers erweitert werden und so in dieser Extension ein Ziel, eine Handlungsabsicht erreicht werden kann. Mit einem geschärften Gegenstand einen Tierkörper zu zerteilenoder dies besser zu bewerkstelligen wäre damit das dem Steinwerkzeug inhärente Ziel oder die Handlungs, bzw. Herstellungsabsicht.

Das englische „Tool“ beinhaltet durchaus auch den PC als ein Werkzeug, mit dem man Rechenaufgaben besser und komplexer bewerkstelligen kann, als mit den zehn Fingern an der Hand oder mit einem Abakus, mit Rechenpfennigen oder Calculi, den Rechensteinen1. Gleichwohl zählen wir den PC nicht zu den Werkzeugen, sondern zur Technik in unserem Sinne bzw. zu unserem bestimmten Geltungsbereich. Ein PC als Tool, als Werkzeug, erfasst diese Technik als Hardware. Der PC hat dann ein Lang- und ein Kurzzeitgedächtnis, Arbeits- und Festplatten-Speicher oder Memory, ein Mikrophon, einen Lautsprecher, ggf. eine Kamera, eine Tastatur etc.
Aber ein PC besteht auch aus Software, die den PC in die Lage versetzt, etwas hervorzubringen, was Werkzeuge nicht können. Diese qualitative Dimension von Technik umfasst alles, was Neuerungen, Innovationen betrifft. Im Falle des PC wäre dies generell die von der Maschine eigenständig ausgeführte Steuerungsfunktion von beabsichtigten Prozessen wie dies etwa in einer modernen, software-gesteuerten Alarmanlage der Fall ist.

Ohne an dieser Stelle eine Technikphilosophie schon anzustreben, ist diese Unterscheidung von sog. quantitativer und qualitativer Funktionalität von Technik wichtig. Natürlich um so mehr, als der Technische Fortschritt im Rahmen ökonomischer Geltung ohne diese Unterscheidung kaum auskommt2. Technischer Fortschritt stellt natürlich sogleich die Frage, woran denn der Fortschritt sichtbar oder messbar werden könnte? Wird die Frage, ob mit dem Technischen Fortschritt auch die Schaffung von Arbeitsplätzen verbunden ist, gestellt, dann ist nicht nur eine Relation von Technik und Arbeit gesetzt, sondern in dieser auch der Vorrang der Technik vor der Arbeit behauptet, insofern jene diese maßgeblich bedingt. Das gilt natürlich auch für die gegenteilige Blickrichtung, nämlich die Verbindung von Technik und Arbeitslosigkeit, die mit Ricardo bereits Anfang des 19. Jhd. erstmals aufkam und bis heute, wo sie im Rahmen von strenger ökonomischer Betrachtung in der Diuskussion um Rationalisierung und Automatisierung und aktuell unter Digitalisierung aufkommt, nichts an Aktualität verloren hat.

War seit Ricardo der Technische Fortschritt also verbunden mit dem Primat der Technik vor der menschlichen Arbeit, so drückte sich dies aus in einer quantitativen und qualitativen Betrachtung, in der der Technische Fortschritt einmal untersucht wurde unter dem Maß der Produktionsmenge – Input-Output-Verhältnis – zum anderen unter Innovationen. Die Produktionsmengenrelation war also eine Betrachtungsweise, die entweder die gleiche Menge an produzierten Erzeugnissen mit einem geringeren Einsatz an Arbeit oder Produktionsmitteln (Inputs) betrachtet oder eine höhere Menge mit dem gleichen Einsatz an Produktionsmitteln und Arbeit (Output), wobei Arbeit stets der Technik nachgeordnet blieb.

Die Verbesserung oder Verschlechterung der Input-Output-Relation war also eine quantitative Funktion des Faktors Arbeit in Relation zur Technik. Daraus entstanden dann die sog. Freisetzungs- und die sog. Kompensationstheorie als eben diese beiden quantitativen Blickrichtungen auf den Primat der Technik vor der Arbeit. Beide Blickrichtungen zusammen genommen ergeben als dann die volkswirtschaftlich Kennzahl „Totale Faktorproduktivität“, in der der Technische Fortschritt als ein, neben Arbeit und Kapital unerklärter Rest, als ein „Residualfaktor“ der Produktivität übrig bleibt.

Ist also der Technische Fortschritt direkt verbunden mit wirtschaftlichem Wachstum – oder auch dessen Gegenteil, der Rezession – dann repräsentiert dieser Faktor neben Arbeit und Kapital eine, durch Weiterentwicklung bzw. Innovation hervorgebrachte Produktivitätssteigerung und messbare Veränderung bisheriger Input-Output-Relationen3.
Ricardo (1821) sah im Technischen Fortschritt einen Anstieg der Arbeitslosigkeit – Freisetzung-These – bei konstant bleibender Nachfrage auf den Gütermärkten. Dieser Freisetzungsthese schloss sich auch Marx an. Die schematische Sichtweise der Freisetzungsthese, nachdem bei einem Technischen Fortschritt die Produktivität steigt, gleichzeitig aber nicht unbedingt auch die Nachfrage nach den Gütern, die mithilfe dieser Technik produziert werden. Die Folge davon wäre notwendigerweise eine steigende Arbeitslosigkeit, da ja weniger Arbeit zur Erzeugung der gleichen Menge an Gütern benötigt werde.

Hierzu gäbe es eine Vielzahl an Beispielen, die diesen scheinbaren Zusammenhang als eine notwendigen und empirischen bestätigen. Die Krux an diesem impliziten Primat der Technik ist nur, dass sich leicht ebenso viele Beispiele für den gegenteiligen Effekt, den Kompensationseffekt finden lassen.
Nach der Komensationstheorie wird durch den Technischen Fortschritt auf der Basis von bestehenden, effizienten Formen der Produktion, nicht nur die Menge der produzierbaren Güter erhöht, sondern gleichzeitig, meist mit zeitlich relativ kurzen Abständen, sinkt auch der Preis für die nun effizienter produzierten Güter, da die Produktivität der Arbeit steigt. Das hat zur Folge, dass das Realeinkommen im Faktor Arbeit steigt und aufgrund des höheren Realeinkommens auch der Konsum des betrachteten Gutes und anderer Güter steigt. Mit also dem gleichen Arbeitsaufwand, ja sogar mit einer geringeren Jahresarbeitszeit im Faktor Arbeit, steigt der Gesamtkonsum und führt somit zu Einstellungen in der gleichen wie auch in anderen Branchen.

Der Technische Fortschritt ist also beschäftigungsneutral, wenn der Verlust an Arbeit in der einen zu einem Anstieg der Beschäftigung in einer anderen Branche führt. Er kann sich auch insgesamt positiv auswirken, also sowohl in der einen wie den anderen Branchen zu einem Anstieg der Beschäftigung führen. Der Anstieg des Lohnniveaus wäre dann als produktivitätsorientierte Lohnpolitik zu betrachten.
Technischer Fortschritt kostet natürlich auch Geld. Wenn von einer kostenniveauneutralen Lohnpolitik die Rede ist, dann betrachtet man die Entwicklung der Realeinkommen in Relation zu der Preisentwicklung. Auf längere Sicht kann man in entwickelten Vorlkswirtschaften feststellen, dass die Realeinkommen in Relation zu den Preisen signifikant stärker gestiegen sind und dass in der Ökonomik dieser Anstieg dem Technischen Fortschritt zugeschrieben wird.

Was also als ein „Residualfaktor“ bezeichnet wird, ist der maßgebliche, der bestimmende Faktor bei der Ermittlung von Produktivitätssteigerung und Reallohnentwicklung. Diese Ermittlung erfolgt über eine Form des logisch induktiven Schlussverfahrens in Verbindung mit einem Ausschlussverfahren – ausgeschlossen bzw. subtrahiert werden die Faktoren Arbeit (Lohnsummen) und Kapitaleinsatz bzw. -kosten – und ist also empirisch nicht verifizierbar; deshalb heißt dieser Wachstumsfaktor Residualfaktor.

Schaut man auf den aktuellen Diskurs, dann herrscht historisch gesehen einmal mehr die Freisetzung-These über die Kompensationstheorie. Aus dem Primat der Technischen Entwicklung heraus hat sich in der Öffentlichkeit sowohl in der Wissenschaft wie im allgemeinen Diskurs die Ansicht verbreitet, dass mit einer Phase technischer Erneuerung, wie sie zur Zeit unter Digitalisierung zusammengefasst wird, auch ein Verlust an Erwerbsarbeit zwangsläufig einhergeht. Automatisierung bzw. der Einsatz von Robotern wird demnach menschliche Formen der Erwerbsarbeit, überwiegend und in breitem Maße in der Industrieproduktion ersetzen. Deshalb, weil Maschinen wie Industrieroboter jene Erwerbstätigkeiten schneller, kostengünstiger und rentabler erbringen werden.
Kompensationstheoretiker suchen verzweifelt nach den Branchen, die dann die freigesetzten Erwerbsleistenden im Service, als menschliche Assitenzsysteme im Bereich Finanzdienstleistungen und Versicherungen etc. beschäftigen könnten. Wenn der Primat der Technischen Entwicklung in weiten Teilen von Dienstleistung und Produktion in absehbarer Zeit zu einer fast ausschließlich automatisierten und digitalisierten Produktion sich entwickelt – eine fast schon ökonomisch eschatologische Perspektive – dann hat der Vorrang der Technischen Entwicklung vor allen anderen Produktivkräften einen Zustand erreicht, den man als ein Gebilde bezeichnen kann, in dem die menschliche Arbeit ihren Status als eine, in der marxistischen Theorie sogar als die einzige Produktivkraft so sehr verliert, dass sie selbst zu ökonomischen Residualfaktor zu werden droht.

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Werkzeugquantitative und qualitative Funktionalität von TechnikInput-Output-VerhältnisFreisetzung-TheseKomensationstheorieResidualfaktor


1 Ein Abakus ermöglicht die Durchführung der Grundrechenarten Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division sowie das Ziehen von Quadrat- und Kubikwurzeln. Die meisten Rechenoperationen können mit den römischen Ziffern nicht einfach durchgeführt werden. Deshalb gab es den leicht abgewandelten Römischen Abakus.
2 Da es im Verlauf der Technischen Entwicklung nicht nur Phasen der quantitativen Verbesserung gibt, sprechen viele Wissenschaftler lieber vom Technischen Wandel als vom Technischen Fortschritt.
3 Nicht jede dieser Relationen kommen ins wirtschaftliche Kalkül, sondern nur jene Input-Output-Relationen, die bereits als effizient angesehen worden sind.


David Ricardo (1821). Principles Of Political Economy And Taxation (Great Minds) ISBN: 9781573921091

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