Bevor wir uns mit dem Informationszeitalter, den sog. neuen Medien, den Sozialen Medien und den Plattform-Ökonomien, der Blockchain und den Bitcoins, HTML und Web 4.0 in einem späteren Kapitel beschäftigen können, sollten wir einen Blick auf die Geschichte und die spezifischen Formen der Wissensgeneration wie dessen Verbreitung und Nutzung versuchen.
Der vielleicht deutlichste, jedenfalls zum Verständnis unserer Wissensökonomie spezifisch beitragende Einschnitt in die Wissensgeschichte datiert wohl im 16. Jhd. Dieses Datum ist auch zugleich der Anfang einer neuen Wirtschaftsgeschichte und deshalb können wir auch historisch Wissen und Wirtschaft in einem Blick vereinen.
Das 16. Jhd. ist das Jahrhundert, in dem die Entwicklung der Wirtschaft eine neue Dynamik zeigt, an deren Ende der heutige Zustand einen höchst problematischen Umgang mit unseren Lebensgrundlagen bilanziert.
Wirtschaftliches Wachstum bilanziert sich seither in einem deutlichen Abstand jeder Form von materiellem Wohlstand, Bildung, Gesundheit und Lebenserwartung.
Nicht ganz analog dazu bilanziert sich die Entwicklung der Wissens-Allmende1 seither. Hatten die Menschen lange Zeit uneingeschränkt Zugang zum Wissen als kultureller bzw. religiöser Ressource, selbst solche Menschen, die weder schreiben noch lesen konnten, so hat sich bis heute dieser Zugang in einer Weise starkt eingeschränkt. Der Zugang zum Wissen ist nicht mehr ein uneingeschränkter Zugang zu einem Gemeingut, Allmende, sondern fast ausschließlich über einen Markt vermittelt oder hat gewissermaßen einen epistemologischen numerus clausus zur Voraussetzung.
Konnten früher alle Menschen Kirchen und kirchliche Museen uneingeschränkt, also auch unabhängig vom Bildungsgrad besuchen, so müssen sie heute selbst vor einem Besuch der Sixtinischen Kapelle tief ins Portemonnaie greifen. Gleich zu welchen Zwecken, standen die Wissens-Allmende offen als Gemeingut zur Verfügung; besonders die Wissenschaften profitierten davon. Heute, wo selbst genetische Codes bereits mit Patenschriften belegt sind, wird sogar die sog. freie Wissenschaft zum Wirtschaftsfaktor.
Hatte Karl Marx noch der Wissens-Allmende geradezu konstitutiven Charakter attestiert und der wissenschaftlichen Erkenntnis und ihrer rasanten Entwicklung im Vergleich mit dem Faktor Arbeit à la longue den deutlich größeren, wertbestimmenden Faktor zugesprochen2, so droht Wissen heute den Faktor Kapital mit seiner wertadhäsiven Kraft zu beeinflussen. Zunehmend lauter werden sogar jene Stimmen, die dem Wissen den Status eines dritten Faktors in der modernen Marktwirtschaft zuschreiben, dem sich die beiden traditionellen Faktoren, Arbeit und Kapital unterordnen bzw. dass diese von jenem mehr und mehr maßgeblich bestimmt werden. Allein dies rechtfertigt schon eine nähere Hinsicht.
Wenn wir von Wissens-Allmende in der historischen Sicht sprechen, dann finden wir jene Dialektik, von der wir eben gesprochen haben. Wissen, und auf diesem weiten Feld ganz besonders die wissenschaftliche Erkenntnis und deren Methodik stehen in einem Durchsetzungsprozess mit der Wirtschaft, der weder einheitlich noch eindeutig, aber dialektisch ist. Die Wirtschaftsgeschichte kennt seit dem 16. Jhd. keine Phase der unabhängigen, parallel zueinander verlaufenden Entwicklungsprozesse zwischen Wissen und Wirtschaft. Wissen passierte die Grenze zur Wirtschaft ständig und dieses epistemologische Passagenwerk ist bis heute schneller und effektiver im kleinen Grenzverkehr mit der Wirtschaft geworden als je zuvor. Und dabei wird immer wieder vergessen, dass Wissen die Wirtschaft – und nicht nur die Ökonomik, sondern prinzipiell und faktisch jedes einzelne Unternehmen – nicht nur herausforderte, sondern bis in deren Grundfesten oftmals bedrohte. Das ist also kein Zeichen der Moderne und ihrer vermeintlich disruptiven Start-ups, das kennzeichnet eine Form der Infragestellung, die weit über eine Verbesserung bestimmter Fakten und Prozesse hinausgeht.
Aber ebenso wie die Wissengeschichte sich als Bedrohung der Wirtschaft geschrieben hat, so sehr ist sie auch der Wirtschaft durch eben solche Verbesserungen und auch von Krisenbewältigung hilfreich beigesprungen. Besonders das 19. Jhd. ist gekennzeichnet von einer zunehmend sich an den Bedürfnissen und Anforderungen der Wirtschaft orientierenden Naturwissenschaften und den ihr angegliederten Ingenieurswissenschaften, die besonders in der rasant fortschreitenden Mechanik, Maschinentechnik und im Maschinenbau den rasant fortschreitenden Prozess der Industrialisierung begleitet und mitbestimmt haben. Das gleiche gilt für die Chemie, für die chemische Industrie und die Wissenschaft der Chemie und man könnte durchaus noch eine Reihe anderer Pärchenbildungen bennenen. Was man aber unbedingt festhalten muss ist eine Veränderung, der man bis heute viel zu wenig Beachtung geschenkt hat und die schon im 16. Jhd. einsetzte; die Privatisierung des Gemeingutes Wissen.
War die Argrareform ein Jahrhundert früher vorangegangen, folgte die Wissens-Allmende alsbald. Hauptauslöser war sicherlich der Buchdruck im weitesten Sinne, aber auch die Seefahrt mit ihrem Navigationswissen und die Geografie wurden zunehmend in Bereche des Kriegswissens verschlossen.
Zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert veränderte sich das politische Gesicht Europas grundlegend: Die unmittelbar mit dem Machtbereich von Papst und Kaiser verbundene, auf universalen Herrschaftsanspruch ausgerichtete mittelalterliche Ordnung zerbrach. Autonome, sich selbst bestimmende Staaten entstanden. Vielfach handelte es sich um so genannte Nationalstaaten, in denen ein Volk mit gemeinsamer Sprache und Kultur und ein Staatsverband eine Einheit bildeten.
Im Innern der Staaten vollzog sich ein Wandel vom Lehns- zum Beamtenstaat. Der feudalistische Staat mit seinem ständischen Aufbau und dem gegenseitigen Treueverhältnis von Lehnsherr (Feudalherr) und Lehnsträger (Vasall) wurde abgelöst durch ein Staatsgebilde mit einer Zentralgewalt, in dem ein einseitiges Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Volk als Steuerzahler und dem Regenten und seinen (absetzbaren) Beamten bestand. In Frankreich und Spanien etwa konzentrierte sich diese Zentralgewalt im Wesentlichen auf den König, in England hingegen beruhte sie auf der engen Zusammenarbeit von König und Parlament.
Während der Zeitenwende vom Mittelalter zur Neuzeit gewann aber das Bürgertum nicht nur an ständischem Selbstbewusstsein, das zugleich auch ein ständisches Wissen hegte, sondern Wissen insgesamt wurde zur Basis von offensiver Kritik an blinder Autoritätsgläubigkeit. Der freie Austausch von Wissen als Grundlage für eine freie, kritische und auf Veränderung und Revolution zielende, freie Argumentation und Meinungsbildung schuf die Basis für die großen, geistigen Bewegungen: Humanismus, Renaissance und Reformation.
Wissen war nicht mehr nur Gemeingut wie etwa als religiöses Wissen. Wissen wurde zur Grundlage gesellschaftlicher und politischer Veränderungen aller größten Ausmaßes. Dem begegeneten Aristrokratie und Monarchie bereits mit dem Beginn des Zeitalters des Buchdruckes, also schon ab Mitte des 15. Jhd. mit der Vergabe von ‚privilèges‘3. Neben den meist in Form landesherrlicher Privilegien verliehenen Erlaubissen zur Münzprägung, zur Ausübung eines Handwerks, Anrufung von Gerichtsinstanzen und Universitätsgründungen spielte die Erlaubnis zur Anfertigung von Druckerzeugnissen wahrscheinlich sogar die wichtigste Rolle in der staatlichen, politischen und kulturellen Entwicklung in Europa, die in der frühen Neuzeit noch enorm an Bedeutung zunahm.
Ihr unterliegen in allen Bereichen der Münz-, Buchdruck-, Handwerks-, Appellations- oder Universitätsprivilegien erste Vorformen der Privatisierung. Natürlich blieben die Herrschaftskompetenzen bestehen, aber für die aufkommende bürgerliche Gesellschaft trat ein erstes Mal ein „juristisches Subjekt“, ein „individueller, privater Rechtsträger“ zwischen Bürger und Gemeingut. Das hatte Folgen für die Wissens-Allmende en gros4.
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Privatisierung des Gemeingutes Wissen – Privilegien
1 Zur Wissens-Allmende zählen wir Wissen in jeglicher Form, das lexikalische Wissen, Werke der bildenden Kunst und Architektur, technische Erfindungen, Methoden der Wissenschaften etc.
2 Marx (1858/1981), S. 574f.
3 Unter „Privilegierung“ versteht man in den Geschichts- und Rechtswissenschaften allgemein einen begünstigenden Herrschaftsakt (z. B. eines Kaisers, Papstes, Herzogs oder Grundherrn) zu Gunsten eines Einzelempfängers oder einer Gruppe durch Verleihung eines (Vor-)Rechts (= Privileg).
4 Vgl. Hermann Krause: Privileg, mittelalterlich; Heinz Mohnhaupt: Privileg, neuzeitlich. Beide in: Adalbert Erler, Ekkehard Kaufmann (Hg.): Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 3. Berlin 1984, Sp. 1999−2005 bzw. Sp. 2005−2011.
Marx, Karl (1858/1981). Grundrisse der Kritik der politschen Ökonomie. Zweiter Teil. Ökonomische Manuskripte 1857/58. Bd.II.1.2. Karl Marx, Friedrich Engels: Gesamtausgabe (MEGA), Berlin: Dietz.
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