Wohlfahrts-Glaube

Es ist wie in einem schlechten Film; gäbe es bessere Szenen, wir würden sie zeigen. Seit es die politische Ökonomie gibt ist Ökonomie immer auch „welfare economics“, Wohlfahrtsökonomie. Wohlfahrtsökonomie ist und dies verwundert ein wenig, ein Teilbereich der Volkswirtschaftslehre. Also kein generelles, sondern ein subsidiäres Thema, substitiert unter der Allokationstheorie, also der Frage nach der Zuordnung von beschränkten Ressourcen zu potenziellen Verwendern, mithin also eine Verteilungsfrage.

Und schon sehen wir wieder mitten hinein in den Brennpunkt der Ökonomik, dahin, wo wirtschaftliches Handeln unter dem Primat von Gewinn und Verlust berechenbar wird. Wohlfahrtsökonomik als Allokationstheorie beschäftigt sich also mit den Auswirkungen wirtschaftlichen und politischen Handelns, insofern es Wohlfahrtsgewinne von Wohlfahrtsverlusten unterscheidet. Es geht also um zwei Handlungsmaximen, wobei eine der anderen unter kardinaler Nutzenperspektive eindeutig vorzuziehen ist.

So zählt sich die Wohlfahrtsökonomik von sich aus und ohne erkenntnistheoretische Not zur normativen Ökonomik, als ihr Gegenstand schon am theoretischen Fundament ein Werturteil enthält: Mehr vom Kuchen, mehr Netto vom Brutto, mehr ist besser als weniger usw. Und der Maßstab für die Wohlfahrtsökonomik ist (in den meisten Fällen) die sog. Pareto-Effizienz1. Erkenntnistheoretisch problematisch aber ist die Sichtweise der ökonomischen Wohlfahrtstheorie doch dann schon deshalb folgenreicher, weil sie vom Besonderen auf das Allgemeine zu schließen trachtet und in den Schlüssen ihren kardinalen Nutzenwert mittransportiert.

Die Auswirkungen der mikroökonomischen Variablen auf die Wohlfahrt einer Gesellschaft geht von dieser mathematisch-hierarchischen Ordnung von Gesellschaften aus, nach der das Ganze die Summe seiner Teile ist. Dieser Reduktionismus steht konträr zu einem in der Sozialwissenschaft so genannten methodologischen Individualismus, der sich aus einem holistischen Weltbild in der Sozialphilosophie bei Thomas von Aquin entwickelt hat und heute den weitreichendsten Streitpunkt in der Volkswirtschaftslehre markiert.

Grundsätzlich teilt der methodologische Individualismus die Ökonomik in einen Bereich der Orthodoxie und einen der Heterodoxie, wobei die orthodoxe Wissenschaft fundamental dadurch gekennzeichnet ist, dass sie ihre „Aversion gegen Empirie“ auf dem Feld der „mathematischen Formeln“ austrägt, „die den Leser von einigen mehr oder minder plausiblen, aber vollkommen willkürlichen Annahmen zu präzise formulierten, aber irrelevanten theoretischen Schlussfolgerungen führen.“2

Folgt man den Streitpunkten zwischen Heterodoxie und Orthodoxie ein wenig tiefer, dann findet man dort also zwei sehr gegensätzliche, methodische Erklärungsmodelle, das der klassischen Physik mit ihrem Reduktionismus und das der sozialwissenschaftlichen, eher holistischen Betrachtungsweise, wie sie von Marx3 begründet wurde. Dabei wird außer Acht gelassen, dass es in diesem Streit weniger um den Begründungszusammenhang einer Betrachtungsweise geht, als um eben eine wertende Sichtweise, die sich nicht aus logischen Zusammenhängen, sondern aus praktischen, vornehmlich gesellschafspolitischen Zusammenhängen ergibt.

Schon Kant hat aufgezeigt, dass jede wissenschaftliche Erklärung wie ein Projekt, also wie ein in sich definierter Zusammenhang zu betrachten ist, in dem ein Pänomen bzw. eine Eigenschaft durch etwas anderes erklärt wird, welches selbst wiederum, zumindest zeitweilig, ohne Erklärung hingenommen wird. Jedem Projekt wissenschaftlich-mathematischer Erklärung ist somit inhärent, in einen unendlichen Regress zu führen, insofern das „x“, welches man zur Erklärung von „y“ herangezogen hat, selbst nach Erklärung verlangt.

In einer holistischen Tradition stehen die sozialphilosophischen bzw. sozialtheologischen Erklärungsmodelle, nach denen Menschen unterschiedlich sind, aber dadurch, dass jeder seinen besonderen Platz im allgemeinen Gesellschaftskörper hat, niemand also quasi „draußen“ ist, er auch überlebensfähig ist. Die gesellschaftliche Ordnung in der Sichtweise einer natürlichen, sprich göttlichen Ordnung, schützt den Einzelnen, solange er sich als integrales Bestandteil sieht und verhält.

Aus einer sozialtheologischen Betrachtung wurde bereits weit vor dem Beginn des Industriezeitalters eine rein soziologische, als diese die reduktionistische Betrachtungsweise bzw. die Methode der Mathematik übernommen hat. Die gesellschaftliche Ordnung wird nicht mehr betrachtet als ein hierarchisch strukturierter (lebendiger) Körper mit einem göttlich sanktionierten Haupt. Gesellschaft, und hier steht das Denken eines Charles Darwin durchaus Pate, resultiert aus den Bewegungen und Wechselwirkungen, also der komplexen Praxiszusammenhänge wie Politik, Arbeit, Kultur etc. von einzelnen, freien und weitgehend gleichen Individuen. Was der methodologische Individualsimus aufgreift, ist ohne die politische Ökonomie nicht schwer bis unzulänglich zu verstehen, ging es doch damals bereits um grundlegende Ausdeutungen der Beziehung zwischen einzelnen Individuen und gesellschaftlicher Ordnungen.

Seit dem 19. Jhd. trat mit Marx, später durch Durkheim weiter formuliert, ein säkularisiertes sozialontologisches Erklärungsmodell auf, in dem der Staat wieder ein Eigenleben bekam, der sich durchsetzte gegen seine Bürger, dessen natürliche Aufgabe die gerechte Verteilung der „welfare economics“ wurde. Was alle durch Arbeit geschaffen haben, sollte auch allen gehören. Und zwar zu gleich Teilen.

Misst man das „Volksvermögen“ mathematisch, dann ist das Gleichgewicht auch dann gestört, wenn einige (wenige, die sog. „happy few“) überproportional am Reichtum einer Volkswirtschaft partizipieren, als die Mehrheit. Das Pareto-Optimum wäre so nicht erreicht, ein weiterer Austausch, also ein „anderer“ Verteilungsprozess wäre vonnöten, aber niemand wüsste, woher der kommen sollte, da ja der Austauschprozess ein Prozess sui generis ist, also aus sich selbst heraus kommt und zum Gleichgewicht, ohne störende Einflüsse von außen, finden sollte.

Im Kern arbeitete Pareto ganz nach voherrschender Auffassung zu seiner Zeit mit einem ordinalen Nutzenkonzept, d.h. es findet kein interpersoneller noch ein in der Sache wertender Vergleich von Nutzen statt. Ein Pareto-Optimum kann sich daher nur einstellen, wenn zwei Menschen in ein Tauschverhältnis kommen, bei dem beide sich besser stellen und beide solange tauschen, wie sie sich noch besser stellen können, dann den Tausch einstellen, gleichsam in einem „Einvernehmen“, dass es weder noch was zu holen, noch etwas zu geben gibt; diese triviale, ordinale Vernunft, wann hat man je sie am Werke gesehen? Aber so trivial sie ist, so falsch ist sie auch. Tauschen heisst vergleichen und nur in einer mathematischen Gleichung ist die Gleichheit Voraussetzung; daran änderts sich auch nichts, wenn von einer „Ungleichheit“, also etwas ist etwas anderem nicht gleich, in einer mathematischen Gleichung ausgegangen wird. Wären aber in einem Tauschverhältnis die „Ergebnissse“ immer gleich, oder wäre der Tausch stets pareto-effizient, gäbe es weder eine ökonomische noch eine soziale oder kulturelle Entwicklung. Sie haben ihren Ursprung in der Ungleichheit. Auch innnerhalb einer sozialen Generationsfolge kann man feststellen, dass ein soziales, ökonomisches oder kulturelles „besser“ stets die Vergleichsgrundlage für die vorhergehende Generation bildet wie auch in der Arbeitsforschung „gleiche Löhne“ nur übergreifend allgemein für „gleiche Arbeit“ gilt. Tariflöhne aber widersprechen nicht der Differenzierung des Lohngefüges innerhalb eines Unternehmens, vor allem auf Abteilungs- oder Projektebene. Findet dort keinerlei materielle Hierarchisierung statt, ist das meistens fatal für das Unternehmen wie für dessen Mitarbeiter – wir kommen auf diesen thematischen Komplex soziologischer und sozialontologischer Fragestellungen später zurück.4

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[title]Begriffe – Anmerkungen – Titel – Autoren[/title]

„welfare economics“Allokationstheorienormative ÖkonomikPareto-Effizienzmethodologischer IndividualismusPareto-Optimum


1 Ein Pareto-Optimum (auch Pareto-effizienter Zustand) ist ein Zustand, in dem es nicht möglich ist, eine (Ziel-)Eigenschaft zu verbessern, ohne zugleich eine andere verschlechtern zu müssen (Wikipedia).
Bei der vor allem im englischsprachigen Raum häufig eingesetzten Nutzen-Kosten-Analyse wird als Maßstab meist das sog. Kaldor-Hicks-Kriterium verwendet. Es gehört zu den sog. Kompensationskriterien, die versuchen, auch solche gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrtsänderungen zu bewerten, bei welchen die Wohlfahrt einzelner Individuen steigt, während die anderer sinkt. Die genannten Kriterien versuchen also, Wohlstandsgewinne und Wohlstandsverluste gegeneinander aufzurechnen, was mit dem Pareto-Kriterium nicht zulässig ist.
Das Pareto Optimum beschreibt also einen Zustand, bei dem der Tausch allein durch den Nutzen (wobei Pareto hier nochmal differenziert utilité = Nutzen im engeren Sinn, also etwas, das tatsächlich nützt, im Gegensatz zu ofelimità = was jemand will, was aber nicht unbedingt nützlich sein muss.
Drogen sind nicht nützlich, aber manche Leute wollen das unbedingt) bestimmt ist und ungehindert möglich ist.

2 Leontief, Wassily (1982) „Academic Economics“ in Sience 217(4555), S. 104.
Tomas Piketty formulierte dieselbe Kritik etwas freundlicher: Er sei als junger Ökonom von seinen Fachkollegen sehr geschätzt worden, obgleich er sich bis dahin nur mit einigen ziemlich astrakten mathematischen Theoremen befasst hatte und von den ökonomischen Problemen der Welt im Grunde nichts wusste noch verstand.
Pikkty, Thomas (2014). Capital in the Twenty-First Century. Cambridge (MA); The Belknap Press of Harvard University Press. S. 32

3 Holismus (griechisch ὅλος holos „ganz“), auch Ganzheitslehre, ist die Vorstellung, dass natürliche (gesellschaftliche, wirtschaftliche, physikalische, chemische, biologische, geistige, linguistische usw.) Systeme und ihre Eigenschaften als Ganzes und nicht als Zusammensetzung ihrer Teile zu betrachten sind. (Wikipedia)
4 Unter dem Titel „Happiness Economics“ hat sich die Wirtschaftsforschung des Glücks-Phänomens angenommen. Man entdeckte, dass das Streben nach Glück eine wirtschaftliche Triebkraft ist. Herbert Laszlo etwa erkennt einen „Fluch des Epikur“ (Das große Buch vom Glücklichsein. Verlag 55PLUS, Wien 2005, ISBN 3-902441-22-4, S. 160)
Epikur lehrte: „Wir brauchen immer dann eine Freude, wenn sie fehlt und wir darob leiden. Wenn wir aber nicht leiden, bedürfen wir ihrer nicht.“
Die Folge sei ein Marketing, das durch „Weckung von Bedürfnissen“ Leiden schaffe, weil man – laut Epikur – glaubt, glücklichen Menschen nichts verkaufen zu können.
Ein weiteres Problem der Happiness Economics ist der Neid auf materielle Dinge. Der britische Ökonom Richard Layard untersuchte die persönliche Zufriedenheit in Abhängigkeit vom materiellen bzw. Zeit-Reichtum der umgebenden Personen. Die Teilnehmer der Studie fühlten sich deutlich weniger zufrieden, wenn die Umwelt in materiellen Dingen reicher war, während sie fast keinen Neid auf Zeitwohlstand (längeren Urlaub) zeigten.


Peter Richard Grenville Layard, Baron Layard (* 15. März 1934) i
Herbert Laszlo (* 16. April 1940 in Wien als Herbert Otto Emanuel Laszlo von Kajászószentpéter; † 4. August 2009 ebenda)
Wassily Leontief (* 5. August 1905 in München; † 5. Februar 1999 in New York
Thomas Piketty (* 7. Mai 1971 in Clichy, Département Hauts-de-Seine)

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