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§ 3. Das aristotelische Menschenbild
Aristoteles (384 -322 v. Chr.) zeichnet den Menschen grundsätzlich als Geist-Körperwesen. Der
Körper ist wesentlich dem Geist zugeordnet, er ist “Werkzeug” (Organon) der Seele, die ihn
beherrscht und bewegt, und die “in gewisser Weise alles” ist (Peri Psyches / De anima III, 8, 431 b
21). Die platonische Seelen-Vermögen-Lehre wird im Prinzip übernommen, jedoch modifiziert und
vom Körperlichen her legitimiert. Sie korrespondiert der Einbettung des Menschen ins Naturreich.
Die “organische” Auffassung und die Einbettung in das Naturreich bestimmt die klassisch gewordene
Definition des Menschen als “vernunft- bzw. sprachbegabtes Tier” (zoon logon echon, animal
rationale), d. h. er gehört zur Gattung der Tiere und hat ihnen gegenüber das spezifische
Unterscheidungsmerkmal der VernĂĽnftigkeit (schlieĂźt ein den Sprachbesitz). Er teilt mit den Tieren
die Sinnesausstattung und die Bewegungsfähigkeit, und ebenso wie die Tiere mit den Pflanzen deren
Strebe-, Ernährungs- und Fortpflanzungsvermögen
Umstritten bleibt die Frage der Individualität und Unsterblichkeit. Gemäß aristotelischer
Substanzlehre bestimmt die Materie – hier der Körper – die Individualität einer Substanz, die Form
ist allgemein und bestimmt den Gattungscharakter. Als unsterblich aber gilt fĂĽr Aristoteles nur das
Göttliche. Die historische Rezeption und Verschmelzung mit dem christlichen (grundsätzlich
platonischen) Menschenbild führt daher zum Dogma von der “Auferstehung des Fleisches” (da der
Körper individualisiert) und zur “alexandrinischen” Interpretation der “individuellen” Unsterblichkeit
des Nous poetikós. Demgegenüber behauptet der “averroistische” Aristotelismus später den Verlust
der Individualität des Nous beim Verlassen des Körpers und seine Verschmelzung mit der göttlichen
Allseele.
Die wesentliche Beachtung des Körperlichen führt Aristoteles zur Entdeckung und Bestimmung
vieler somatischer (körperlicher) Eigentümlichkeiten des Menschen im Unterschied zu den
Tieren. Körperliche Merkmale des Menschen sind (vgl. De generatione animalum, De partibus
animalum, De anima): 1. Sprachbesitz, 2. Händigkeit, insbesondere Unsymmetrie der Leistungsfähigkeit rechter und linker Hand und der Körperhälften, 3. aufrechter Gang, 4.
Gehirngröße (das Gehirn gilt als Kühlungsorgan für das Blut), 5. Sensibilität des Tastsinnes über die
ganze Haut, Nacktheit, 6. Lebensdauer ( gilt neben der des Elefanten als längste aller Tiere).
Aus der wesensmäßigen Verbindung von Göttlichem (Geist) und Natur (Körper) im
Menschen ergibt sich seine Bestimmung im Leben: “Was einem jeden wesenseigen ist, das ist von
Natur für ihn auch das Höchste und Lustvollste. Für den Menschen aber ist es das Leben gemäß
dem Geiste. Denn der Geist ist am meisten der Mensch. Mithin ist dieses Leben auch das
glücklichste” (Nikomachische Ethik X, 7, 1177 b 26). Damit wird die schon bei Platon angelegte
Auszeichnung des “theoretischen Lebens” (bios theoretikós, vita contemplativa, “Beschaulichkeit”)
und die Diskriminierung des “tätigen” Lebens (als „banausisch“) anthropologisch unterbaut.
Ebenso wird der Geschlechtsunterschied belangvoll, nicht minder der organische
Entwicklungszustand des Menschen nach dem Lebensalter: Nur der erwachsene, zeugungsfähige
Mann gilt als voller Mensch; die Frau, das Kind, der Alte (auch der KrĂĽppel, der Kranke) sind es
nur “potentiell”. Das wirkt sich offensichtlich bis heute in der abendländischen Privilegierung des
ersteren und Diskriminierung der letzteren aus.
Wir fassen die ZĂĽge des aristotelischen Menschenbildes zusammen: 1. Der Mensch ist
körperlich-geistiges Wesen (“organische Auffassung”). Sein geistiger Anteil verbindet ihn mit dem
Göttlichen (Platonismus), sein körperlicher mit der Natur. 2. Der Körper (soma) ist dem Geiste
“zugeordnet” (nicht zufällig sein “Gefängnis” wie bei Platon); der Geist (nous) “regiert” als Seele
(psyche) oder “Entelechie” („das Ziel in sich habend“) den Körper. 3. Die Seelenvermögen bilden
eine Hierarchie in Ăśbereinstimmung mit der Hierarchie der Natur: Denken, Sinnlichkeit und
Triebstruktur repräsentieren das Göttliche, Tierische und Pflanzliche im Menschen und binden ihn in
die Realität ein. 4. Die Vernunftstruktur und ihre Kultur bestimmt das Schicksal der Menschheit als
Gattung; die körperlich-organische Struktur bestimmt das Geschick des einzelnen konkreten
Menschen im Leben.
§ 4. Das stoische Menschenbild
Es ist eine Synthese des platonischen und aristotelischen Menschenbildes, dessen ZĂĽge es in
verschiedener Hinsicht verschärft. Da es auf verschiedene Autoren zurückgeht und über
Jahrhunderte hin diskutierend entwickelt wird, ist auch manches kontrovers geblieben. BegrĂĽnder
der alten Stoa sind Zenon aus Kition (ca. 336 – 264 v. Chr.) und Chrysipp aus Soloi (ca. 281 –
ca. 208 v. Chr.); Vertreter der mittleren Stoa sind Panaitios aus Rhodos (ca. 185 – 11o v. Chr.)
und Poseidonios aus Apameia in Syrien (ca. 135 – ca. 51 v. Chr.); Hauptvertreter der späteren
Stoa sind Seneca aus Cordoba (gest. 65 n. Chr.), Epiktet aus Hierapolis in Phrygien (ca. 50 – ca.
92 n. Chr.) und der Kaiser Mark Aurel (Regierungszeit 161 – 180 n. Chr.).
Die aristotelische Einbettung des Menschen in die Natur wird verstärkt und alle Natur
teleologisch auf den Menschen bezogen. Sie ist für ihn da. Umgekehrt wird “naturgemäßes Leben”
(te phýsei zen) zum höchsten Ideal.
Die platonische Unterscheidung von Seelenteilen
wird bis zu acht (5 Sinne, Zeugungspneuma, Sprachpneuma und zentrales FĂĽhrungspneuma =
HegemonikĂłn) erweitert, andererseits unter dem HegemonikĂłn wieder vereinheitlicht und
dynamisiert. “Wie die Spinne in der Mitte des Netzes sitzt und mit Hilfe der Fäden merkt, wenn in
dieses eine Fliege gerät, so sitzt das Hegemonikón im Herzen und vernimmt dort, was die Sinne
übermitteln” (Chrysipp).
Die Einheitstendenz läßt auch keinen echten Gegensatz zwischen Trieb und Hegemonikón
mehr aufkommen, vielmehr fĂĽgen sich Triebe und die anderen Seelenteile normalerweise und von
Natur dem leitenden Geist, der dann auch Nous oder Logos genannt wird. Tun sie es nicht, so ist
das anormal, Zeichen einer Krankheit. So ist auch der “vernünftige” Mensch der normale, gesunde
und (gattungsmäßig) „allgemeine“. Derjenige aber, der mit seinen Trieben und Affekten nicht
zurechtkommt, ist krank und “eigen” (idion). Der “Idiot” (idiótes = Einzelner) oder “Privatmann”
(aus dem Epikur ein Ideal machte) erscheint als der, welcher gemeinsamer Vernunft und der