Wohlstand zum Nulltarif

Als wüssten es alle und alle wären auch bereit, für ihren Wohlstand etwas einzusetzen, etwas, das über den Arbeitseinsatz hinausgeht. Aber, wenn es geht, ohne Risiko. Die meisten Menschen meinen, durch ihre Arbeit wären alle Ressourcen auch schon abgegolten, die es für die Entwicklung des eigenen, persönlichen Wohlstands braucht. Implizit unterstellen die Menschen in Erwerbstätigkeit, dass mit dem „Verkauf“ ihrer Arbeitskraft der Entwicklung ihres Wohlstands und der Wohlfahrt ihres Sozialstaats Genüge getan ist. Aus den Steuern und Abgaben, die sich aus den Einnahmen aus Arbeit – und, so vorhanden, aus anderen persönlichen Erlösen – ergeben, sowie aus den durch die Unternehmen erwirtschaften Erlöse, die wiederum zu Überweisungen an die Staatskasse führen, bestreitet der Staat alle seine Aufgaben und Verwaltungsausgaben.

Und so hat man es die Bürger Jahrzehntelang Glauben machen, das sei ihr Beitrag, sonst nichts. Natürlich glaubt das jeder Mensch, der keine andere Erfahrung macht, als die Bruttoeinnahmen mit den Nettoeinnahmen zu vergleichen und dabei die Steuer- und Abgabenquote leicht errechnen kann, von der er dann auch noch die Rücküberweisungen seiner Finanzkasse abzieht und sich sagt: das muss aber auch reichen für Staat und Gesellschaft. Und wenn es dann nicht reicht, dann werden auch sogleich die beiden Verantwortlichen dafür kolportiert, ein zu ausgabenfreudiger, verschwenderischer Staat und ein zu ausbeuterischer und nur auf seinen Eigennutzen bedachter Unternehmer. Wären beide zurückhaltender in ihrer Gier nach Geld, wäre genug für alle da.

Dass dieser Gedanke Raum gegriffen hat in der Geschichte der westlichen Industriegesellschaften ist nicht verwunderlich. Dass dieser Gedanke aber auch Raum gegriffen hat im wissenschaftlichen Diskurs der Ökonomik umso mehr. Denn die sollte es eigentlich besser wissen, dass Wohlstand und Wohlfahrt nicht in einer Einnahme- Überschussrechnung allein zu ermitteln sind. Bilanziert man die gesamten Forderungskonten der EZB plus die Forderungen aller nationalen Notenbanken und stellt diese den Leistungsbilanzen der einzelnen Euro-Staaten gegenüber in der Absicht einer Steuererklärung, bekäme man ganz sicher bei keinem einzigen Finanzamt in Deutschland den Prüfstempel. Aber so geschieht es in den meisten Fällen, wenn von den Autoren der wissenschaftlichen Ökonomik die immensen „Schulden“ vieler Staaten der Eurozone beklagt werden.

Natürlich sind die hohen Staatsverschuldungen einiger Länder der Eurozone beklagenswert. Aber nicht in der Höhe und auch nicht in ihrer Relation zur Leistungsbilanz. Dass die Wissenschaft der Ökonomik als Lehre der Volkswirtschaft fast durchgängig die investiven und riskanten Elemente des Wirtschaftens außer Acht lässt, hat natürlich fatale Folgen. Es liegt auch daran, dass die Ökonomik diese Elemente alle in die betriebliche Ebene, also in die Mikroökonomik verlegt hat, aber deshalb sind sie aus der Makroökonomik ja nicht verschwunden; sie werden dort eben nur nicht mehr behandelt.
Dies führt dazu, dass die Betrachtungen der Geld- und Fiskalpolitik, gleich welcher Schule, beide wirtschaftspolitischen Bereiche allein auf die makroökonomischen Ansätze der keynesianischen Theorie zurückführt. Dann geht es nur noch um eine antizyklische Fiskalpolitik1, sowie eine antizyklische Wirtschaftspolitik, wenn auch Maßnahmen der Geld- und Kreditpolitik sowie Außenwirtschaftspolitik zur Anwendung kommen mit dem Ziel der Beeinflussung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage.

So sind auch die Betrachtungen der EZB-Politik allein vor dem Hintergrund einer Verschuldungspolitik, „deficite spending“, betrachtet, und als Nachfragebeeinflussung legitimiert, so sie diesem Ziel ihre Ausgaben unterstellt. Aber nicht jede fiskalpolitische Maßnahme, so sie legitim ist, ist auch zugleich effizient in ihrer Zielerreichung. Besonders die Vertreter der neoklassischen Denkrichtungen Monetarismus und Angebotsökonomik führen starke Zweifel an die These, dass die Fiskalpolitik überhaupt in der Lage sei, die von ihr zielgerichtet zu beeinflussenden volkswirtschaftlichen Aggregate, hautsächlich die Stabilität des Preisniveaus, einen hohen Beschäftigungsstand, ein außenwirtschaftliches Gleichgewicht und ein stetiges, angemessenen Wirtschaftswachstum zu erreichen.

Der Transmissionsmechanismus zwischen fiskalpolitischem Impuls und der Wirkung auf die Zielgrößen ist nach Auffassung neoklassischer Modelle abhängig von der spezifischen Konstruktion des Transmissionsmechanismus, einer ganzen Reihe von normativen Prämissen und Ceteris-Paribus-Klauseln, die wir bereits besprochen haben. Diese Modelle stellen dem wissenschaftlichen Zweifel an den Wirkungen der fiskalpolitischen Transmissionen die Stabilität des privaten Sektors in einer störungsfreien Marktwirtschaft gegenüber und behaupten, dass erst die Eingriffe de der Politischen Ökonomie zu einer negativen konjunkturellen Wirkung führen, aus Gründen nicht adäquater Steuerungsimpulse oder aus staatlich verursachter Verunsicherung der Wirtschaftssubjekte. Ebenso werden mögliche Verdrängungseffekte der privaten Aktivitäten durch die staatliche Nachfragebeeinflussung2 gegen die Fiskalpolitik angeführt.

Was aber beide Modelle, das klassische wie das neoklassische nicht berücksichtigen, sind die Faktoren Investition und investives Risiko, sicherlich auch deshalb, weil beide Faktoren sich einer wissenschaftlich bidirektionalen, linearen Betrachtung entziehen. Diese Faktoren in die Betrachtung mit einzubeziehen wird aber umso wichtiger, als in den letzten zehn Jahren die Fiskalpolitik insbesondere durch die globale Finanz- und Wirtschaftskrise und die Euro-Krise wieder mehr Anhänger unter den Ökonomen gefunden hat. Wenn also wir von Fiskalpolitik sprechen, dann geschieht dies immer kritisch auch gegen diese Unterlassung.
So sind daher die bidirektionalen Zuordnungen der Target-Schulden sowie der fiskalischen Hilfskredite der europäischen Staatengemeinschaft und des IWF jeweils zu einem Mitgliedsland der Eurozone sachlich nicht zulässig, eine Gegenüberstellung von Geber- und Nehmer-Staaten ideologisch. So werden gute und schlechte Staaten, gut haushaltende von schlecht haushaltenden unterschieden und unterfüttern die Spaltung einer Wirtschaftsgemeinschaft in nationale Interessen und nationalistische Bestrebungen mit Wissenschaft. Das wäre zu übersehen, ginge es in der Betrachtung der Euro-Krise nicht um weitaus mehr, als um eine bilanzielle Betrachtung.

Aus dem Bisherigen geht hervor, dass wir der kritischen Meinung über die theoretische Gültigkeit des keynesianischen Transmissionsprozesses ebenso zustimmend gegenüber stehen wie auch dem Modell einer „störungsfreien Marktwirtschaft“ im privaten Sektor; weitgehend. Nicht der Meinung sind wir, dass staatliche Intervention rein aus einer Transmissionslogik betrachtet werden muss, bei der es lediglich um die Stimulierung von Nachfrage auf den privaten Märkten geht.

Rechnet man die Target-Schulden, Rettungsschirme und Nothilfen für den gesamten Eurozonenraum zusammen, erhält man die Summe von ca. 850 Mrd. Euro. Blickt man dabei nicht auf die Nehmer-Staaten, die sog. GIPSIZ und erschreckt bei der Verteilung der Hilfen auf die einzelnen Staaten, sondern betrachtet diese Summe einmal heuristisch in der Art eines bundesdeutschen Länderfinanzausgleichs, dann beträgt der Pro-Kopf-Anteil am Ausgleich zwischen struktur- und einnahmeschwachen Staaten und starken Staaten gerade einmal etwas mehr als 1.140 Euro. Nimmt man die Gesamtaufwendungen in Relation zu der Gesamtpopulation in Europa dann ist dieser Teil ein fast verschwinden geringer Teil der Pro-Kopf-Verschuldung in Europa von etwa 14.000 Euro, also ca. 6 Prozent. Zum Vergleich, die Bürger der USA tragen eine Schuldenlast von etwa 67.000 USD pro Kopf.
Schaut man auf die Nehmer-Staaten in einem engeren Blick, dann liegt der Pro-Kopf-Anteil bei etwa 6.000 Euro pro Bürger der EU. Aus der Gesamtperspektive eines Wirtschaftsraumes, der ähnlich wie in jeder Form von Konföderation, auch einer bundesstaatlichen Föderation, Ausgaben zum Ausgleich von strukturschwachen Mitgliedern zu bewältigen hat, sind dies sehr geringe Summen bzw. anteilige Belastungen. Dass die EU anders als die Bundesrepublik Deutschland im Stabilitäts- und Wachstumsgesetz von 1967 noch keine rechtliche Kodifizierung dieses Strukturausgleichs hat, ändert nichts daran, dass es erstens eine Form von Strukturausgleich in der EU gibt und zweitens nichts daran, dass dieser Ausgleich nominell und anteilig eher zu gering als zu hoch ausfällt.

Bewerten wir diese Geldtransfers einmal nicht nur als Ausgaben, sondern als das, was sie in Wahrheit sind wie überall in föderativen Gemeinschaften, selbst wenn diese de jure auf dem Papier nicht als solche, aber de facto bestehen, dann können selbst die Nothilfen zur Bankenrettung als investive Unterstützungsmaßnahmen gelten. Leider muss gesagt werden, dass die europäischen Bankenunion bislang weder auf einem guten noch ausreichend asphaltierten Weg sich befindet und somit dieses Investment weitgehend fehlallokiert ist. Und ohne eine sinnvolle Investition in das europäische Bankensystem werden auch andere Transmissionen der Geldpolitik schwierig und riskant bleiben, denn die Fragmentierung des europäischen Bankenmarkts zählt zu den größten Problemen nicht nur der Branche, sondern auch bei der Zukunftsgestaltung der EU.

Die EU hat es bislang nicht geschafft, trotz einiger Fortschritte bei der europäischen Bankenaufsicht und des einheitlichen Abwicklungsmechanismus einen einigermaßen integrierten Finanzmarkt in Europa aufzubauen. Strukturell am meisten hinderlich dabei sind bereits die Voraussetzungen, dass nämlich die Banken in allen EU-Ländern, in denen sie Niederlassungen haben, ein Mindestmaß an Kapital und Liquidität vorhalten müssen. Dieses nationale „Ringfencing“ ist ineffizient und für jeden Versuch der Integration abträglich. So bleibt die Bankenstruktur in der EU kleinteilig und wirtschaftlich kaum wettbewerbsfähig.
Die US-Banken sind mittlerweile im transatlantischen Wettbewerb so stark, dass die europäischen Wettbewerber bei manchen Transaktionen nicht einmal mehr eingeladen werden. Ein System aus kleinteiligen Strukturen von Minibanken und lokalen Sparkassen sowie genossenschaftlichen Instituten, gar von Instituten des Heiligen Stuhls usw. mag romantisch anmuten und einer alten Idee der Risikodiversifizierung entsprechen, heute trägt gerade diese Struktur das größte Risiko im Wettbewerb.

Diese Struktur ist kein Ergebnis eines Marktprozesses, sondern das Ergebnis politischer Entscheidungen. Dass grenzüberschreitend tätige Institute immer noch mit einem Flickenteppich an nationalen Regulierungen und Entscheidungen in ihren Planungen und Geschäftstätigkeiten zu kämpfen haben, ist weder wirtschaftlich sinnvoll noch politisch notwendig. Außer für den Fall, dass über den Weg der Notenbank-Darlehn über die nationalen Notenbanken und Geschäftsbanken das Euro-Geld seinen Weg in die Kassen der verschuldeten Staaten zur Refinanzierung der Altschulden und zur Finanzierung von Neu-Schulden findet; das soll auch erklären, warum dieser Zustand so schwierig ist, verändert zu werden, müsste die Politik sich ja gerade an dieser Stelle aus ihren „Geschäften“ zurückziehen.

Das „Geschäftsmodell“ der Politischen Ökonomie kümmert wenig die Verwerfungen auf den Märkten, die sie provoziert. Gerade Deutschland ist z.B. gegen eine europäische Bankenunion und leistet sich dafür einen Markt, der mit über 2.000 Instituten übersättig ist und auch ohne die Zinspolitik der EZB recht geringe Gewinnmargen ausweisen dürfte. Aus den Nachkriegszeiten hat sich in Deutschland zwar das sog. Drei-Säulen-Modell3 der Geldwirtschaft bewährt, mit dem sich Deutschland ein Bankensystem leistet, welches heute zu den größten der Welt gehört, das aber als so unwirtschaftlich und wenig zukunftsfähig wie kein anderes auf der Welt gilt. Und weil der deutsche Bankenmarkt ein offener Markt ist, sind auch hier viele ausländische Geldhäuser aktiv und heizen den Wettbewerb zusätzlich an; wer darin etwas marktwirtschaftlich Sinnvolles erkennt, steht mittlerweile ziemlich einsam.

Dieser Zustand des europäischen Bankensystems macht Entscheidungen für Zukunftsinvestitionen sowohl strukturell wie im Volumen enorm schwierig, leicht dafür aber Entscheidungen von Regierungen, die die Finanzmittel dafür auf viele Institute verteilen können. Diese Bankenstruktur beinhaltet einen sichtbaren Anteil an der Risiko- und Tarifstruktur des europäischen Wohlstands. Und gerade die Banken waren die Hauprofiteure der europäischen Rettungspolitik neben den anderen privaten Gläubigern. Französische Banken, deutsche Banken und Versicherer und private, institutionelle Anleger aus der ganzen Welt waren investiert und mussten gerettet oder vor immensen Abschreibungsverlusten geschützt werden.

Hatten die USA in ihrer Bankenkrise schnell und kräftig durchgegriffen und Banken reihenweise temporär verstaatlicht, einige in die Pleite abgewickelt, so geschah in Europa nichts Vergleichbares. Nun ist nicht jedes Geld, das man in eine Krisenbranche oder in Krisen-Unternehmen investiert gutes Geld, das man schlechtem Geld hinterherwirft. Rettungs- oder Überbrückungsliquidität kann, vorausgesetzt, es wird richtig investiert, durchaus ein sinnvolles Investment sein. Im Sinne der Regierungen waren alles Darlehn und Kredite aus den Euro-Programmen durchaus ein sinnvolles Investment, entlasteten diese doch alle Regierungen von marktgerechten Zinsen für ihre Staatsausgaben und Haushaltsüberzeihungen.

Für die Bürger Europas waren die Zinserleichterungen dagegen kein gutes Investment, eher eine Desinvestition. Dabei wurde durchaus auch eine Umwandlung von in Sach- bzw. Finanzwerten investierten Geldbeträgen in liquide Form auf indirekte Art und Weise betrieben; wir haben das als sanfte Enteignung beschrieben. Die geschah allein schon dadurch, dass Sparer deutliche Vermögensverluste hinnehmen musste, da freiwerdende Geldmittel aus Sparvermögen und Lebensversicherungen nun auf den Geldmärkten keine normalen Zinsen mehr fanden, die waren durch die Geldpolitik der EZB ja im Keller. Das hat neben anderen Faktoren auch seinen Betrag dazu geleistet, dass Banken und Versicherer in Deutschland, neben ihrer strukturellen Schwäche nun auch noch im innersten Kern ihrer Geschäftsmodelle zusätzlich geschwächt wurden und einen beispiellosen Niedergang erlebt haben. Dieser Niedergang erfasste auch die öffentlich-rechtlichen Institute wie die Genossenschaftsbanken und darf daher umfassend genannt werden.

Es wurde im Zuge der Geldpolitik in Europa nicht nur Geld aus privaten Vermögen in öffentliche verlagert, sondern auch keine angemessene Austeritätspolitik im Rahmen der Bankenrettung vorgenommen. Die aber wäre notwendig für sinnvollen Zukunftsinvestitionen in der EU und besonders in den Eurostaaten. Im Übergang von einer Industriegesellschaft zu einer Digitalwirtschaft werden gigantische Investitionen notwendig sein, zumal die Digitalwirtschaft kein Wirtschaftssegment meint, sondern einen umfassenden Transformationsprozess, der alle wirtschaftlichen Bereiche erfasst. Investitionen in die europäischen Arbeitsmärkte sind ebenso wenig effizient, überlässt man diese allein der Wirtschaft, ohne die Rahmenbedingungen in Europa politisch voranzutreiben. Geradezu zynisch sind jene Beiträge, die die besonders dramatische Jugendarbeitslosigkeit dem „Kapitalismus“ anzulasten versuchen. Jugendarbeitslosigkeit ist im Kern wie wir sie heute vorfinden kein Arbeitsmarktproblem, sondern ein strukturelles Problem der Bildungspolitik, die die Jugend in den europäischen Ländern vollständig an den Arbeitsmärkten vorbei ausbildet.

Ginge es nach der Erfahrung des „best practice“, dann könnten europäische Bildungspolitiker durchaus ein Zwei-Säulen-Prinzip“ der schulischen und akademischen Bildung wie der beruflichen Ausbildung nach modifiziertem deutschem Modell etablieren. Die Veränderung eines Bildungssystem ist natürlich teuer und langwierig, deshalb aber umso dringlicher, weil bei dem bestehenden Gießkannen-Bildungssystem, welches die Jugend dem Zufall eines Arbeitsplatzes aussetzt, weiterhin Jahr für Jahr Kosten bzw. Belastungen für Wirtschaft und Wohlfahrt einer Nation sich akkumulieren, die kein Land der EU jemals zu schultern in der Lage sein wird; und die auch kein Rettungskredit zu refinanzieren vermag, wenn die Anforderungen wie es aussieht, in der Zukunft ein wesentlich flexibleres und praxisnahes Bildungssystem erfordern.

Investitionen in die europäischen Bildungssysteme sind Investitionen in die europäischen Arbeitsmärkte, so sie sich diesen zwar nicht ganz unterwerfen, aber dynamisch anpassen. Das wird in Zukunft noch wichtiger, da die temporären Veränderungen auf den Arbeitsmärkten an Dynamik zunehmen werden. Umso wichtiger wird auch sein, die Bildungspolitik durch wirtschaftspolitische Flankierungen so zu gestalten, dass die mit der Veränderungsdynamik und der Zunahme an dezentraler Arbeit in Home-Offices oder im Mobile-Working nicht zu neuen Formen der Ausbeutung und Destabilisierung der Wohlfahrtssysteme der Gesellschaften Europas führen.

Wie in jedem Unternehmen sollten die Schulden eines Staates auch gegen die ‚ungehobenen‘ Potenziale gelesen werden. Zu diesen Potenzialen gehören an oberster Stelle die halblegalen Steuervermeidungsstrategien und die illegalen Steuerbetrügereien. Die größte Steuerlücke, absolut gesehen, klafft in Italien auf, gefolgt von Deutschland und Frankreich. Dem italienischen Fiskus entgehen jährlich nach eher pessimistischen Schätzungen vermutlich rund 190 Milliarden Euro, Deutschlandschätzungsweise 125 Milliarden Euro, Frankreich 117. In Relation zur Wirtschaftsleistung sind die Ausfälle neben Italien auch in Rumänien, Zypern und Griechenland besonders hoch.

Die aktuelle Diskussion um eine Mindestbesteuerung von Unternehmensgewinnen oder der Abschaffung fragwürdiger Steuerregelungen fokussiert hauptsächlich die Ausfälle durch Steuervermeidung. Große Konzerne zahlen laut einer Studie der Grünen im EU-Parlament fast nirgendwo in der Europäischen Union den gesetzlich vorgeschriebenen Steuersatz. Es gebe massive Unterschiede zwischen den offiziell geltenden Steuern und der tatsächlich gezahlten Abgabenlast multinationaler Unternehmen, der besonders hoch ausfällt in Luxemburg. Dort liegt die stärkste Abweichung zwischen nominalem und effektivem Steuersatz, der offiziell in den Jahren zwischen 2011 bis 2015 bei 29 Prozent lag, wobei tatsächlich Unternehmen durchschnittlich nur zwei Prozent an Steuern zahlten.
In Deutschland liegt die Abgabenlast eigentlich bei 30 Prozent; der Untersuchung zufolge führten Konzerne aber tatsächlich nur 20 Prozent an den Fiskus ab. Lediglich in Bulgarien wurde keine Abweichung festgestellt. Seltsamerweise ist es gerade Deutschland und in personam Olaf Scholz, der sowohl eine größere Steuertransparenz und die Abschaffung von Steuervermeidungspraktiken multinationaler Konzerne blockiert.

Der EU entgehen auch durch Steuertricksereien hohe Steuereinnahmen. Im Jahr 2015 waren laut Mitteilung der Brüsseler EU-Kommission die Einnahmen aus der Mehrwertsteuer rund 151,5 Milliarden Euro niedriger als erwartet, was einer Differenz von ca. 13 Prozent der erwarteten Einnahmen entsprach.
Ein weiterer Grund für die hohen Steuerausfälle ist schlicht Steuerhinterziehung. Allein grenzüberschreitender Mehrwertsteuerbetrug verursacht nach Angaben in der Europäischen Union pro Jahr Ausfälle in Höhe von 50 Milliarden Euro.

Je nach EU-Land fällt die Steuerlücke sehr unterschiedlich aus. In Deutschland entgingen den öffentlichen Kassen Einnahmen von 22,4 Milliarden Euro, das sind rund zehn Prozent. Relativ am höchsten war die Lücke in Rumänien: Das Land nahm 7,7 Milliarden Euro oder 37,8 Prozent weniger ein. In absoluten Zahlen wies Italien die größte Lücke aus: Dem ohnehin hoch verschuldeten Land entgingen allein 35,1 Milliarden Euro, das entspricht 26 Prozent der gesamten Mehrwertsteuereinnahmen.

Die hohen Steuerausfälle sind dabei kein neues, kein überraschendes Phänomen. Im Jahr 2011 fehlten in den Kassen der EU-Staaten knapp 200 Milliarden Euro. Im Vorjahr waren es rund 160 Milliarden. Steuerausfälle sind seit vielen Jahren eine Form indirekten deficite spendings, das zwar leicht zurückgeht, aber weder von der EU-Kommission, noch von den einzelnen Mitgliedstaaten in den Griff zu bekommen ist, da es auf die Grundkonstruktion autonomer Staaten in der Wirtschaftsgemeinschaft Europa zurückgeht. Jeder Form der Angleichung innerhalb der EU zieht dem Rat den Vorwurf zentralstaatlicher Zwangsmaßnahmen nach sich und ist dann unversehens und schnell in der politischen Agenda nach ganz unten gerutscht.

Ein Sonderfall von Steuerausfällen bildet die sog. Schwarzarbeit. Diese Art der Steuerhinterziehung lässt sich kaum mit Staatsverträgen und grenzüberschreitendem Informationsaustausch bekämpfen. Natürlich könnte die Politik auf nationaler Ebene härter gegen Schwarzarbeit vorgehen, die Steuerbehörden stärken und die Kontrollen intensivieren, gleichwohl aber ist
absehbar, dass ein solches Vorgehen der staatlichen Behörden wenig Akzeptanz finden wird, weil in vielen EU-Staaten weite Teilen der Bevölkerung von Schwarzarbeit profitieren. Zudem müssten die zusätzlichen Steuereinnahmen kalkulatorisch mit der Verteuerung gegengerechnet werden, die wahrscheinlich so hoch wäre, dass die Nachfrage nach Schwarzarbeit deutlich zurückgehen und somit auch dem Fiskus wenig an Steuern und Abgaben einbringen würde. Denn kostete das neue Badezimmer oder die Nachhilfestunde legal plötzlich das Doppelte, würde ein Gutteil der heutigen Kunden der Schwarzarbeiterbranche wohl eher auf das Geschäft ohne Rechnung verzichten.

Ein Ausweg aus dem Dilemma wäre ein anderes Klima im Umgang mit der Schwarzarbeit und dabei gerade mit jenen Leistungen, die durchaus der Nachbarschaftshilfe zugerechnet werden dürfen oder dieser sehr nahestehen. Schattenwirtschaft und die damit verbundene Steuerhinterziehung an der Wurzel zu bekämpfen, weist stets auf den Aspekt, Steuern auf Arbeits- und Einkommen von überwiegend Klein- und Kleistunternehmen zu senken, regulatorische sowie administrative Hürden abzubauen und Schlupflöcher zu stopfen, weniger darauf die Erbringung wirtschaftlicher Gefälligkeitsleistungen sowie niedrigwertiger Einzelleistungen unter moralischem Generalverdacht zu stellen.
Leider hat die Politik vielerorts in der EU den leichteren, aber im Endeffekt schlechteren Weg gewählt; einen Weg, der durch populistische, antiunternehmerische Kampfrhetorik schon bei Micro-Selbständigkeit eine europaweite Integration mit geregeltem Versicherungsschutz und einer moderaten Abgabenordnung verhindert. Besonders untermauert wird dieses arbeitsmarkt-politische Scheitern auch noch durch die singulären Interessen vertretenden, höchst fragwürdigen Studien, die diesem Bereich mit aus der Luft gegriffenen Zahlenwerken zu Leibe zu rücken vorgeben. Studien von Autoren wie dem gewerkschaftsnahen Briten Richard Murphy im Auftrag für das führende Mitte-Links Bündnis und mit 187 Mitgliedern zweitgrößten Fraktion im EU-Parlament zögern keine Sekunde, der Schwarzarbeit den Wert von jährlich 1 Billion Euro Schaden für die europäischen Kassen auszuweisen.

Wie es scheint, sind gerade Berechnungen aus dem Mutterland der naturwissenschaftlichen Ökonomik und der Erfinder der empirischen Sozialforschung im Umgang mit Zahlen recht sorglos geworden, wie das Brexit-Beispiel und solche Studien zeigen. Es scheint wenig Vertrauen in die Ökonomik und Sozialforschung übrig geblieben zu sein und das ist nicht ohne Grund, rechtfertigt solche Zahlenmanipulationen aber nicht4.
Anstatt eine europaweite Investition in einen neuen Arbeitsmarkt zu behindern, wäre mit geringem Aufwand eine Legalisierung der Schwarzarbeit und vor allem die Integration vieler bislang „schwarz“ Beschäftigter in die Sozialsysteme der EU möglich, was großen Druck von den hohen Sozialkosten der EU-Staaten nehmen könnte.

Überdies wirken Investitionen, so sie nicht in verschwenderischer Manier getätigt werden, wie viele der Staatsausgaben leider werden, entlastend auf die Bürger der EU-Staaten. Der Diskurs, heute alle Ausgaben der EU und speziell der Eurozone lediglich als „Schulden“ zu diskutieren und nicht einmal den tatsächlich investiven Anteil an der Refinanzierung der Staatshaushalte als Investments zu kennzeichnen, wirkt auf weite Teile der Bürger der EU mittlerweile in einem extremen hohem Maße belastend bis beängstigend. Die Steuerzahler meinen nämlich, dass in der Zukunft Belastungen auf sie zukommen, die die Allgemeinheit der Bürger der EU nicht mehr zu Schultern in der Lage sein wird und die die Zukunftsaussichten bereits heute so sehr verdunkeln, dass lediglich alle Haftungs- und Zukunftsrisiken, die mit jeder Investition verbunden sind, antizipiert werden und nicht mehr jener Anteil an den Investitionen, der die Währungs- und vor allem die Wirtschaftsgemeinschaft im globalen Wettbewerb stärkt. So bleibt im Diskurs das europäische Experiment stark gefährdet und nicht an den Bürgern der EU orientiert, weil die maximal möglichen Verluste bei einer Insolvenz der GIPSIZ-Staaten so weit im Vordergrund stehen, dass der ‚Hintergrund‘ als Investition in die Funktionalität des Experiments nicht mehr gesehen werden kann.

Diese Verluste sind insgesamt wie bereits ausgeführt im Vergleich mit anderen Wirtschaftsräumen relativ gering in Relation zu den einzelnen Bürgern und auch in Relation zu der gesamten Wirtschaftsleistung der Gemeinschaft. Das Risiko, dass diese Gesamtschulden alle auf einmal und in einem nahem Zeitrahmen liquidiert werden müssten, ist extrem gering; jeder Unternehmer würde sich glücklich schätzen bei dieser Risiko-Ratio. Denn alle Schuldenberechnungen beziehen sich auf rein theoretische, fiskalische Implikationen auf der Grundlage von Gegenwartswerten, die im Insolvenzfall sofort und budgetwirksam werden. Niemand aber ist in der Lage, Zeitpunkt und Budgetgröße zu nennen, noch ist es im Minimus seriös, theoretische Maximalrisiken zur Beurteilung einer Situation heranzuziehen. Dass auf einmal nach heutigem Stand ca. 800 Milliarden Euro fällig werden, also alle GIPSIZ-Staaten unter der Last ihrer Notenbank-Darlehn zusammenbrechen, weil alle diese Darlehn sich als toxisch erwiesen haben und so das gesamte europäische Bankensystem zum Einsturz bringen, klingt unwahrscheinlich.
Welchen wirklichen Risiken das europäische Experiment ausgesetzt ist, hat der Brexit mit Stand heute, Juni 2019 gezeigt. Der Brexit, diese maximale Ansammlung von Datenlügen britischer Politiker über die Kosten der EU für die britischen Bürger, die bis heute unnachvollziehbarer Weise immer noch nicht ausgeräumt ist, war und ist ein staatspolitisches, britisches und kein europäischen Phänomen.

Zwar nicht vergleichbar in seiner rücksichtslos auf Eigennutz bedachten Argumentation wie von den Brexiteers ist Sinns (2015) Argumentation der Target- und Bargeldschulden der Eurozone, die wenig auf realen Fakten, darum umso mehr auf hypothetischen Annahmen basiert. Diese Hypothesen betreffen in erster Linie eine Situation, die den Austritt eines Landes wie Italien oder Spanien aus der EU vorstellte bzw. wie im Falle von Italien, politisch mit dem Austritt droht, was die Kapitalmärkte schon so sehr in Unruhe versetzen könnte, dass das europäische Bankensystem gefährdet ist. Dazu muss man heranziehen, dass das Target-2 System, das ist einer mehrstufigen Art von der Europäischen Zentralbank zusammen mit den Notenbanken der Euro-Länder zur Zahlungsabwicklung für grenzüberschreitende Geldtransaktionen und nur jene mit großen Beträgen entwickelt wurde, täglich im Schnitt 350.000 Zahlungen im Wert von 1,7 Billionen Euro, oder 90 Millionen Transaktionen im Wert von 440 Billionen Euro jährlich beinhaltet; allein deshalb ist ein Risiko von 1 bzw. 2 Billionen Euro als Gesamtrisiko nicht unbedingt erschütternd.

Ein anderer Aspekt, den Sinn eben nicht explizite berücksichtigt, den er aber kennen muss, ist, was wir als Investivkapital-Transfer eben eingeführt haben. Denn wie funktioniert das Target-System und was drücken die Target-Salden aus? Das immer wieder zitierte Beispiel wollen auch wir an dieser Stelle noch einmal skizzieren5. Was zwischen dem portugiesischen Unternehmer und dem deutschen Maschinenbauer über die Target-Salden bilanziert ist, ist eine geschäftliche Transaktion wie sie millionenfach weltweit vorkommt. Allein die Art der Bilanzierung scheint unterschiedlich, ist es aber nur formal, nicht in der Sache. Auch das Target-System hat Buchungspositionen der Art von Forderungen und Verbindlichkeiten. Diese bestehen, und die ist die eine Besonderheit dieses System, gegenüber der Europäischen Notenbank, aber nie zwischen einzelnen Notenbanken, wie dies z.B. in den USA und den District-Feds besteht. Und dies System ist angelegt wie jedes andere Bankensystem in einem Markt mit einer gemeinsamen Währung, so, dass sich die Konten bzw. Salden in einem überschaubaren Zeitraum von selbst ausgleichen.

Wenn also der Saldenausgleich ausbleibt, ist dies zwar ein Zeichen für ein Ungleichgewicht, was aber nicht notwendigerweise einen Ausgleich erzwingen müsste, was überdies auch nicht ratsam wäre. Denn nur in dem Fall dass ein Land aus dem Euro austritt, müsste prinzipiell die EZB bestehende Verbindlichkeiten ausgleichen, damit gegenüber dem ausgetretenen Staat ein ausgeglichener Saldo besteht, vielleicht ein „neue“ Verrechnungskonto eröffnet werden könnte, insofern das aus dem Euro ausgetretene Land weiterhin Geschäfte nun in eigener Währung mit der Eurozone zu tätigen gedenkt. Auch ist diese Glattstellung des Saldos notwendig gegenüber den verbleibenden Staaten im Euro, weil ein nicht glattgestelltes Konto auf den Kapitalmärkten als Zahlungsunfähigkeit interpretiert werden würde, was das Ranking des Eurosystems und den Wechselkurs des Euros negativ beeinflussen würde.

Die Schwierigkeiten mit der Bewertung der Kontenvorgänge im Target-System hängt einzig damit zusammen, weil das Euro-Experiment auf der Grundlage autonomer Staaten entstanden ist, die selbstverständlich ihre eigenen Notenbanken behalten haben, die auch deshalb wenigstens formal unabhängig gegeneinander operieren, das andernfalls das Bankensystem des Euros um eine allein bestimmende EZB-Zentrale herum konstruiert worden wäre; das wollten die Europa- und Euro-Konstrukteure, allen voran Frankreich und Deutschland aber nicht. Es entstand daher dieses mehrstufige Bankensystem, bei dem die die Geldtransfers formell in den einzelnen Staaten über Verrechnungskonten laufen, defacto aber alle in der EZB als Forderungen und Verbindlichkeiten quasi auf einem Kontenblatt verzeichnet sind.

Betrachtet man die Ungleichgewichte in den Target-Salden, dann wird man feststellen, dass diese nicht per se im System entstanden sind, sondern historisch nach der internationalen Finanzkrise. Seit etwas mehr als zehn Jahren laufen die Salden bei Forderungen und Verbindlichkeiten bei den Staaten der Eurozone immer weiter auseinander, aber nicht, um zwischenzeitlich Phasen der Konsolidierung einzulegen. Über 900 Mrd. Euro betrugen die Forderungen der Deutschen Bundesbank gegenüber der EZB im Jahr 2018, von denen man aber auch Verbindlichkeiten gegenüber der EZB in Höhe von knapp 400 Mrd. in Abzug bringen muss, wegen des extrem hohen Geldbedarfs der Deutschen.
Spaniens Notenbank saldiert ein Minus von knapp 400 Mrd. Euro, übertroffen von Italien mit 471 Mrd. Euro. Griechenland, Portugal und Frankreich zeichnen zusammen 186 Mrd. Euro. Positive Target-Salden haben auch die Niederlande und Finnland, mit Abstand am höchsten sind, gemessen am BIP, die Forderungen der Notenbank von Luxemburg, die bei 226 Mrd. Euro liegen.

Ab dem Jahr 2008 liefen die Konten auseinander und wie wir bereits detailliert ausgeführt haben, lag das oberflächlich betrachtet daran, dass Länder wie die heutigen GISPIZ Griechenland, Irland, Portugal, Italien und auch Zypern mit der Übernahme in den Euro zu sehr niedrigen Zinsen sowohl kräftig investieren und auch konsumieren konnten. Das investive Element wird von Sinn aus unerklärlichen Gründen fast gänzlich ausgeblendet und übrig bleibt dann natürlich lediglich noch ein Konsum auf Pump, der diesen Ländern die hohen Negativsalden eingebracht habe. Wir haben besonders den Fall Irlands analysiert und können demnach nicht von einer einheitlichen Ursache dieser ‚Überschuldungen‘ sprechen; Ähnliches gilt auch für Zypern.

Forderungen und Verbindlichkeiten sind keine Summen, sondern in den analytischen Blick gehaltene Zahlungsströme, die ein komplexes Wirtschaftsgeschehen in komplementären Begrifflichkeiten bzw. Kategorien zusammenfassen. Diese Zahlungsströme waren bis zum Jahr 2008 in angemessenen Zeiträumen immer wieder ausgeglichen worden. Investives und Konsumverhalten glichen sich dadurch aus, dass wie immer innerhalb marktwirtschaftlicher Wirtschaftstätigkeit genügend Liquidität durch Fremdkapital vorhanden war und dessen Verzinsung angemessen gelang. Niemand spricht und kann von einem Konsumverhalten auf Pump in dieser Form marktwirtschaftlich üblicher Transaktionen sprechen; dann lebte die ganze Welt von jeher auf Pump, was weder Nutzen in die Analyse der Vorgänge noch Klarheit und Erkenntnis dahin bringt. In Europa gab es Staaten, die den investiven und konsumtiven Bedarf ihrer Wirtschaft und Gesellschaft gedeckt haben und diese Länder fanden Investoren, die an der Akkumulation des Wirtschaftswachstums mittels Zinsgewinnen gerne sich beteiligten. Und dabei war es kein Zufall, dass gerade jene europäischen Länder wie Deutschland, traditionell exportorientiert, nun auch bei Kapitalverkehr in Richtung dieser ‚Abnehmer-Staaten‘ führend wurden.

Der Kreditfluss in die GISPIZ-Staaten kam daher nicht nur von außerhalb, sondern auch von innerhalb der EU. DIE GISPIZ-Staaten kauften nicht nur die Waren und Dienstleistungen der Exportländer, die so einen immer deutlicher anwachsenden Exportüberschuss und damit Positivsalden im Target-System aufbauten, sondern nahmen auch gerne die üppig vorhandene Überschussliquidität aus diesen Ländern in Form von Investivkapital bzw. Krediten für das weitere Wachstum ihrer Wirtschaften entgegen; und die Kapitalexporteure taten dies ja auch nicht ganz in selbstloser Manier, sondern für Zinserlöse, die diese Volkswirtschaften zu den Exporterlösen gerne hinzuzählten. Und die Target-Salden zeigten wenig an Ungleichheit, blieben bei diesen zirkulären Wirtschaftstätigkeiten ausgeglichen im angemessenen zeitlichen Rahmen. Weder kann dabei von einer Asymmetrie auf Seiten der Import- noch der Export-Länder gesprochen werden, weder traten die Exporteure auf wie Staubsaugervertreter, noch badeten die Importeure in Champagnerbädern. Asymmetrie in marktwirtschaftlichen Vorgängen zu behaupten, setzt eine völlig andere Perspektive auf die Marktwirtschaft voraus, mit der wir uns später beschäftigen werden, die aber hier als nicht gegeben angesehen werden muss, solange wir eben von Marktwirtschaft im gegenwärtigen, globalen Wirtschaftsgeschehen sprechen.

Asymmetrische Ungleichgewichte, die innerhalb der Marktwirtschaft prinzipiell ständig auftreten können, wurden erst spät sichtbar und begann wohl bereits vor dem Jahr 2013, vermutlich schon 2011 in Folge der internationalen Finanzkrise. Sie erreichte Europa in zweifacher Art, einmal als Interbankenkrise und als innereuropäische Kapitalverlagerung. Die Vertrauenskrise innerhalb des Euro-Bankensystems zeigte nicht überraschend die deutlichsten Veränderungen in jenen Ländern, die einen besonders hohen Kapitalbedarf hatten, und zwar einen Kapitalbedarf, der weit über den Anteil hinausgeht, der für Investitionen und Konsum benötigt wird. Dies wird deutlich daran, dass außereuropäische Investoren zwischen 2008 und 2018 netto kaum Kapital aus der Euro-Zone abgezogen haben, während im gleichen Zeitraum insgesamt 491 Mrd. Euro aus dem Euroraum abgezogen wurden, ein Großteil davon aus dem Süden, und dass diese Form der Kapitalflucht in den nordeuropäischen Banken begann und sich dann bei den Privatvermögen des Südens von Europa fortsetzte.
Dass daraufhin zum einen die Salden der Exportstaaten gegenüber den Importstaaten ins Positive liefen, kann wenig verwundern, ebenso wenig, dass die durch die exportierenden Staaten entzogene Liquidität ersetzt werden musste.

Was allenthalben als „Rettungsaktion“ des Südens diskutiert wurde und wird, impliziert, dass der Süden zuerst sich in Krisenstaaten verwandelte, wonach Rettungsaktionen folgen mussten. Das ist wenig nachvollziehbar, waren doch die Südstaaten, bevor sie zu Krisenstaaten wurden, begehrte Geschäftspartner des Nordens und blieben dies auch die ganze Zeit über, also durch die Krisenzeiten bis heute hindurch. So wurde auch in der Krise weiter Handel zwischen den Export- und Importstaaten getrieben, so kauften südeuropäische Unternehmen deutsche Waren und Güter, wurde die deutsche Exportmaschine nicht abgeschaltet, warum auch, und also wuchsen auch deswegen die Target-Salden.
Wir konnten darlegen, dass mit dem Ausbruch der Krise nicht nur die Kapitalflucht einheimischer Vermögen verbunden war, meistens eine Flucht in den europäischen Norden, dort in Immobilien wie z.B. Berlin und andere deutsche Großstädte, sondern die nordeuropäischen Exportstaaten fuhren ihre Kapitalien, die sie aus den Geschäften mit dem Süden erwirtschaftet und dort wieder reinvestiert hatten, zurück und lenkten die Kapitalströme um in die USA, nach Luxemburg und in die Niederlande; welche Summen in die britischen Kronkolonien umgelenkt wurden, weisss man nicht, es dürften aber erhebliche gewesen sein.

Mit dem Höhepunkt der Finanzkrise im Jahr 2011 erlaubte die EZB den Notenbanken der Eurozone zur Stärkung der Konjunktur gegen einen drohenden Abschwung, Anleihen aufzukaufen. Solche Programme sind durchaus üblich und im Rahmen keynesianischer Nachfragephilosophie, ob sie immer sinnvoll und auch dort zum erdachten Zweck wirksam sind, zumal, wenn es sich um internationale Krisenphänomene handelt, bleibt umstritten. Ein Effekt aber dieser Nachfragestärkung war, dass die nicht unerheblichen Kaufsummen für die Anleihenkaufprogramme in Richtung Frankfurt und Luxemburg liefen, weil dort die meisten Großbanken und Geldverwalter ihren Sitz haben und daher Frankfurt und Luxemburg Geld-Zentren sind, über die solche Transaktionen laufen.

Nimmt man Draghis Worte Ernst, dann waren neben den Überschüssen der Exportstaaten gegenüber die Importstaaten, neben dem Abzug von Krediten durch die Nordstaaten und neben der Verlagerung von Privatvermögen aus den Südstaaten Europas bzw. der sog. Kapitalflucht, hauptsächlich die Anleihenkaufprogramme der EZB an der asymmetrischen Ausprägung von Forderungen und Verbindlichkeiten der Target-Salden verantwortlich. „Alles andere ist zweitrangig“, sagte Draghi und bilanzierte einen Gesamterwerb von EZB Papieren in Höhe von 2,5 Billionen Euro seit 2015. Das entspricht in etwa den Kosten der deutschen Wiedervereinigung und wer hätte im Bewusstsein dieser Kosten die Wiedervereinigung abgelehnt?

Die Kosten der Eurozone sind weder nominell noch der Verteilung nach ein wirkliches Problem, welches mit dem Ausfall der Darlehn und Kredite realisiert sein würde. Die Autoren6, die diese Kosten allein aus Sicht von Schulden betrachten, deren Eintreibbarkeit oder Ausfallwahrscheinlichkeit ihre Bewertung untermauern, müssen allesamt sogar einräumen, dass die Ausfallwahrscheinlichkeit recht gering ist und widersprechen damit ihren drastischen Bewertungen, wonach der Euro vor einem Crash und die deutschen Bürger vor einer Staatspleite stehen. Die Target-Salden verschwinden nicht. Im besten Fall werden sie in Zukunft einmal ausgeglichen. Im ungünstigsten Fall bleiben sie in welcher Saldierungshöhe auch immer in einem Ungleichgewicht, aber das ist auch kein Beinbruch im Euro-System.

Die Target-Salden verschwinden nicht, ob nun ein Land wie Italien mit dem Austritt droht oder einen Austritt vollzieht. Am Brexit sieht man, wie schwer ein Austritt eines Landes aus der EU ist, das nicht einmal zur Eurozone gehört. Für Italien bedeutet ein Austritt aus dem Euro, dass es auch für die Zukunft in Europa mit der EU über die neuen Handelskonditionen verhandeln und sich einigen müsste und eine Drohung mit seinen Negativsalden im Target-System dabei wenig hilfreich wäre; Gleiches versucht gerade Großbritannien mit sehr geringen Erfolgsaussichten und der Drohung, seinen finanziellen Verpflichtungen über ca. 40 Milliarden BP gegenüber der EU nicht nachkommen zu wollen, erlaubte man den Briten nicht ihr beliebtes „Cherry-Picking“ im neuen Handelsabkommen. Träte Italien aus dem Euro aus, wäre es wohl binnen Wochen oder Monaten so Pleite, wie selbst die blühendste Phantasie unserer beliebten Nachbarn sich kaum vorstellen kann.

Wie wir ausgeführt haben handelt es sich bei den Target-Salden ihrer Struktur nach weder um Kredit- oder Schuldenbuchungen, sondern um Verrechnungssalden, die keinen „eigenständigen Risikofaktor darstellen.“7. Mit den Target-Salden ist also keineswegs ein Mechanismus verbunden, der es erlaubt, dass die GISPIZ-Staaten sich „unbegrenzt verschulden“ können und den Geber-Ländern des Nordens ein „unkalkulierbares Risiko“ aufbürdet, das erst dann verschwunden sein wird, wenn die Salden ausgeglichen werden. Diese landläufige Meinung einer Haushaltsführung hat aber sehr wenig strukturell gemein mit einem System einer Wirtschafts- und Währungsunion im „Normalbetrieb“, bei dem eine ganze Reihe unterschiedlicher Geschäfte mit sehr unterschiedlichen, finanziellen Transaktionen und Kapitalverkehrsformen an der Tagesordnung sind.
„Im TARGET-System werden Zahlungen von Kontoinhabern eines Landes an Zahlungsempfänger anderer Länder gebündelt und über die Zentralbank des Empfängerlandes an den Endbegünstigten weitergeleitet. Auf den verschiedenen Zentralbankkonten entstehen dadurch täglich Überschüsse oder Defizite. Der Saldo ist die Summe von Nettotransfers vieler verschiedener Grundgeschäfte über mehrere Jahre hinweg und kann somit nicht einzelnen Transaktionen zugeordnet werden. Folglich ist eine Identifizierung der „Ursache“ eines TARGET-Saldos extrem schwierig. Da die Summe der TARGET-Salden aller teilnehmenden Länder immer Null ist, kann man langfristige positive und negative Salden als Indikator oder Symptom anhaltender Vermögensverschiebungen zwischen Ländern interpretieren. Dies können Investitionen in Kapitalgüter, Warenhandel, Tourismus, Kapitalflucht oder das Nebenprodukt einer konventionellen oder unkonventionellen Geldpolitik sein. Nicht zuletzt können sie die Rolle von Orten und Ländern als Finanzzentren der Eurozone widerspiegeln. In einer Währungsunion im Normalbetrieb sind die TARGET-Salden daher lediglich Verrechnungssalden ohne weitere Implikationen, die aber nützliche Informationen über ökonomisch tiefer liegende, regionale Verschiebungen liefern können.“ (Krahnen 2018)

Sicherlich ist es ebenso wenig sinnvoll wie von Schuldenkonten im landläufigen Sinn zu reden, wie auf die Leistungsbilanzüberschüsse allein zu verweisen, die sich zeitweise in den Handelsbilanzen von Spanien und Italien summiert haben, um den Negativsalden im Target-System einen erkenntnisreichen Gegenwert zu setzen. Das eine hat mit dem anderen nicht unbedingt viel zu tun. Wenn Michael Heise Sinns Interpretation der Target-Salden so widerspricht, verkennt auch er, dass darin gewissermaßen wie ein Fußabdruck auch die Ungleichgewichte der Leistungsbilanzen beider Volkswirtschaften hinterlassen ist, ohne damit sogleich auch die Schuhgröße und den Träger der Schuhe genau erkennen zu können. Und natürlich hält Sinn zurecht auch gegen Peter Bofinger fest, dass in den Salden auch Noten aus der „Druckerpresse“ enthalten sind, mit denen aber nicht ein Missbrauch an Krediten für die private Wirtschaft der Krisenstaaten gefördert worden ist. Weder sind die Volkswirtschaften von Spanien und Italien böse Schuldner, die die guten Gläubiger missbraucht und zu Opfern des Euros gemacht haben, noch müssen die Nordstaaten des Euros fortan in Angst vor Saldenmissbrauch durch den Süden in die Zukunft blicken.

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[title]Begriffe – Anmerkungen – Titel – Autoren[/title]

antizyklische FiskalpolitikTransmissionsmechanismusSchwarzarbeit


1 Die Fiskalpolitik fand ihre rechtliche Kodifizierung in der Bundesrepublik Deutschland im Stabilitäts- und Wachstumsgesetz (StWG) von 1967.
2 Crowding-out.
1. Begriff der Analyse allokativer Wirkungen der öffentlichen Kreditaufnahme; Hypothese, die besagt, dass durch eine kreditfinanzierte Ausweitung der Staatsnachfrage private Nachfrage in kleinerem, gleichem oder vergrößertem Umfang verdrängt wird. Damit wird die expansive Wirkung eines Deficit Spending reduziert, eliminiert oder sogar überkompensiert.
2. Wirkungsverläufe: a) Direktes Crowding-out (Direct Crowding-out): Die durch Schuldaufnahme finanzierte Staatsausgabe substituiert unmittelbar eine entsprechende private Ausgabe.
b) Erwartungs-Crowding-out (Expectations Crowding-out): Die Privaten reagieren auf das staatliche Defizit mit einer Veränderung ihrer Ertrags- und Zinserwartung, damit zusammenhängend nimmt die private Investitionsneigung ab. Das Ricardianische Äquivalenztheorem gilt nicht (Ricardianische Äquivalenz).
c) Transactions, Price und Portfolio Crowding-out ergeben sich aus der verschuldungsbedingten Veränderung von Transmissionsgrößen wie Zinssätzen, Vermögen, Preisen. (Gabler Wirtschaftslexikon)

3 Drei-Säulen-Struktur. Damit wird die Trennung in die Säulen Genossenschaftsbanken (975 Kreditgenossenschaften und 1 genossenschaftliche Zentralbank), öffentlich-rechtliche Institute (403 Sparkassen und 9 Landesbanken) sowie 500 Kreditbanken und sonstige Institute (darunter 4 Großbanken, 189 Regional- und sonstige Banken sowie 188 Zweigstellen ausländischer Banken) bezeichnet.
Im internationalen Vergleich ist der Konsolidierungsgrad gering und der Anteil der öffentlichen Hand mit ca. 45 % hoch. Die Profitabilität der deutschen Banken ist im internationalen Vergleich unterdurchschnittlich – dies gilt für alle drei Säulen. Im Jahr 2003 betrug die Eigenkapitalrentabilität lediglich 0,7 %. (Wikipedia)

4 Murphy, R.: «Closing the European Tax Gap». Abrufbar unter NZZ Das Eine-Billion-Euro-Phantom
Friedrich Schneider; Andreas Buehn, Claudio E. Montenegro: Shadow Economies All over the World New Estimates for 162 Countries from 1999 to 2007 PDF
Siehe auch Webseite der Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament

5 Ein portugiesischer Bau-Mittelständler kauft bei einem deutschen Hersteller eine Maschine. Die Kaufsumme überweist er, seine Geschäftsbank belastet sein Konto und reicht die Transaktion im Target-2-System ein. Die erste Adresse ist dabei die portugiesische Notenbank, die nun das Konto, das die Geschäftsbank bei ihr unterhält, belastet und die Transaktion an die Bundesbank weitergibt, damit diese die Überweisungssumme an die Geschäftsbank des deutschen Verkäufers ausreicht, die so am Ende seinem Konto gutgeschrieben wird. Am Ende eines jeden Geschäftstags werden sämtliche Transaktionen bei der EZB erfasst – und zwar als Verbindlichkeiten gegenüber der Zentralbank bei den Notenbanken, die mehr Geld überwiesen haben, oder als Forderung bei den empfangenden Notenbanken, die Geld an „Endkunden“ weiterreichten. Vgl Tagesspiegel: Target 2 Billionen-Bombe oder Panikmache?. Abgerufen am 13.06.2019.
6 Neben anderen: Thomas Mayer, früherer Chefökonom der Deutschen Bank, Markus Krall, die Vermögensverwalter Friedrich & Weik, die Bücher schreiben mit Titeln wie „Der Crash ist die Lösung“.
7 Jan Pieter Krahnen: TARGET-Ungleichgewichte sollten nicht begrenzt werden, sondern könnten eine institutionelle Reform der Eurozone erfordern. In: LOEWE-Zentrum – Sustainable Architecture for Finance in Europe, abgerufen 15.06.2019


Jan Pieter Krahnen: Globale Finanzmärkte und Europäische Währungsunion II, CFS-Kolloquium 41, Frankfurt: Knapp Publisher 1999 (Eds. Krahnen, J. and B. Rudolph)
Jan Pieter Krahnen: Finanzmärkte, e-commerce und Cross-border financial integration – Trends, strategies and lesons learned, CFS-Kolloquium 44, Frankfurt: Knapp Publisher 2002 (Ed. Krahnen, J.)


Jan Pieter Krahnen (*31. August 1954 in Wuppertal)

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