Mit zu den Rahmenbedingungen einer neuen, modernen Politischen Ökonomie zählt auch die Reflexion über ein Phänomen, welches zunehmend Sorgen macht, sogar in politischen Kreisen: die extreme und öffentlich ausgetragene Politisierung der Geldpolitik. Wenn ein politischer Führer wie der türkische Präsident Erdogan Notenbankchefs einstellt und entlässt wie Saisonarbeiter auf den anatolischen Baumwollfeldern, dann mag das ja noch abgetan werden mit ein paar lässigen Vorurteilen gegenüber dem politischen Stil, den die Türkei historisch betrachtet bis heute ausgeprägt hat. Und sicherlich war dabei der Wechsel von einem laizistischen zu einem religiösen Staat nicht ganz bedeutungslos. Bedeutung aber bekommt dieses Verhalten bedenkt man, dass die Türkei immerhin die dreizehntgrößte Wirtschaftsleistung der Welt erbringt und Nato-Partner ist.
Noch mehr an Brisanz erhält das Phänomen durch sein geradezu duplizierendes Pendant in den USA. Donald T. wie sein türkischer Kollege Erdogan mischen sich aktiv in die eigentlich unabhängigen Notenbanken ihrer Staaten ein, was nicht so ganz üblich war, zumindest nicht in dieser öffentlichen Form. Wenn Staatspräsidenten illegitimes oder zumindest politisch problematischen Verhalten öffentlich zeigen, haben sie bereits den grundlegenden Respekt vor dem Souverän, dem Volk, verloren.
Beide drängen unverblümt ihre Notenbanken zu möglichst niedrigen Zinsen mit der Behauptung, dies würde zu einer geringeren Inflation führen und damit zu einer Belebung der Wirtschaft mit entsprechenden Wirkungen auf den Arbeitsmärkten führen. Die Behauptung ist mittlerweile wiederlegt und mit dieser empirischen Ungültigkeit auch die Folgen dieser Geldpolitik. Beiden Autokraten geht es nicht um die Wirtschaft allein, sondern um ihre Wiederwahl. Dabei hilft in den USA ein steigender Aktienmarkt, in der Türkei nur noch ein fester Glaube an Hilfe von ganz oben.
Die unverhohlene Einflussnahme der Politik auf die Notenbanken soll hier nur exemplarisch und plakativ dargestellt sein. Diese Darstellung legt ihr Augenmerk auf die Art und Weise, wie die Einflussnahme geschieht. In den USA ist der Streit zwischen Oval Office und Notenbankchef Powell besonders prekär, hat sich der Notenbankchef doch in eine Situation drängen lassen, aus der er und sein Institut nicht mehr unbeschadet herauskommen. Der double bind dabei ist, lenkt die Fed ein und gibt dem Einfluss nach, wirkt sich das direkt auf die Aktienmärkte aus. Das sehen wir zur Zeit am Dow Jones und am S&P. In den USA werden Kursgewinne an den Börsen, vor allem an Wall Street gleich gesetzt mit Wirtschaftswachstum und gerne dem Präsidenten bei Wahlen direkt gutgeschrieben.
Senkt Powell – was nach seiner jüngsten Ankündigung für Ende August bzw. September wenig möglich scheint – die Zinsen nicht und stockt das US-Wirtschaftswachstum, wofür alle Indikatoren sprechen, wird er und sein Institut sofort zum Sündenbock und seine Geldpolitik für falsch erklärt. Im ersten Fall streicht Trump die politische Prämie ein wie auch im zweiten; für die Fed bleibt nichts, als ein irreparabler Schaden am Ruf ihrer Unabhängigkeit. Aber die Unabhängigkeit ihrer geldpolitischen Entscheidungen hat sie bereits vor vielen Jahren verloren.
Wir erkennen, die Politische Ökonomie ist im Zentrum des Kapitalismus angekommen und hat auf der Bühne der Wall Street Platz genommen. Hier auf der Bühne des Willens zur Macht werden die Machtphantasien Wirklichkeit. Im Zentrum der politischen Machtphantasien – vergleiche hierzu die ausführliche Diskussion zum Milgram-Experiment in Kap. 6/Macht bewusst – steht nicht die Vorstellung demokratischer Machkontrolle; im Gegenteil. Demokratie ist, wie gesagt, das erste Opfer der Politischen Ökonomie. Der unbedingte Wille zur Macht will die umfassende Kontrolle des Staates über seine Bürger. Im Nachgang des Putschversuchs in der Türkei in der Nacht vom 15. auf den 16. Juli 2016 konnte man das Ende der Demokratie und des Rechtsstaates minutiös in allen Facetten verfolgen. Die Demonstrationen in Hongkong gegen das umstrittene Auslieferungsgesetz zwischen Mai und Juli 2019, die auch weiterhin noch andauern zeigen das Bewusstsein vieler Hongkong-Chinesen, wie wichtig es ist, gegen ein Gesetz aufzubegehren, das es den Behörden Hongkongs erlauben würde, von China beschuldigte Personen an die Volksrepublik auszuliefern und einer Parteidiktatur, die nicht scheut, das bevölkerungsreichste Land der Erde mit über 1,3 Milliarden Menschen zu überwachen und mit einem System des Social Scorings zu disziplinieren und zu sanktionieren.
Der wirtschaftliche Faktor dabei ist nicht mehr vom politischen Faktor zu trennen und deshalb kommt auch keine Analyse der Digitalwirtschaft, wie wir anschließend diskutieren werden, ohne eine Theorie von Machtvorstellungen und tatsächlicher, politischer Macht aus. Ein Vehikel bzw. Instrument zur Ausübung des Willens zur Macht ist also die Politisierung der Geldpolitik. Je direkter, umfassender und öffentlicher diese Politisierung gelingt, sicherlich auch über den Weg der präsidentiellen Bestimmung der Notenbankchefs, desto günstiger wirkt sich dies auf der Seite der politischen Bilanz auch aus. Dabei ist eine Bedingung allerdings zu beachten: Geldpolitik muss sich in wirtschaftlichem Wachstum auch niederschlagen. Entweder, indem in einer wirtschaftlichen Krise oder einer Rezession eine Wende zu einem Wachstum stattfindet, oder direkte Wachstumseffekte, auch gegen eine drohende Rezession stabilisierende Effekte verbucht werden können. Auf den ersten Fall setzt Erdogan, auf den zweiten Donald T.
Im Vergleich zur Türkei und den USA ist die Politisierung der Geldpolitik in der EU noch nicht ganz abgeschlossen, wiewohl weit fortgeschritten. In den EU-Verträgen ist die Unabhängigkeit der EZB stark verankert, ihre institutionelle Unabhängigkeit aber, die sich vielen Jahrzehnten seit Bretton-Woods im Rahmen der allgemeinen institutionellen Autonomien aller Notenbanken in demokratischen Gesellschaftssystemen weltweit behauptet hat, ist mehr als bedroht. Dass Notenbanken auch in Demokratien keine Garantie mehr haben, ihre Entscheidungen nach ihrem Mandat autonom zu treffen, zeigt die Entkoppelung von politischer Macht und sozialer Machtkontrolle.
Auch in Europa geht die Entwicklung der Politisierung der Geldpolitik mit zunehmendem Tempo voran. Ein Indiz für diesen Trend ist sicherlich die Benennung von Christine Lagarde als neue EZB-Präsidentin sowie Luis de Guindos als deren Vizepräsident. Damit stehen zwei nicht aus dem Lager der Notenbanker, sondern zwei frühere Wirtschafts- und Finanzminister von Frankreich und Spanien an der Spitze der EZB; mehr Politik im Direktorium geht kaum.
Man mag auch weiterhin der Meinung sein, die EZB werde auch in Zukunft weitgehend politisch unabhängig entscheiden. Aber dies war, wie wir gezeigt haben, weder in den vergangenen Jahren der Fall, noch wird dies weniger in den kommen Jahren der Fall sein, eher mehr. Der Einfluss der Politik auf die Notenbank ist nämlich kein solitärer Akt, sondern versteht sich aus der Verflechtung des politischen Wettbewerbs, die in den wechselseitigen Auswirkungen der Währungspolitik sichtbar wird. Diesen Wettbewerb haben wir beleuchtet und in vielen Facetten beschrieben. Nun muss eine Theorie der Politischen Ökonomie nicht mehr nur das Hauptaugenmerk darauf richten, welche direkten Auswirkungen etwa der Notenbankpolitik innerhalb vernetzter Strukturen auf Zinsen und Inflation hat. Gewiss hätten die Banken der GIPSIZ-Staaten außerhalb der Eurozone und ohne diese Notenbankpolitik der letzten Jahre nicht die gleichen Konditionen erhalten. Sie hätten auf den Kapitalmärkten so hohe Zinsen zahlen müssen, dass sie und die Staatshaushalte unter weniger günstigen Bedingungen nicht zu finanzieren bzw. zu refinanzieren gewesen wären. Ihr Hauptgläubiger bei diesem Deal, die EZB, hätten diese Banken im Falle marktwirtschaftlicher Bedingungen ein wesentlich geringeres Risiko, als das eingetretene zumuten müssen. Nur, dass das Risiko, dass die EZB durch die Bereitstellung maktunüblicher Konditionen eingegangen ist, ist ein sog. systemisches Risiko, welches in diesem Zusammenhang vor allem, neben anderen Risiken, eine Risikoübertragung auf die Bürger der Eurozone beinhaltet.
Als Hauptargument für die Übernahme höherer Risiken der GIPSIZ-Banken bemüht die EZB vor allem den Vorwurf, die Märkte seien schuld daran, dass sich die Bedingungen für Interbankenkredite für diese Staaten zu deren Ungunsten verschlechtert habe, so sehr, dass die EZB nun ihrerseits jene Bedingungen herstellen müsse, die marktkonforme Gültigkeit hätten. Dies glaubt ihr niemand und die EZB sich selbst wohl auch keine Sekunde. Märkte, im Übrigen, können sich nicht irren. Märkte sind, was sie sind und vor allem keine Humanoiden, keine menschenähnlichen Organismen mit einer gemeinsamen Motivation. Ein Markt ist ein Begriff, also eine hoch-abstrakte Form der Betrachtung eines Phänomens, hier von millionenfachen Verhaltensweisen in wirtschaftlicher Absicht1, die alle individuellen Motivationen folgen, auch solchen, die nicht immer und ganz dem wirtschaftlichen Postulat in Reinheit entsprechen und zum Teil auch miteinander in der ein oder anderen Art ähnlich sein können. Begriffe können sich nicht irren, sondern die darin abstrahierten Betrachtungsweisen können falsch sein. Deshalb ist es auch falsch, vom Irrtum eines Marktes zu sprechen oder gar damit argumentieren zu wollen.
Aber warum bemüht die EZB sich so leichtfertig in eine Argumentationsfalle? Zwei Gesichtspunkte sollten dabei beachtet werden. Der erste betrifft den Machtfaktor der Geldpolitik, der zweite dessen politischen Effekt. Der Machtfaktor der Geldpolitik liegt in der Vorstellung, die Kapitalströme auf den Kapitalmärkten effektiv lenken zu können. Bevor man sich mit dieser Frage beschäftigt, muss man aber festhalten, dass die Vorstellung einer Kapitallenkung selbst, also an sich schon mit der Vorstellung einer Marktwirtschaft grundsätzlich nicht kompatibel ist. Marktwirtschaft heißt ja gerade das Gegenteil davon, dass nämlich die Kapitalströme und damit auch die Verteilung der Produktion, sowohl der Faktoren, der Größe wie des Standortes nach, allein den auf den Märkten bestehenden wirtschaftlichen Kalkülen folgt wie den Vorstellungen von Wirtschaftlichkeit auf den Feldern der neuen Märkte, also den dort bestehenden Bedingungen wie etwa Bildung, Lohnniveau, materielle und technologische Ressourcen, Infrastruktur etc.
Kapitalallokation ist daher immer eine mehr oder weniger genau Betrachtung eines bestehenden oder neuen Marktes und eine ganz persönliche Chancenabwägung und Risikoentscheidung von Anlegern bzw. Investoren. Gelingt der Markteinstieg liquiden Vermögens, spricht man von effizienter Kapitalallokation; im anderen Fall von einem Kapitalverlust oder Flop. Post festum also bewerten wir solche Entscheidungen, die aber ante festum nur getroffen werden, wenn Chancen über Risiken liegen. Wenn solche Entscheidungen durch eine Gesellschaftsform, die jedem Bürger prinzipiell solche ermöglicht, getroffen werden, haben wir das, was Karl Marx als „Entfesselung der Produktivkräfte“ im Grundsatz einräumen musste. Denn ohne diese grundsätzliche Freiheit der Kapitalallokation ist eine solche Entfesselung nicht möglich; was man auch im Vergleich zwischen Kapitalismus und bürgerlichem Gesellschaftssystem im Gegensatz zu Kommunismus resp. Sozialismus historisch mittlerweile als erwiesen betrachten darf.
Es ist daher keine grundlegende Frage, ob die EZB durch ihre Geldpolitik die Kapitalströme auch wirklich in die richtige Richtung gelenkt hat und lenken wird. Das ist zwar nicht unwichtig, betrifft aber zunächst einmal die wesentlich grundsätzlichere Frage, ob diese Lenkungsvorstellung und Praxis nicht an sich schon die Prozesse der Marktwirtschaft in der Eurozone und darüber hinaus negativ beeinflusst; was sie tut. Der Interventionismus der EZB ist somit höchsten legitimiert als ein Eingriff in die Marktwirtschaft nach Keynesianischer Grundauffassung, nach der ein Staat die Aufgabe, ja die Pflicht hat, bei wirtschaftlichen Krisen einzugreifen und ein Gleichgewicht wiederherzustellen zwischen Arbeitslosigkeit, Preis- bzw. Lohnentwicklung und Inflation. So hat die EZB auch stets ihre Intervention gerechtfertigt mit dem Hinweis, dass die Kapitalmärkte die Transmission von Kapital in die Eurozone nicht nach marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten sicher gestellt hat, um nicht in Krisen zu geraten, was die geldpolitischen Maßnahmen der Notenbank gewissermaßen provoziert hat.
Der zweite Aspekt, der politische Effekt dieser Geldpolitik genannten Fiskalpolitik der Notenbank wird nun darin sichtbar, dass diese Notenbankpolitik in eine Sackgasse geführt hat, aus der weder die europäische noch die amerikanische Form der Politischen Ökonomie herauszukommen scheint. Dies zeigt erstens, sie ist kein „lokales“ Phänomen und zweitens, sie ist nicht beherrschbar. Politik ist in der Geldpolitik am Point of no Return angekommen. Sie ist bislang der Überzeugung gefolgt, dass grundlegende ökonomische Zusammenhänge wie dass niedrige Arbeitslosigkeit zu steigenden Preisen führen, obsolet sind. Wir sehen Europa und die USA dem Schicksal Japans folgend und sich darauf vorzubereiten, dass niedrige Zinsen nicht mehr Wachstum, sondern niedriges Wachstum bedeuten und sogar zu sinkenden Preisen, also zu Deflation führen kann.
Während die Notenbanken der beiden großen westlichen Wirtschaftsräume mit noch mehr geldgetriebener Fiskalpolitik darauf antworten, gibt es in der Ökonomik nicht überraschend bereits erste Ansätze von Überlegungen, aus dieser Sackgasse sich herauszudenken; alle bislang relativ hilflos. Denn alle neuen Ideen reproduzieren den Fehler, dass mehr Geldpolitik zu den gewünschten Ergebnissen führt, aber just das Gegenteil ist der Fall. Das ist die Sackgasse oder der double bind der politisch motivierten Geldpolitik, dass sie immer weniger erreichen, je mehr sie aktiv wird. Da kommt es nicht zufällig auf Ideen, wie man das Bargeld abschaffen kann, um Minuszinsen aus dem Weg zu gehen. Oder eine andere Idee, doch gleich das japanische Modell ganz zu übernehmen und niedrige Zinsen am langen Ende der Zinskurve als gewünschtes Ziel auszurufen. Ganz und gar florierend schizophren ist die Idee, die nicht neu ist, aber in ihrer Anwendung zu blühenden Phantasien führt; man nehme doch das ganz Geld, dass die Notenbanken in den Kreditkreislauf pumpen, um Kredite möglich zu machen, und werfe es als „Helikoptergeld“ gleich über die Bürger des Landes aus. Letztlich wäre da noch der Vorschlag, die Inflationsziele, selbst die mit Korridor, einfach ganz aufzugeben und sich lediglich nur um möglicherweise galoppierende Preise zu kümmern. Das alles und mehr davon grassiert durch den wissenschaftlichen Dschungel und hat sich bereits kräftig darin verirrt. Der Irrgarten ist perfekt angelegt, einen Ausgang hat man nur leider bei der Realisierung vergessen.
Am Ende bleibt das Problem, dass man den Inflationserwartungen kaum auf die Schliche kommt. Nimmt einmal die Inflationserwartung ab, ist man schneller als man möchte schon in einer deflationären Phase; und die kann lange anhalten mit den ganzen, damit verbundenen Problemen, deren eins, Lohnkürzungen schwer nur zu realisieren sind; jedenfalls müsste man wohl vorher die politische Klasse abschaffen. Lohnkürzungen sind schwer zu realisieren und haben selten in der Geschichte der Marktwirtschaft stattgefunden, ist die innere Triebkraft der Marktwirtschaft ja Wachstum. Wäre die Marktwirtschaft universell, also alle Segmente ihren Geltungsbereich umfassend, müssten Lohnkürzungen so alltäglich und normal sein, wie Preissenkungen bei Tomaten; aber so ist es nicht.
Deflation hat gewiss Nachteile, ist aber wie das japanische Modell zeigt, so unmöglich nicht, selbst über längere Phasen zu bestehen. Die Nachteile der Deflation liegen nicht nur faktisch in der konstatierten Schwierigkeit, bei sinkenden Preisen ebensolche Lohnanpassungen zu realisieren; in Deutschland mit der Geschichte der Tarifpartnerschaft sogar noch schwieriger, als man vermuten könnte, wäre ja eben die Tarifpartnerschaft genau das Modell, das diese Anpassungen von Erwerbslöhnen und Preisentwicklung erleichtert. Nimmt man marktwirtschaftliche Kriterien ins Kalkül, spräche wenig dagegen, bei sinkenden Preisen auch Lohnsenkungen unter Tarifpartnern zu vereinbaren. Allein, politische Kalküle sprechen dagegen.
Dorfman, Solow und Samuelson haben nachgewiesen, dass der Punkt an der Schnittstelle zwischen Kapitalentwicklung und Lohnentwicklung bzw. Konsum eines der Grundprinzipien der Ökonomik markiert. Die freie Kapitalallokation oder anders gesagt, ein freier Kapitalmarkt ist die bislang erwiesenermaßen effizienteste Voraussetzung dafür, dass das erworbene Vermögen einer oder mehrerer Generationen auf den Kapitalmärkten die beste Form der Liquidierung findet. Der Kapitalmarkt ist also ein Markt, auf dem eine Vielzahl konkurrierender Verwendungsmöglichkeiten um liquides Vermögen werben und die Gesamtsumme des zur Verfügung stehenden Kapitals eine pareto-optimale Verteilung findet. Gleichwohl wir vorher einige Bedenken zur Pareto-Effizienz formuliert haben, hat diese Regel da, wo ihre Anwendung den Kapitalstock einer Gesellschaft betrifft, klarlegende Vorteile. Denn sie beinhaltet, dass die Erhaltung des gesellschaftlichen Kapitals durchaus nach „vernünftigen“ Regeln des Marktes so geschehen kann, dass Lohn- und Konsumzuwächse der heutigen Generation nicht auf Kosten der nachfolgenden Generation stattfinden müssen. Dafür aber ist Bedingung, dass Zinsaufschläge sich nach Marktgegebenheiten entwickeln, also in funktionierenden Märkten, die keine externen Eingriffe etwa durch eine nicht krisenbedingte Geldpolitik über längere Zeiträume hinweg erlaubt. Wenn eine Generation Teile ihres Vermögens liquidiert, dann tut sie dies unter Bedingungen konkurrierender Verwendungsmöglichkeiten und zwar so, dass ihr Vermögen über die Zeit hinweg erhalten bleibt, eingerechnet der Inflation als Grenzertrag des liquidierten Vermögens. Das ist vernünftig, denn wer alloziert schon sein Vermögen, um es zu verringern; das diente auch niemandem.
Aber wie wir sahen, hat die Politische Ökonomie in Form der aktuellen Geldpolitik in der Euro-Zone eine drastische Verringerung potenziell liquidierbaren Privatvermögens zum Resultat. Frei gedacht ist dies auch eine Form der „Lohnkürzung“ bzw. Konsumeinschränkung, die sich in die nächste Generation als nicht pareto-optimales Vermögenserbe fortsetzt. Vom wirtschaftlichen Gesichtspunkt also aus betrachtet, ist die sanfte Enteignung der Folgegeneration bereits im Gange, da nicht nur weniger Sparvermögen, sondern auch deutlich geringer effizient allozierbares Kapital vorhanden ist bzw. investiert ist. Wenn die EZB derart massiv in die marktkonforme Zinsentwicklung geldpolitisch eingreift, ist genau dieser Eingriff verantwortlich für ein strukturelles Marktversagen und nicht umgekehrt.
Wir haben die Rettungsschirme aus dieser Form der Marktmanipulation herausgenommen, da sie zumindest noch strukturell dem keynesianischen Kriseninterventionismus entsprechen. Die anderen Programme, allen voran die als Outright Monetary Transactions (OMT) bezeichneten geldpolitischen Transaktionen haben aber eben diesen Charakter, die Zinsentwicklungen in allen Staaten der Eurozone zu steuern und zu vereinheitlichen und damit den Marktmechanismen entgegenzuwirken. Zielrichtung der Geldpolitik war und ist, den nach Auffassung der EZB übersteigerten Risikobewertungen von Anlegern in Bezug auf die Staatstitel einzelner Länder entgegenzuwirken. Das kleine Adjektiv: übersteigert trägt also die ganze Last der Legitimität der Geldpolitik sowie die Beweislast ihrer Wirksamkeit. Es hat beides nicht ausgemacht.
Die Geldpolitik war und ist auch höchst richterlich bestätigt insofern illegitim, als sie eine Form der Politisierung mit marktmanipulativem Charakter beinhaltet, die natürlich durch kein Mandat gedeckt ist. Und auf die ausgebliebene Wirksamkeit dieser Notenbankpolitik im Sinne der Geldwertpflege und der Investitionsförderung haben wir hingewiesen.
Aber eine weitere Verwerfung als Auswirkung dieser Politik muss zumindest erwähnt werden. Wie immer sind auch dieses Mal sofort Experten der Kapitalmärkte zur Stelle, um aus dieser misslichen Situation niedriger Zinsen Auswege für große Vermögen zu finden. Anlagestrategen und Vermögensverwalter haben für ihre reichen Kunden die sog. Family Office Strategien wiederentdeckt und bereiten ihre Investments nach krisenfesten Aspekten aus. Gerade aktuell erleben wir, wie die Anlageexperten vermehrt ihren Kunden Immobilienfonds in die Depots legen. Dabei bieten sie durchaus sogar noch Rundum-Service, indem sie nicht nur Wohnhäuser in mittelgroßen deutschen Städten mit Bedarf an Sanierung kaufen, sondern sogar noch die hochspezialisierten Handwerker in Serie beschäftigen, die solchen Sanierungen durchführen.
Dass dabei ein Effekt neben dem außerbörslichen Wertzuwachs der Objekte auch noch zutage tritt, die deutlichen Mietsteigerungen in den Städten und mittlerweile bereits auch in den Rand- und Landlagen, beklagen nicht nur Mieter. Die Gentrifizierung erreicht mittlerweile ganze Regionen und nicht nur Großstädte und deren Umland.
Gentrifizierung, also der Bau oder die breite Umwandlung von Wohnraum in Luxusobjekte ist kein Indikator eines Marktverhaltens, eines gesunden Marktes; wir werden später darauf zurückkommen. Im Verein mit Hedgefonds werden Anleger dahingehend beraten, ihre Portfolios auf eine schwierigere Marktphase für Kapitalanlagen vorzubereiten, indem solche Anlagen gewählt werden, die zur Stabilisierung und zum Werterhalt des Portfolios beitragen. Dazu wählt man besonders langfristige Anlagehorizonte bei schwächer werdenden Renditen. Wer also nicht unbedingt schnell wachsende Renditen braucht, wer der Grenzwert seiner Rendite bei den niedrigen Zinsen ausmacht, der wählt als Investor gerade solche Anlagen, die zwar weniger liquide, dafür aber langfristig sehr wertstabil sind.
Wir sehen unschwer, dass die Niedrigzinspolitik einen recht kurzen Weg zur Beeinflussung der Kapitalmärkte und der Vermögensallokationen hat. Dazu darf man auch ruhig die Verschiebungen auf den Aktienmärkten hinzurechnen. Hier werden auch eher langfristige Renditebringer bevorzugt in Form von aktiv gemanagten, passiven, börsengehandelten Fonds, wie etwa die ETFs genannten (Exchange-Traded Fund) Investmentfonds. Die Folge ist, dass erhebliche Kapitalien aus den zwar hoch liquiden, aber renditeschwachen US-Anleihen-Märkten ihren Weg so in die Schwellenländer finden, oder intern der US-Finanzmärkte in die Aktienmärkte. Auch andere Formen der relativen Wertsicherung privater Vermögensportfolios wie etwa Private-Equity Beteiligungen nehmen bei den Anlageentscheidungen in den Family Offices zu. Alles in Allem sind das Auswirkungen der Politischen Ökonomie und keine von Marktprozessen.
So sind auch die Eingriffe in den Wohnungsmarkt fatal. Das sieht man auch an der sehr unterschiedlichen Entwicklung der Preise für Wohnungseigentum auf der einen und den Mieten auf der anderen Seite. Neuvertragsmieten verändern sich nach den starken Anstiegen in den letzten Jahren kaum noch während Eigentum immer teurer wird, sowohl bei Wohnungen und im Hauskauf. Koppelt sich die Entwicklung der Kaufpreise aber von der Entwicklung der Mietpreise ab, stellt sich die Frage, was diese Entkoppelung ausgelöst hat? Ein kurzer Blick in den Terminkalender macht dies deutlich. Seit 2011, also seit dem Beginn der Niedrigzinspolitik sehen wir die Kluft beider Preise sich vertiefen. Und wie wir ausgeführt haben, hat dieser Prozess seinen Anfang darin genommen, dass der große Anlagedruck bei Investoren und vermögenden Privatpersonen zur Immobile gefunden hat, als Investment oder als selbstgenutzte Immobilien, weil auf den Anleihemärkten wenig attraktive Alternativen zu finden waren. Und da die Pareto-Regel auch die Kalkulation miteinschließt, besser im Vergleich zu anderen Anlagen geringere Vermögensverluste sogar zu akzeptieren, werden in diesem Anlagesegment sogar höhere Risiken bei der relativen Vermögenssicherung eingegangen, als sonst üblich. Wenn das Kalkül einer beginnenden Krise beginnt, zählen nur noch relative Verlustvorteile und nicht mehr relativ sichere Gewinne.
Aber noch ist der Kauf von Wohnimmobilien im Vergleich zu sicheren Anleihen durchaus attraktiv. Die Schweizer Bank UBS berechnet den Unterschied zwischen einer Rendite einer zehnjährigen Bundesanleihe und der durchschnittlichen Rendite für Wohnimmobilien mit 3,4 Prozent; so groß war die Differenz noch nie. Und das treibt natürlich die spekulativen Blasen, die aber gerade nicht so einfach in der Spreizung von Eigentum und Mieten allein liegen. Diese spekulative Spreizung hat zwar zu schlimmen Preisübertreibungen vor allem in den deutschen Großstädten geführt, aber wie vermerkt auch zu Kapitalverschiebungen und verändertem Investorenverhalten.
Eine Auswirkung ist die dramatische Belebung des sog. Airbnb Marktes mit den vielfältigen Verdrängungs- und Gentrifizierungserscheinungen. Die Zuwächse sind stark angestiegen und die illegalen Formen der Vermietung mit Auswirkungen auf die Wohnungsmärkte sowie die Hotellerie ist von Berlin bis New York mittlerweile als ein riesiges Problem erkannt worden. Wenn solche Quer- und Cross-Verschiebungen von Kapital stattfindet, wird es unübersichtlich auf den Märkten. Und es wird gefährlich, da eine Marktkontrolle zwischen Mieten für dauerhaft genutzten Wohnraum und zeitweise untervermieteten Wohnraum ebenso nicht mehr gegeben ist wie die kommerzielle Nutzung der Airbnb-Plattform in Konkurrenz zu Hotelvermietungen.
Es gibt bei Airbnb vermietete Apartments, die das ganze Jahr über als illegale Quasi-Hostels betrieben werden. Ein einziger Nutzer habe nach einer veröffentlichten Untersuchung von Bundesanwalt Eric Schneiderman allein 272 Wohnungen angeboten und damit 6,8 Millionen Dollar umgesetzt. Alleine durch ihn habe Airbnb fast 800 000 Dollar an Gebühren eingenommen2. Der Stadt New York hat nach dieser Untersuchung das als Mitwohnportal gegründete Unternehmen allein einen Schaden von über 30 Millionen US-Dollar durch ausgebliebene Hotelsteuern in einem Jahr gekostet. Dabei ist nicht so sehr die Höhe des Schadens beeindruckend, sondern die neue Qualität der Schadenserzeugung. Die ist eine Folge der Kapitalverschiebung in die Digitalwirtschaft, denn ohne diese wäre Airbnb weder generell möglich geworden noch gäbe es die Plattform als eins der größten Investments durch Fremdkapital auf der Welt. Und diese Transformation der Kapitalströme ist schlecht zu kontrollieren, noch zu bekämpfen, da der Vorwurf, solche Plattformen wie Airbnb und Uber seien illegal schwer justiziabel, da entsprechende Gesetze noch nicht einmal vorhanden sind. Derweil werden Fakten geschaffen. In Barcelona z. B. müsste man ganze Straßenzüge bis Stadteile enteignen und in Wohneinheiten rückabwickeln, wobei niemand zur Zeit weiß, wie das gehen soll. Berlin, London, Paris, New York u.v.a.m. haben das gleiche Problem, welches aus der Idee der sog. „Sharing Economy“ stammt, die einst das Teilen zum Prinzip mit wirtschaftlichen Vorteilen der Be-Teiligten machen wollte, heute aber von nach Profit strebenden Mega-Unternehmen – nach der Marktkapitalisierung – dominiert wird.
Dabei ist das Prinzip der Vermittlung von Privatautos als Quasi-Taxis, von Apartments, Zimmer oder Betten usw. noch kein illegales Geschäftsmodell. Airbnb wurde erst im Jahr 2008 im kalifornischen Tech-Mekka Silicon Valley gegründet und hat seitdem eine rasante Entwicklung genommen. Noch bis Ende des ersten Quartals 2019 erwartete das Unternehmen, insgesamt 500 Millionen Unterkünfte seit der Gründung im Jahr 2008 vermittelt zu haben. Allein seit September 2018 gezählt, wären das 100 Millionen zusätzlich vermittelte Unterkünfte. Obwohl das Unternehmen nicht über Kennzahlen wie Umsatz Informationen herausgibt. Allerdings teilte das Unternehmen CNBC mit, im dritten Quartal 2018 einen Umsatz von einer Milliarde US-Dollar erzielt zu haben. Dank verschiedener Kapitalrunden in den beiden Vorjahren 2016 und 2017 wird Airbnb mit über 30 Milliarden US-Dollar bewertet. Und dabei ist der IPO des Unternehmens noch ausstehend. Er soll noch in 2019 stattfinden und zählt heute schon zu den heiß ersehntesten Börsengängen des Jahres, trotzt Uber und Slack. Eine Politische Ökonomie, die diese Kapitalverschiebungen und Cross-Over-Capital Prozesse auf den Finanzmärkten nicht hinreichend würdigt, wird sich schwertun.
Bedenkt man, dass die Verschiebungen auf den Finanzmärkten der USA allein ein Vielfaches der Realwirtschaftsleistung betragen, kann und muss man sich die Dimensionen neu vorstellen, die von den Auswirkungen der Niedrigzinspolitik direkt und indirekt betroffen sind. Dagegen sind im Vergleich die europäischen Target-Salden als Ausdruck der Kapitalverschiebungen, provoziert durch die europäische Politische Ökonomie eher winzig. Bedenkt man die Kapitalverschiebungen zusammen mit den neuen Anlageklassen, dann muss man keinen Zweifel daran haben, dass die Geldpolitik der Notenbanken auf absehbare Zeit ein zusätzliches Element für die Spreizung des Wohlstandes in den westlichen Industriestaaten sein wird. Die Kluft zwischen Arm und Reich wird somit größer. Und es ist daher ebenso absehbar, dass es zu heftigen Verteilungskämpfen kommen wird. In den Staaten und unter den Staaten aufgrund der globalen Vernetzung. Verteilungskämpfe haben aber in der Vergangenheit stets zur Ideologisierung der gesellschaftlichen Gruppen geführt und im Ergebnis zu stark steigenden Staatsschulden, die das Ergebnis von Wahlkämpfen und Regierungspolitik sind, die durch Geld- und Fiskalpolitik erzeugt werden. Dabei ist die sog. Große Koalition die mit weitem Abstand teuerste Regierungsform, da die größten Gruppen der Wählerschaft zugleich bedient werden müssen.
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[title]Begriffe – Anmerkungen – Titel – Autoren[/title]
Wille zur Macht – Politisierung der Geldpolitik – Kapitalallokation – Inflationserwartungen – pareto-optimale Verteilung – Gentrifizierung – Family Offices – Quer- und Cross-Verschiebungen von Kapital – Cross-Over-Capital
1 Im Sinne des homo oeconomicus als ein Typus, der als ein ausschließlich von Erwägungen der wirtschaftlichen Zweckmäßigkeit geleiteter Mensch betrachtet wird.
2 Vgl. Pressemitteilungen zum Thema, u.a. rp-online, abgerufen am 17.07.2019
R.Dorfman, R.M. Solow und P.A. Samuelson: Linear Programming and Economic Alalysis, McBraw-Hill, New York 1958
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