Reich durch Verlust

Besonders börsennotierte Großunternehmen schaffen es immer wieder, hohe Renditen auszuschĂŒtten, obwohl sie negative Gewinne bilanzieren. Schaut man auf die Passivseite der Bilanz, dann befinden sich dort die Summen aller von Kapitalgebern dem Unternehmen zur VerfĂŒgung gestellten finanziellen Mitteln. Diese imponierenden VermögensgĂŒter sind also keine, von den EigentĂŒmern einer Unternehmung zu dessen Finanzierung aufgebrachten, oder als wirtschaftlicher Gewinn im Unternehmen belassenen Vermögen i.S. einer Selbstfinanzierung.

Die Bilanz unterscheidet strikt zwischen Mittelherkunft und Mittelverwendung und bei der Mittelherkunft zwischen Eigen- und Fremdkapital. Eigenkapital, oder auch Beteiligungskapital genanntes Vermögen, steht GlĂ€ubigervermögen in Form von Fremdkapital gegenĂŒber. Man sieht unschwer die rechtlich unterschiedliche Stellung von Eigen- und Fremdkapital. Fremdkapitalien können also durchaus als bestehende oder zukĂŒnftige Vermögenswerte eines Unternehmens bewertet werden, sind aber zunĂ€chst einmal die bilanziell ausgewiesen Schulden des Unternehmens gegenĂŒber Dritten, also entweder Verbindlichkeiten oder RĂŒckstellungen mit Verbindlichkeitscharakter. GegenĂŒber Dritten fungiert das Unternehmen also als Schuldner, der die entweder rechtlich entstandenen oder durch die wirtschaftliche TĂ€tigkeit verursachten Verbindlichkeiten auszugleichen hat. Auch sieht man die Unterscheidung zwischen rechtlich und wirtschaftlich verursachten Verbindlichkeiten oder Schulden, die man bei der Bestimmung, was denn die Form von Eigenkapital hat, prĂ€zise vorzunehmen hat.

So kann es sein, dass Unternehmen mit hohen Vermögenswerten und auch erklecklichen AusschĂŒttungen an AktionĂ€re oder Anleihe-EigentĂŒmer zugleich fĂŒr lange Zeit negative Gewinne ausweisen, ohne Bilanztrickserei oder Verlagerung von Ertragskonten in Steuerparadiese o.Ă€. Junge Unternehmen brauchen oft ein Jahrzehnt und lĂ€nger, bis sie in die Gewinnzone (Reingewinn) kommen. Großunternehmen mit hohen Ausgaben fĂŒr Investitionen in technische bzw. Technologie-Innovationen zeigen nicht selten einen dramatischen Unterschied zwischen Börsenwert und Bilanzgewinn. Wie der Ausdruck Kapital gesehen und bewertet werden kann, sieht man auch speziell im Börsendiskurs. Der Börsendiskurs grĂŒndet in der alten Börsenweisheit: „An der Börse wird die Zukunft gehandelt“, will sagen, hier findet man die aus Bilanzwerten und Börsenwerten vorgestellte Wertentwicklung eines Unternehmens.

Eine der gĂ€ngigsten Kennziffern ist das sog. Kurs-Buchwert-VerhĂ€ltnis, eine substanzorientierte Kennzahl zur Beurteilung der Börsenbewertung einer Aktiengesellschaft. Sie gibt an mit dem Wie-Vielfachen des Buchwertes ein Unternehmen derzeit an der Börse gemessen wird. Uns interessiert in diesem und auch in den folgenden Kennziffern nicht deren ValiditĂ€t und methodische Genauigkeit der Ermittlung. Uns interessiert wie hier im sog. Value Investing die diskursive Übereinkunft, dass eine Aktie eines Unternehmens fair bewertet ist, wenn ihr Wert dem Buchwert in etwa entspricht . Auch wenn man heute andere Kennziffern im Value Investing wie etwa Cashflow (DCF-Verfahren) und Kurs-Gewinn-VerhĂ€ltnisse anwendet, bleibt diese Art der Wertfeststellung eines Unternehmens stets substanzorientiert bzw. auf die potenzielle Wertschöpfungskraft des Unternehmens bezogen.

Da im Kurs-Buchwert-VerhĂ€ltnis der Kurs einer einzelnen Aktie in Relation zu ihrem anteiligen Buchwert, das heißt dem auf die AktionĂ€re entfallenden Eigenkapital je Aktie gestellt wird, besagt eine Kennziffer <1, dass das Wertschöpfungspotenzial des Unternehmens noch nicht ausgeschöpft ist, oder anders gesagt, dass das Unternehmen im Moment als ein verlustbringendes Unternehmen durchaus gĂŒnstig fĂŒr Investoren zu ‚kaufen‘ ist. NatĂŒrlich werden daneben auch andere Faktoren, die hinzugezogen werden mĂŒssen, berĂŒcksichtigt, aber bei der heute meist algorithmischen Vorauswahl potenzieller Gewinn bzw. Value Kandidaten hilft diese Kennziffer immer noch, sogar im elektronischen Hochgeschwindigkeitshandel. Eine andere Kennziffer ist das sog. Kurs-Gewinn-VerhĂ€ltnis (KGV), die Relation zwischen dem aktuellen Kurs der Aktie und dem Jahresgewinn pro Aktie. Sie berechnet sich, indem der aktuelle Aktienkurs durch den Gewinn je Aktie dividiert wird. Das KGV gibt also an, mit dem Wie-Vielfachen des auf sie entfallenden Gewinns eine Aktie aktuell bewertet wird. Anders ausgedrĂŒckt bezeichnet es die Anzahl der Jahre, in denen das Unternehmen bei konstanten Gewinnen ihren Börsenwert verdient hĂ€tte. Bei aller prognostischen Unsicherheit, besonders was das konjunkturelle Umfeld der Aktie betrifft, lĂ€sst das KGV im Normalfall jedoch Aussagen bezĂŒglich der Über- beziehungsweise Unterbewertung einer Aktie zu. Je niedriger das KGV, desto gĂŒnstiger erscheint die Aktie im Vergleich zum Gesamtmarkt oder zu Aktien der Branchen-Wettbewerber. Mit dieser Kennzahl wird also die zu erwartende Gewinnentwicklung eines Unternehmens im Vergleich zum Gesamtmarkt bzw. des Wettbewerbs prognostiziert, heute natĂŒrlich wieder lediglich als Algorithmus zur Vorauswahl benutzt, nun nicht fĂŒr den Value-Investor, sondern eher fĂŒr den Growth-Investor. Gerade dieser Typ Investor hat nicht selten Titel mit hohen, zweistelligen KGVs im Portfolio, also Titel von Gesellschaften, die massiv Verluste schreiben, zwar bestens kapitalisiert sind, ohne eine an zĂ€hlbaren Gewinnen erkennbare GeschĂ€ftstĂ€tigkeit auszuweisen. Solche Unternehmen, die wir aus der Branche der sozialen Plattformen und IT-Start-Ups kennen, erscheinen besonders an der Gewinnschwelle als sehr teuer, sind aber möglicherweise fĂŒr den versierten Investor eine durchaus lohnende Anlage wie auch fĂŒr die Gesellschaft die Aussicht, durch Einwerbung hoher Summen von Fremdkapital spĂ€ter Gewinne aus Eigenkapital zu erzielen, nicht schlecht ist. Eine letzte Kennziffer, die wir hier in diesem Kontext kurz anreißen möchten, ist die sog. Marktkapitalisierung, oft auch Börsenkapitalisierung genannt. Sie ist eine Kennzahl fĂŒr Aktiengesellschaften, die den aktuellen Marktwert eines Unternehmens wiedergibt. Sie kann errechnet werden, indem die Anzahl ausstehender Aktien – und nicht wie oft angegeben wird, Aktien, die das Unternehmen selbst hĂ€lt – mit dem aktuellen Aktienkurs multipliziert wird. Die Marktkapitalisierung ist mitunter ein entscheidendes Kriterium fĂŒr die Aufnahme in bestimmte Börsen-Indizes. Und auch hier erkennen wir, dass der ökonomische Terminus Kapital weder eine feste GrĂ¶ĂŸe ist, noch einem Ist-Zustand des Unternehmens allein entnommen ist. Kapital in der Bedeutung von Value ist etwas anderes als in der Bedeutung von Growth oder Marktkapitalisierung. Gerade die mit Abstand am besten marktkapitalisierten Unternehmen aus dem Silicon Valley waren Jahre- bis fast ein Jahrzehnt lang Unternehmen, schlicht gesagt, mit viel Geld (Cash), aber auch enormen Verlusten. Reich also ist nicht reich. Investoren haben gerade dann, wenn sie in solche Unternehmen investiert haben, als die Verluste am grĂ¶ĂŸten waren, im Verlauf der Jahre die grĂ¶ĂŸten Kursgewinne eingefahren. Dies bestĂ€tigt sich auf atemberaubende Weise am Ende des Jahres 2017 an der KryptowĂ€hrung Bitcoin, deren gigantischer Marktkapitalisierung ein nicht einmal rudimentĂ€r zu nennender Markt, eine ĂŒberlastete Technik, ein grenzenloses Risiko und eine VolatilitĂ€t gegenĂŒber stehen, die einem Wechselstrom ohne Gleichrichter Ă€hnlich sieht, nicht aber einem realen Marktgeschehen. Das Gleiche gilt natĂŒrlich auch fĂŒr die enorme Schwankungsbreite der Kurse von KryprowĂ€hrungen, die durchaus als außergewöhnlich bezeichnet werden können und die Shareholder teils ĂŒber Nacht vom Gewinner zu Verlierer werden lassen können. Diesen WechselbĂ€dern ist das investierte Kapital nicht selten ausgesetzt und zeigt, wie „flĂŒssig“ oder flĂŒchtig das sein kann, was viele Menschen, teils auch Experten, so lapidar als eine „BestandsgrĂ¶ĂŸe“ im Kopf haben.