Brüderlichkeit bildet die moralische Grundlage der sozialen Marktwirtschaft. Aus ihr wird ein moralisches Prinzip abgeleitet, das Prinzip der Solidarität, das dann zum Tragen kommt, wenn eine einzelner Mensch oder Gruppen in materielle Not geraten, die mit der Wirtschaftsordnung, also mit der Marktwirtschaft selbst etwas zu tun hat. Etwa im Krankheitsfall oder durch andere, nicht selbst verschuldete Notfälle wie Armut, Arbeitslosigkeit in einem eingeschränkten Sinne usw. tritt das Solidarprinzip in Kraft. Da der Brüderlichkeit nichts anderes als der Gleichheitsgrundsatz: ‚alle Menschen sind gleich‘ zugrunde liegt, ist daraus kein hinreichender Grund für das Solidarprinzip gegeben. Dieses ist notwendig, weil es eine Willensentscheidung einer Gesellschaft ist, sonst nicht. Der Wille steht in der deutschen Verfassung ausgedrückt im Paragrafen: Eigentum verpflichtet.1 Die Sozialpflichtigkeit des Eigentums setzt bewusst den Konnex zwischen Geld und Solidarität, eine andere Form der Solidarität gibt es in der Verfassung nicht. Sie ist, wenn sie stattfindet, eine freiwillige.
Die Feinbestimmung des Eigentums als nur dann dem Wohle der Allgemeinheit dienend, wenn es „im Gebrauch“ ist, also eben nicht Privateigentum, sondern als produktives Kapital liquidiertes Privateigentum ist und sich so im Wirtschaftskreislauf befindet, macht deutlich, dass nicht jede Form von Eigentum dem Allgemeinwohl verpflichtet ist.
Privateigentum also ist Privatsache. Die Sozialpflichtigkeit des Eigentums, auch Sozialbindung des Eigentums genannt, ergibt sich unter der Maßgabe des freien Willens des Einzelnen und als Solidarprinzip, das in Form einer staatlich kontrollierten Wohlfahrt organisiert ist. Die Organisation des Staates umfasst die Festlegung, wer unter welchen Bedingungen der gemeinschaftlichen Solidarität bedarf und, neben der Definition von Bedürftigkeit auch die Festlegung der materiellen, sachwerten, aber vor allem der geldlichen Zuwendung an den Bedürftigen.
Die Zuwendungen werden finanziert aus einem Solidarvermögen, das durch Abgaben auf die Einkünfte aus selbständiger Arbeit und aus Erwerbsarbeit gebildet wird. Die Sozialabgaben tragen in einem vom Parlament festgelegten Satz und Anteil je Arbeitgeber und Arbeitnehmer und sind Vermögen für Erwerbslose und Erwerbstätige in Not.
Das Solidarvermögen bildet die dritte Säule der Sozialen Marktwirtschaft und ist das Bindeglied ihres Leitbildes, welches aus einer wirtschaftspolitischen und einer gesellschaftspolitischen Komponente gebildet ist, die in einem komplementären Verhältnis zueinander stehen.
Die wirtschaftliche Leistung basiert auf den Kräften der in den Wirtschaftskreislauf freigesetzten Privatvermögen. Hier findet die individuelle Freiheit des Unternehmers wie auch dessen Gesellschaftsform des Eigentums in Körperschaften in einem freien Wettbewerbs zum Markt und kann sich dort frei in den Grenzen des Wettbewerbsrechts (lauterer Wettbewerb) entwickeln.
Die gesellschaftspolitische Komponente bildet das Solidarprinzip des sozialen Ausgleichs, ist also mit dem Leitbild des Fortschritts, hier des sozialen Fortschritts, verbunden. Das Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft hat also zum Ziel, die Entwicklung des Marktes mit der Entwicklung der sozialen Situation der Menschen ausgleichend zu verbinden, die an der Marktentwicklung nicht teilnehmen können.
Der soziale Fortschritt ist in diesem Sinne eine bewusst gesteuerte, und zwar sozial gesteuerte Marktwirtschaft. Müller-Armack2 ging es um eine „institutionelle Verankerung ihres Doppelprinzips in der Wirtschaftsordnung“2, um „die divergierenden Zielsetzungen sozialer Sicherheit und wirtschaftlicher Freiheit zu einem neuartigen Ausgleich“4 zu bringen und so der Marktwirtschaft einen richtungsweisenden Sinn zu geben, also „das Prinzip der Freiheit auf dem Markt mit dem Prinzip des sozialen Ausgleichs zu verbinden“.5
Berücksichtigt man die Idee und das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft, dann ist das Vermögen der sozialpolitischen Trägerschaften dem Zugriff des Staates verwehrt. Es ist eingezahlt von Arbeitgebern und Erwerbstätigen für einen solidarischen Ausgleich, also zur Vermeidung von Armut durch Arbeitslosigkeit und innerhalb von Erwerbstätigkeiten, heute oft als prekäre Beschäftigung bezeichnet; nichts anderes ist die Bedeutung des sozialen Fortschritts in einer Marktwirtschaft.
Gegen dieses Zugriffsverbot hat der Staat mehrfach und in hohen Summen verstoßen und sich damit selbst, illegitim zumal, gegen den sozialen Fortschritt gestellt. Aufsummiert haben sich diese „versicherungsfremden Leistungen“ zu einem Schattenhaushalt der Regierung seit 1957 in der Höhe von ca. 750 Mrd. Euro, natürlich ohne Zinsrechnung.
Verstößt schon die Regierung gegen das Solidarprinzip, so ist es selbst im Zuge der letzten Jahrzehnte zu einem Residualprizip geworden. Denn die Solidargemeinschaft ist längst auseinander gebrochen in Beitragszahler und in weitere Erwerbszweige ohne Beitragsleistungen, etwa freie Berufe wie Beamte, Ärzte, Anwälte, Steuerberater, Freelancer oder Politiker. Politiker zahlen nicht in die Rentenkasse ein, sind aber üppige Nutznießer derselben. Hatten Männer Ende 2014 eine Durchschnittsrente von 1013 Euro und mussten Frauen mit 762 Euro auskommen, erreichten Politiker schon nach einem Jahr im Bundestag als Abgeordnete einen Anspruch von 233 Euro Pension pro Monat. Nach nur zehn Jahren im Parlament kassieren Ex-Politiker weit über 2000 Euro im Monat.
Der Zusammenhang des sozialen Fortschritts mit unserem aktuellen Thema: Krise entwickelt sich also schwierig und komplex. Denn der Zusammenhang ist kein direkter zwischen sozialem Fortschritt und Marktwirtschaft im Sinne der Erfinder der Sozialen Marktwirtschaft. Zu viele Akteure verhalten sich nicht nach der Idee und dem Leitbild der Solidargemeinschaft. Diese unsolidarischen Effekte haben also einen Einfluss auf die Bewertung, in wie weit die wirtschaftliche Leistung mit dem monetären Wohlstand von Erwerbslosen zusammenhängt. Aber trotzdem bleibt festzuhalten, dass von einer Krise der Marktwirtschaft auch inm Rahmen der aktuellen Transformationsprozesse immer der Aspekt des sozialen Fortschritts im Zentrum steht und stehen muss.
Natürlich kennen wir nicht mehr die Armut in der Breite der Unterschichten der vergangenen Jahrhunderte, das Lumpenproletariat aus Marx‘ Zeiten, eine unschöne Vortstellung von Massenarbeitslosigkeit. Und es ist noch nicht so lange her, dass es Massenarbeitslosigkeit in Deutschland gab wie es sie heute in Europa in der Form der Jugendarbeitslosigkeit gibt.
Armut gibt es natürlich auch bei Rentnerinnen und Rentnern sowie häufig bei allein erziehenden Elternteilen mit einem oder mehreren Kindern, besonders aber bei weiblichen Alleinerziehenden und deren Kindern.
In den westlichen Industrienationen war Armut und Massenarbeitslosigkeit noch vor hundert Jahren ein Alltagsphänomen. Die wirtschaftlichen Entwicklung hat den sozialen Fortschritt allein getragen, oder in Systemen einer Sozialen Marktwirtschaft entwickelt. Es schien eine zeitlang so, also wäre Armut in den westlichen Industrienationen weitgehend überwunden und auf eine gewissen Sockel relativiert, mit dem eine Marktwirtschaft umgehen lernen muss; eine Lösung des Armutsproblems aber sei unnötig.
Diese Relativismus kommt schwer ins Wanken.
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[title]Begriffe – Anmerkungen – Titel – Autoren[/title]
Solidarprinzip – Sozialpflichtigkeit des Eigentums – Solidarvermögen – sozialer Fortschritt – prekäre Beschäftigung – „versicherungsfremde Leistungen“ – Lumpenproletariat
1 (2) Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen. (3) Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig. Sie darf nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes erfolgen, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt.
2 Die Bezeichnung Soziale Marktwirtschaft geht auf Alfred Müller-Armack zurück und wurde erstmals 1947 in:
Alfred Müller-Armack: Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft. Verlag Wirtschaft und Finanzen, Düsseldorf 1999, ISBN 3-87881-135-7. (Faks.-Ed. der Erstausg. Hamburg 1947) erwähnt.
3 Alfred Müller-Armack: Stil und Ordnung der Sozialen Marktwirtschaft“ (1952). In: Alfred Müller-Armack: Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik. Studien und Konzepte zur Sozialen Marktwirtschaft und zur Europäischen Integration. Rombach. Freiburg i.B. 1966, S. 242.
4 Alfred Müller-Armack: Stil und Ordnung der Sozialen Marktwirtschaft“ (1952). In: Alfred Müller-Armack: Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik. Studien und Konzepte zur Sozialen Marktwirtschaft und zur Europäischen Integration. Rombach, Freiburg i.B. 1966, S. 236.
5 Alfred Müller-Armack: Soziale Marktwirtschaft. In: Erwin von Beckerath, Hermann Bente, Carl Brinkmann u. a. (Hrsg.): Handwörterbuch der Sozialwissenschaften: Zugleich Neuauflage des Handwörterbuch der Staatswissenschaften. Fischer, Stuttgart 1956 (Band 9), S. 390.
6 Nach ADG_C002_1610_Versicherungsfremde Leistungen in der Arbeiter- und Angestelltenrentenversicherung-3
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Alfred August Arnold Müller-Armack (* 28. Juni 1901 in Essen; † 16. März 1978 in Köln)
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