Die Notenbankpolitik der EZB hat unserer Ansicht nach die marktwirtschaftlichen Regeln der Kapitalmärkte außer Kraft gesetzt und klammen Staaten und unseriös haushaltenden Regierungen durch ihre Niedrigzinspolitik einen Zugang zu den Kapitalmärkten erzwungen. Natürlich kann man in diesen Fällen nicht die normale Vorstellung einer Zwangswirkung unterstellen, sie ist spezieller. In unseren Kontexten, wenn der Begriff Zwang auftaucht, dann haben wir staatliche Rechtsmittel zur Durchsetzung von Interessen im Auge. Diese Rechtsmittel bzw. Gesetze wurden von den europäischen Regierungen für die Eurozone ganz und gar sonders für diesen Fall der Sicherung der Marktzugänge für die Regierungen selbst geschaffen.
Wir haben diese Rechtsmittel fast alle schon ausführlich behandelt, die über zehn Jahre hinweg in der EU ausgehandelt werden mussten, um den sog. Stabilisierungsmechanismus der Wirtschafts- und Währungsunion auf eine sichere Rechtsgrundlage zu setzen. Ohne eine solche Rechtsgrundlage hätten die Stützungskäufe und die Rettungsschirme sowie das QE-Programm nicht aufgelegt werden können. SMP, EFSF, ESM und OMT sind also allesamt eine Gesamtleistung aller EU-Staaten, betreffen also nicht nur die Währungs- sondern auch die Wirtschaftsunion. Die wichtigsten Vereinbarungen die Wirtschafts- und Währungsunion betreffend, sind chronologisch unten aufgeführt.1
Jahr 2009
16. Oktober 2009 Nach der Ratingagentur Fitch stuft Standard & Poor’s Griechenlands Kreditwürdigkeit herab. |
Oktober 2009 Griechenland: Die neu gewählte griechische Regierung gibt bekannt, dass das Haushaltsdefizit des Landes bei 12,7 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) liegt, und korrigiert damit die bisherige Angabe stark nach oben. |
16.12.2009 Ratingagenturen: In der Folge wird Griechenlands Kreditwürdigkeit von den Ratingagenturen herabgestuft. Entsprechend steigen die Risikoaufschläge für griechische Staatsanleihen und der Kurs des Euro fällt. |
Jahr 2010
11.02.2010 Europäischer Rat: Die Staat- und Regierungschefs der EU erklären ihre Bereitschaft, notfalls entschlossene und koordinierte Maßnahmen zur Sicherung der Finanzstabilität im Eurogebiet zu ergreifen, um die Situation in Griechenland abzumildern. |
25. März 2010 Die Europäische Union spannt einen beispiellosen Rettungsschirm. Insgesamt 750 Milliarden Euro will die EU im Notfall bis 2013 bereitstellen – zur Rettung kriselnder Euro-Mitglieder vor dem Staatsbankrott. |
10. Mai 2010 Die Euro-Staaten beschließen eine weitgehende Änderung: Bei Rettungsaktionen für überschuldete Länder sollen künftig auch Banken und Fonds einspringen und nicht mehr nur die Steuerzahler haften. Ein dauerhafter Euro-Schutzschirm soll beschlossen und dafür der EU-Vertrag geringfügig geändert werden. Nach schwierigen Verhandlungen und auf massives Drängen Frankreichs (Trichet) einigt man sich auf einen separaten Rettungsfonds, den EFSF – Europoäische Finanzstabilisierungsfazilität, eine privatrechtliche Kapitalgesellschaft mit Sitz in Luxembburg. |
29. Oktober 2010 Nach Griechenland, Spanien und Portugal gerät auch Irland immer stärker unter Druck. Am 21. November 2010 bittet das Land offiziell um Finanzhilfe aus dem Rettungsschirm der Euroländer und des Internationalen Währungsfonds (IWF). Nun müssen sich auch die Iren auf drastische Kürzungen (Austeritätspolitik) im Gegenzug für die Milliarden-Hilfen gefasst machen. Die EU-Finanzminister gewähren Dublin knapp eine Woche später ein Hilfspaket von 85 Milliarden Euro. |
16. Dezember 2010 Bei einem Gipfeltreffen beschließen die EU-Chefs einen dauerhaften Rettungsschirm für Krisenländer. Der Rettungsschirm soll die bisherigen Milliardenfonds für Griechenland und andere Euro-Länder ablösen, die – gemäß der ursprünglichen Planung – 2013 auslaufen. Zwei Monate später einigen sich die Euro-Finanzminister darauf, den ESM mit 500 Milliarden Euro verfügbaren Mitteln auszustatten. |
Jahr 2011
16. Mai 2011 Die EU-Finanzminister geben in Brüssel grünes Licht für ein milliardenschweres Rettungspaket für Portugal. Das Land muss nach Griechenland und Irland mit Kredithilfen vor der Staatspleite bewahrt werden – mit einem Kreditpaket von 78 Milliarden Euro. |
21. Juli 2011 Das krisengeschüttelte Griechenland bekommt ein neues Hilfspaket von den Eurostaaten und dem Internationalen Währungsfonds (IWF). Mit weiteren 109 Milliarden Euro wird die Griechenlandhilfe somit quasi verdoppelt. Zum ersten Mal ziehen zudem Banken und Versicherungen mit einem eigenen Beitrag von zusätzlich 37 Milliarden Euro mit. |
29. September 2011 Im Bundestag bekommt die Kanzlerin bei der Abstimmung für einen größeren Rettungsschirm die Kanzlermehrheit. Der gestärkte Fonds erhält mehr Geld und neue Instrumente, um schneller reagieren zu können. Damit der Rettungsfonds tatsächlich Notkredite von 440 Milliarden geben kann, soll der Garantierahmen auf 780 Milliarden Euro erhöht werden. Die Haftungsobergrenze für Deutschland bleibe jedoch bei 211 Milliarden Euro, versichert Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble. |
27. Oktober 2011 Der EU-Gipfel beschließt einen Schuldenschnitt für Griechenland von 50 Prozent. Banken und Fonds müssen auf 100 Milliarden Euro ihrer Forderungen verzichten. |
9. Dezember 2011 17 Mitgliedstaaten vereinbaren einen Fiskalpakt, der wenige Wochen später endgültig beschlossen wird. Es geht um gesetzlich verankerte Schuldengrenzen in den Euro-Mitgliedstaaten und ein härteres Vorgehen gegen Defizitsünder. Vor allem Großbritanniens Premier David Cameron blockiert die Verhandlungen. |
Jahr 2012
13. Januar 2012 Unglücksfreitag für die Euro-Zone: Standard & Poor’s senkt die Bonität Frankreichs um eine Stufe auf „AA“. Auch acht weitere Euro-Länder sind betroffen. Deutschland dagegen behält zusammen mit den Niederlanden und Luxemburg die Top-Bonität. |
23. Februar 2012 n 17 Euro-Ländern schrumpft die Wirtschaft laut Konjunkturprognose der EU-Kommission. Vor allem die Wirtschaft in Italien und Spanien wird demnach betroffen sein. Von den großen Euro-Volkswirtschaften wächst demnach nur noch Deutschland. |
9. März 2012 Die Beteiligung der privaten Gläubiger an dem freiwilligen Schuldenerlass für Griechenland übertrifft alle Erwartungen. Die Quote liegt laut Finanzministerium in Athen bei 85,8 Prozent. Private Kreditgeber wie Banken, Versicherungen und Fonds sollen auf Forderungen in Höhe von 107 Milliarden Euro freiwillig verzichten. Die Gläubiger tauschen dazu ihre derzeitig gehaltenen Schuldenpapiere in neue Anleihen mit einem Nominalabschlag von 53,5 Prozent, geringeren Zinsen und einer Laufzeit von bis zu 30 Jahren ein. |
14. März 2012 Die Eurogruppe mit Chef Jean-Claude Juncker gibt das zweite Hilfsprogramm für Griechenland frei. Darüber hinaus beauftragen die Euro-Länder den Eurorettungsfonds EFSF, die ersten Hilfszahlungen in Höhe von insgesamt 39,4 Milliarden Euro freizugeben und in mehreren Raten auszuzahlen. |
23. April 2012 Der spanischen Zentralbank zufolge ist das gegen die Schuldenkrise kämpfende Königreich im ersten Quartal in die Rezession gerutscht. Wenige Tage darauf stuft Standard & Poor’s Spanien von „A“ auf „BBB+“ herab. Die Zinsen für spanische Staatsanleihen gehen in die Höhe und die Aktienkurse in die Tiefe. Als Reaktion darauf übernimmt die spanische Regierung die Kontrolle über die angeschlagene Großbank Bankia, was de facto die Verstaatlichung des Geldinstituts bedeutet. |
31. Mai 2012 Der italienische Ministerpräsident Mario Monti fordert direkte Bankenhilfe aus den Euro-Rettungsfonds |
9. Juni 2012 Spaniens Regierung kündigt an, zur Sanierung der maroden Banken ein Rettungspaket „light“ zu beantragen. Die Eurogruppe sagt Madrid bis zu 100 Milliarden Euro zu. |
25. Juni 2012 Als fünftes Land der Euro-Zone stellt Zypern einen Antrag auf Hilfen aus dem Euro-Krisenfonds. Zyprische Staatsanleihen waren zuvor auf Ramsch-Niveau herabgestuft worden. Zypern braucht 17 Milliarden Euro, um den aufgeblähten Banken und Staatssektor zu retten – das entspricht der jährlichen Wirtschaftsleistung des Inselstaats. Zu Zahlungen aus dem Krisenfonds kommt es aber zunächst nicht. Die Zyprer wollen sich nicht auf die Bedingungen einlassen, die die Troika aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds stellt. |
29. Juni 2012 Nach einem Beschluss des EU-Gipfels bekommen strauchelnde Länder erleichterten Zugang zu den Rettungsschirmen, wenn sie den Brüsseler Spar- und Reformverpflichtungen nachkommen. Eine Woche zuvor hatte auch Zypern nach langem Zögern Hilfe aus dem Euro-Rettungsschirm beantragt. Ein weiterer Beschluss auf dem Gipfel: Banken sollen Direkthilfen aus dem ESM bekommen dürfen, sobald eine europäische Bankenaufsicht geschaffen worden ist. Allerdings sind die genauen Bedingungen noch unklar. Bundesrat und Bundestag billigen den Fiskalpakt und den ESM. |
12. September 2012 Das Bundesverfassungsgericht macht den Weg für den Euro-Rettungsschirm ESM frei. Die Karlsruher Richter weisen zahlreiche Klagen gegen die deutsche Beteiligung an dem 700 Milliarden Euro schweren Fonds ab. Damit stärken sie im Grundsatz die Euro-Politik von Bundeskanzlerin Merkel. Das Urteil wird in Deutschland und weltweit mit großer Erleichterung aufgenommen. Knapp einen Monat später wird der ESM dann offiziell aus der Taufe gehoben. |
27. November 2012 Nach wochenlangem Gezerre verständigen sich die internationalen Geldgeber auf die Auszahlung von neuen Milliardenkrediten. Demnach soll eine neue Tranche von fast 44 Milliarden Euro für Athen freigegeben werden: 34,4 Milliarden Euro davon noch 2012, um eine drohende Staatspleite abzuwenden. Die Verhandlungspartner Euro-Gruppe, EZB und IWF einigen sich zudem auf weitere Schritte wie ein Schuldenrückkaufprogramm, Zinserleichterungen oder längere Darlehenslaufzeiten, um das Land wieder auf Kurs zu bringen. |
Jahr 2013
16. März 2013 Regelrecht in letzter Minute wird Zypern vor der Staatspleite bewahrt. In der Nacht auf den 17. März beschließen die EU-Finanzminister ein Rettungspaket für den Inselstaat. Zehn Milliarden Euro versprechen die Euro-Partner und IWF – aber nur, wenn Zypern 5,8 Milliarden Euro selbst aufbringt. Zypern gilt vor allem bei russischen Investoren als Steuerparadies und prima Versteck für Schwarzgelder. |
17. März 2013 Zypern im Ausnahmezustand: Die Gedankenspiele der zyprischen Regierung, sich die 5,8 Milliarden Euro von den Sparern zu holen, bringen die Bürger in Rage. Die Banken bleiben geschlossen |
19. März 2013 Der Rettungsplan von Präsident Nikos Anastasiades ist gescheitert: Kein einziger Abgeordneter stimmt im zyprischen Parlament für das Rettungspaket und die geplante Zwangsabgabe auf Bankguthaben über 20.000 Euro. Die EU-Hilfsgelder liegen auf Eis. |
25. März 2013 In der Nacht zum 25. März dann doch noch die Einigung zwischen Zypern und EU-Troika: Zypern bekommt Gelder aus dem Rettungsschirm und verspricht dafür, seinen Bankensektor grundlegend zu sanieren. Die Rettung bedeutet auch einen Tabubruch in der Eurozone: Erstmals werden Anleger für die Staatsrettung zur Kasse gebeten. Das betrifft Großanleger mit Guthaben über 100.000 Euro. Die Kleinsparer bleiben verschont. |
28. März 2013 Nach fast zwei Wochen öffnen die zyprischen Banken wieder. Die Angst, dass die Zyprer ihre Konten abräumen und ihr Geld so vor der geplanten Bankenabgabe in Sicherheit bringen, ist nach wie vor groß. Maximal 300 Euro pro Tag dürfen sie abheben. |
5. April 2013 Kaum ist Zypern gerettet, droht ein neuer europäischer Krisenherd: Die Verfassungsrichter in Lissabon kippen Teile des Sparprogramms der portugiesischen Regierung – unter anderem die Streichungen bei der Arbeitslosenhilfe und bei Urlaubsgeldern von Beamten. Ministerpräsident Pedro Passos Coelho muss jetzt 1,3 Milliarden Euro auftreiben, um die Zahlungen aus dem EU-Rettungsfonds nicht zu gefährden. |
8. Juli 2013 Die internationalen Geldgeber verständigen sich auf neue Kredite in Höhe von 6,8 Milliarden Euro aus dem laufenden Hilfsprogramm für Griechenland. Sie sollen in mehreren Raten ausgezahlt werden. |
17. Juli 2013 Trotz heftiger Proteste hat das griechische Parlament ein Gesetz verabschiedet, das die Entlassung von bis zu 15.000 Staatsbediensteten ermöglicht. Die Reform des öffentlichen Dienstes ist eine Bedingung für weitere internationale Hilfszahlungen. |
22. Juli 2013 Die Staatsschulden der 17 Euro-Länder sind im ersten Quartal 2013 weiter gewachsen: Mittlerweile haben sie mehr als 92 Prozent der Wirtschaftsleistung erreicht. Trauriges Schlusslicht ist Griechenland – trotz Schuldenschnitts. |
Jahr 2014
Jahr 2015
26. Juni 2015 Griechenland ist fast pleite. Die Bevölkerung bekommt das drastisch zu spüren: Am 26. Juni werden Banken und die Börse geschlossen. Bankkunden dürfen nur 60 Euro pro Tag am Automaten abheben. Die Geldinstitute öffnen erst nach drei Wochen, die Börse erst nach vier Wochen wieder. |
19. August 2015 Der deutsche Bundestag und weitere europäische Parlamente machen den Weg frei für das dritte Hilfspaket. In Athen verabschiedet das Parlament nach heftigen Diskussionen und Widerstand das Gläubiger-Programm inklusive der Reformauflagen. Die Zeit drängt, denn Griechenland muss Rückzahlungen an die EZB leisten. Am 19. August geben die Euro-Finanzminister die erste Kreditrate von 26 Milliarden Euro aus dem neuen Rettungsprogramm frei. Alexis Tsipras tritt zurück, um bei Neuwahlen eine Mehrheit hinter sich zu bringen. |
Jahr 2016
Das Dilemma der EU-Regierungen ist, dass das Haus, dem sie Stabilität durch diese neuen Vereinbarungen qua Gesetz verschaffen möchten, immer wieder in Schieflage geraten muss. Ist eine Architektur mit einer für die Zukunft überschaubaren Statik in einem Gebilde mit 28 Einheiten schon schwierig genug zu konstruieren, verändert sich die Statik aber nicht nur durch den Auszug eines Miteigentümers im Brexit, sondern dadurch, dass für temporär sehr unterschiedliche Zeiträume ständig die verschiedensten Untermieter ein- und ausziehen, neue Eigentümer hinzukommen. Wir haben darauf verwiesen, wie eng Entscheidungen der EZB auf die Notenbanken von Japan, der Schweiz, Neuseeland und vieler anderer Industriestaaten verknüpft sind. Wie die Kapitalströme und Währungsveränderungen auf das EU-Gebäude statisch einwirken ist wenig abzusehen. Aber das wäre nicht das Problem schlechthin. Das Problem eines Wirtschafts- und Währungsraumes wie die EU und die Eurozone, die bereits so fein vernetzt mit den Wirtschafts- und Währungsräumen der Welt sind, liegt eher darin, dass es zwar eine global vernetzte Weltwirtschaft mit ihren Währungsrelationen gibt, die durch Globalisierung und Transformationen zur Digitalwirtschaft in einen dynamischen Prozess der Veränderung sich befindet, es aber keine auch nur annähernd adäquaten, global handlungsfähigen Institutionen zur Steuerung und Krisenstabilisierung gibt; dies wird auch in absehbarer Zeit wohl nicht anders sein.
Haben dann wenigstens die Beschlüsse der EU-Regierungen zur Stabilisierung der Wirtschafts- und Währungsunion beigetragen und damit dem Experiment Europa eine weitere Chance der positiven Entwicklung gegeben? Positiv wäre eine Entwicklung, die den Lebensstandard der EU-Bürger sowie die Wohlfahrt der einzelnen EU-Staaten materiell verbessert. Für alle Phasen des europäischen Experiments kann man festhalten, dass z.B. vor und nach der Osterweiterung jeweils der Lebensstandard der alten und der neuen EU-Staaten sich deutlich verbessert hat, sowohl, was die Arbeitsmärkte, die Einkommen sowie die Altersabsicherung betrifft. Sinn (2015) weist darauf hin, dass mit den Ausbrüchen der Krisen bei der Haushaltsfinanzierung in den Krisenstaaten eines deutlich wurde: die positiven Entwicklungen waren fast ausschließlich nicht durch Marktmechanismen und Marktprozesse hervorgerufen, sondern durch ‚irreguläre‘ Geldtransfers. Sinn nennt diese irregulären Geldtransfers „Kapitalexporte aus den [europäischen] Kernländern in die Peripherie [Südeuropa und Irland], die in der Folge zum Verlust der Wettbewerbsfähigkeit der Krisenstaaten geführt haben.
Anders als etwa Deutschland, das damals, kurz nach der Euro-Einführung der „kranke Mann Europas“ genannt wurde, entwickelten sich die Volkswirtschaften der späteren Krisenstaaten eher prächtig. Diese Entwicklung aber kam nicht aus einem Produktivitätszuwachs der Vorkrisenstaaten, sondern durch Kapitalimporte und war somit angetrieben von Fremdkapital. Dieses Fremdkapital bestand hauptsächlich aus Direkinvestitionen europäischer Unternehmen und Banken in die Vorkrisenstaaten. Nun darf man bis hierhin festhalten, dass dies eine recht positive Entwicklung wäre, an der es wenig zu kritisieren gäbe, würden die Vorkrisenstaaten darauf achten, dass Löhne und Gehälter auf den Arbeitsmärkten sowie die Ausgaben in den Haushalten der Staaten die Einnahmen aus Produktivitätszuwachs und Kapitalakkumulation nicht übersteigen würden; schuldenfinanziert wäre die Entwicklung in den Volkswirtschaften jedenfalls nicht.
Deutschland, so Sinn, hat durch Lohnzurückhaltung und die sog. Agenda 2010 allmählich zu seiner Wettbewerbsfähigkeit zurückgefunden, die Vorkrisenstaaten produzierten für den Export ihrer Produkte und Dienstleistungen zu teuer und gaben zu viel Geld in die Staatshaushalte und waren sowohl in der Erzeugung von handelbaren Werten wie in den politischen Verwaltungen deutlich zu ineffizient. Die Vorkrisenstaaten nutzten die Kapitalexporte der europäischen Nachbarstaaten nicht wirklich für eine gesunde Entwicklung ihrer Märkte und sahen der Entwicklung von Boom-Märkten z.B. der Immobilienmärkte in Irland und Spanien tatenlos zu. Wie gesagt, haben gerade Banken aus Frankreich und Großbritannien bedenkenlos Kapital in diese Märkte exportiert, allen voran aber Deutschland, das zum größten Kapitalexporteur der EU und sogar weltweit aufstieg. Wir haben es also mit zwei Vorgängen zu tun, einmal die Kapitalexporte durch private Bankinstitute und private Unternehmen, andererseits mit negativen Lohn- und Haushaltseffekten.
Den Krisenstaaten die Entgegennahme von Direktinvestitionen als eine Art Fehlverhalten vorzuwerfen, ist schlicht Unsinn. Wie der Begriff schon sagt, sind Direktinvestitionen Investitionen in Unternehmen und stehen somit unter dem Verwertungs- und Renditekalkül der Kapitalgeber. In den Jahren zwischen 2003 bis 2007 waren die Kapitalimporte in die deutsche Wirtschaft ausgeblieben, Deutschland hatte die niedrigste Nettoinvestitionsquote aller Euroländer, das war alles andere als günstig für die wirtschaftliche Entwicklung des größten aller EU-Länder. Selbst die Investoren aus dem Inland legten damals ihre Gelder lieber in spanische, griechische und portugiesische Papiere an; deutsche Banken und Versicherungen exportierten damals also große Summen lieber ins Ausland, als sie in Deutschland zu investieren. Daran ist nicht einmal im konnotativen Bereich etwas verwerflich, wenn Kapitalgeber ihr Geld dort investieren, wo es bessere Renditen erzielt bei geringen bis überschaubaren Risiken. Und dabei bleibt zu beachten, dass Investitionsentscheidungen wie auch alle anderen Entscheidungen auf den Kapitalmärkten nicht von einem einzelnen Anleger abhängen, sondern immer von der Einschätzung der Marktentwicklung durch die Anleger, die dann, post festum, sich wieder in der Kursentwicklung einzelner Werte oder Indizes niederschlagen.
Dieser so trivial anmutende Sachverhalt, dass alles, was auf den Kapitalmärkten passiert, in einer sich ständig wechselnden, dynamischen Konstellation entwickelt, dass Entscheidungen nichts mit den alten Modellen von bidirektionalen Relationen zu tun haben, hat einige Auswirkungen auf das Verständnis integrierter Märkte und Währungsräume. So sehr, dass z. B. die Taylor-Regel in ihrer kurzen Theoriegeschichte schnell ins Wanken geriet und vollends mit der Gründung der Eurozone ihre Relevanz verlor.
Wir haben bereits in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass die unterstellten Wirkungen der geldpolitischen Maßregeln auf die Renditen aus Wechselkurswirkungen der geldpolitischen Maßnahmen theoretisch nicht nachweisbar ist. Insofern die theoretische Hypothese auch eine Wirkung auf den Außenhandel unterstellt, als dieser in der Transmission der Maßnahmen als wechselkurssensitiv betrachtet wird, bleiben in der Finanzmarktsicht auf die Eurozone besonders die Varianzen bei der Inflation und dem volkswirtschaftlichen Output (BIP) zu beachten.
Wir konnten nachzeichnen, das in der Eurozone die Zinsvarianz durch die Geldpolitik der EZB größer, als nach der Taylor-Regel zu erwarten war. Auch beim Output konnten keine regelgerechten Effekte nachgezeichnet werden. Beides zeigt deutlich, dass die Annahme eines konstanten Realzinses und dessen langfristiger Wirkung auf das Wirtschaftswachstum so einfach keine Gleichung eingehen wollen. Beide, Realzins und Wachstumsrate sind keine starren Größen und es ist ein Einfaches, beide in eine Beziehung zueinander zu setzen. Aber ob diese Beziehung mit einer mathematisierbaren Regel oder nach einem regelbasierten Muster verläuft, muss stark angezweifelt werden.
Wenn dem so ist, dann darf man die Geldpolitik einer Notenbank durchaus als in ihrer Wirkung dominant gegenüber der Realwirtschaft theoretisch ansprechen. Die realwirtschaftliche Wachstumsrate ist, einmal abgesehen von anderen Faktoren, in ihrer Wirkung gegenüber den Veränderungen des Realzinses, der durch geldpolitische Maßnahmen beeinflusst wird, weniger effektiv. Setzt man also den Zins als ein Resultat geldpolitischer Entscheidungen einer Notenbank und nicht als einen marktwirtschaftlichen Effekt der Realökonomie, dann verliert die Taylor-Regel auch ihre Bedeutung für die Zinsbestimmung und hat somit auch keine handlungsanleitende Steuerfunktion mehr.
Damit stellt sich aber die Frage, wonach die EZB ihre Zinsentwicklung ausrichtet oder steuert, umso mehr. Und was wäre, wenn die EZB in eire Art kostspieligem Versuch von Trial-and-Error den Zins bestimmt? Indem sie Wertpapiere in fast unbegrenzter Menge und höchst unterschiedlichster Qualitäten kauft, um die Inflationsrate bei durchschnittlichen 2 Prozent in der Eurozone zu bringen, was ihr auch nicht gelingen will. Dieses Spiel von Versuch und Irrtum verfängt am wenigsten bei jenen Volkswirtschaften, die auf der Basis starker Exportanteile und hoher Wettbewerbsfähigkeit arbeiten und die paradoxerweise von eben diesen varianten Maßnahmen am meisten profitieren. Denn die EZB hält durch ihre Geldpolitik die europäische Exportwirtschaft in Gang, hat zumindest einen signifikanten Anteil daran.
Deutschland hat wirtschaftlich gesehen die Abschaffung der D-Mark einiges an Wohlstand gebracht. Hätte die deutsche Wirtschaft noch die DM und nicht den im Vergleich schwachen Euro, dann würde es der deutschen Wirtschaft strukturell ähnlich gehen wie der Schweizer Wirtschaft mit ihrem starken Franken. Die Schweiz hat längst ihre Zinsautonomie verloren, wie wir festgestellt haben. Sie ist gezwungen, Zinsschritte der EZB ebenso nachzuvollziehen, wie dies die Deutsche Bundesbank mit der DM wäre. Und wie abhängig die europäischen und asiatischen Volkswirtschaften von der Politik der USA sind, zeigt sich heute allerorts.
Die Attacken auf die Zollvereinbarungen durch Donald T. zeigen, in welch geschlossenen Systemen die Politische Ökonomie von jenseits des Atlantiks bis auf die andere Seite des Pazifiks sich ausbreitet. Wie in kommunizierenden Röhren verhalten sich z.B. Japans Börsen auf die Zollandrohungen der US-Regierung gegenüber der Mexikos. Japans Börse reagierte direkt mit einem deutlichen Kursverlust auf die jüngsten Androhungen gegen Mexiko, wobei der Nikkei-Index sogar unter die Marke von 20 000 Punkten zu fallen droht, einer Marke, die bisher als fester Boden galt.
Wir haben auf diesen Zusammenhang mehrfach hingewiesen, dass Währungen in einem vernetzten Zusammenhang Politischer Ökonomien stehen, die den Weltball umläuft. Der japanische Yen ist dabei ganz besonders sensitiv gegenüber politischen Eingriffen in die globalen Handelsnetzwerke und dessen Kurs schießt plötzlich nach oben, wenn auf Japans großen Exportkonzernen gewinnbelastende Äußerungen aus dem Oval Office einwirken. Japans Automobilkonzerne stehen in einem Netzwerk aus Zulieferern und Logistikketten, in dem Mexiko zu einem bedeutenden Produktionsstandort innerhalb der nordamerikanischen Freihandelszone geworden ist; auch kaum ein deutscher Automobilkonzern produziert heute für den nordamerikanischen und dem Weltmarkt, ohne Mexikos Wertschöpfung.
Aus diesem Grund sind Zollattacken aus dem Oval Office direkt wirksam auf Wechselkurse und Gewinnmargen großer, internationaler Exportkonzerne, die nach Schätzungen von Arifumi Yoshida, Autoanalyst der Citi-Group Japan, von 4 Prozent bei Toyota bis auf bis zu 20 Prozent bei Renault-Nissan ansteigen könnten, Werte also, die durchaus als industriegefährdend eingestuft werden müssen. Dass es zu solchen Gewinneinbußen nicht kommt, liegt überwiegend daran, dass amerikanische Hedgefonds die moderate Bewertung japanischer Exportkonzerne für ihr Produktportfolio nutzen und damit den Wirkungen aus dem Oval Office entgegenwirken und darüber hinaus sogar noch den dort unbeliebten Effekt haben, dem hochbewerteten, amerikanischen Märkten auszuweichen.
Was wir heute also erleben, die Abhängigkeit vernetzter Märkte am Beispiel von Japan und seinen Hauptmärkten USA und China zeigen, dass die Kennziffern des Wachstums weltweit ins Wanken geraten sind um den Faktor der Politischen Ökonomie. Was in den Jahren vor Trumps Präsidentschaft wesentlich geräuschloser vonstattenging, kann kaum ein Ohr mehr unerhört belassen. Zollkriege dabei aber sind nicht die schweren Waffen, mit denen die USA ihre Vormachtstellung, politisch wie wirtschaftlich in der Welt verteidigen. Es sind Mittel zum Zweck, wobei der Zweck die Beeinflussung auf die Zinsentscheidungen der US-Notenbank ist. Notenbankpolitik der USA ist längst somit nicht mehr nur Geldpolitik, sondern Weltpolitik. Und in einem etwas kleinerem Maßstab trifft dies auch auf die EZB zu. Deren Maßnahmen sollten daher im Lichte der Politischen Ökonomie Europas betrachtet werden. Darin erscheint die Geldpolitik der EZB nicht mehr nur als eine Form der Wirtschafts- und Währungsstabilisierung, sondern gleichfalls als eine Art der Exportförderung bzw. der Unterstützung Europas als eines exportorientierten Produktionsstandortes im globalen Maßstab.
Wenn dies das diskrete Ziel der Geldpolitik Europas ist, werden einige der politischen Beschlüsse und Maßnahmen der EZB ein wenig deutlicher. Über den Währungsraum des Euros steuert die EZB also dann vornehmlich die Binnennachfrage innerhalb der Europäischen Gemeinschaft. Die EU hat diesen Vorteil gegenüber anderen Exportnationen, dass ihre Volkswirtschaften untereinander nicht wie Drittstaaten im Wettbewerb der Währungen stehen. So hat Deutschland ein riesiges Nettoauslandsvermögen und zugleich auch sehr hohe Target-Forderungen im Eurosystem, also gegenüber Abnehmerstaaten innerhalb der Eurozone aufgebaut. Beide „Konten“ zeigen auf eine durchaus erfolgreiche Exportnation, deren Empfänger sowohl private Körperschaften als auch öffentliche Abnehmer sind. Die Target-Forderungen erlauben keine präzise Kenntnis, welcher Anteil private und welcher Anteil öffentlichen „Schuldner“ zukommt; das ist mitnichten ein Zufall.
Es ist aber auch nicht unbedingt von dieser Bedeutung, dass Target-Forderungen sozusagen identisch sind mit Bundesbank-Überweisungen an Staaten der Eurozone, lediglich zum Schuldenausgleich. Betrachtet man die Target-Forderungen aus heutiger Gesamtsicht, dann stellt man nicht nur eine absolute Summe fest, sondern ein „Auf-und-Ab“ im Target Konto, dass sich nicht aus der Staatenfinanzierung allein ergeben kann, da diese insgesamt überwiegend aus langlaufenden Kreditzusagen bestehen. Wir haben an Griechenland diskutiert, wie solche Zusagen mittlerweile eine Duration von über dreißig Jahren erreichen konnten und so sind auch die Zusagen an die anderen Krisenstaaten mittlerweile verfasst.
Unter dem sperrigen Kürzel „TLTRO“, was für „Targeted Longer-Term Refinancing Operation“ steht und gezielte, längerfristige Refinanzierungsgeschäfte bedeutet firmieren Kredite für Geschäftsbanken mit einer Laufzeit von mehreren Jahren. Das Ziel der EZB bei diesen speziellen Liquiditätsspritzen ist es, die Kreditvergabe im Währungsraum zu befeuern. Sie sind daher so gestaltet, dass Banken Anreize erhalten, Darlehen an die Wirtschaft zu geben und so die Importe durch die Krisenstaaten innerhalb der Eurozone auf einem hohen Niveau zu halten.
Die jüngste Serie dieser Geldsalven unter TLTRO-III war mit sehr günstigen Konditionen für die europäischen Geschäftsbanken ausgestattet. So erhielten Institute die Gelder zum Nulltarif, denn bei ihnen wurde der Leitzins von 0,0 Prozent veranschlagt. Darüber hinaus winkt ihnen eine Prämie von bis zu 0,4 Prozent, wenn sie nachweislich mehr Kredite vergeben. Die Laufzeit betrug vier Jahre. Mit dieser Konstruktion sollte erreicht werden, dass das Geld tatsächlich auch in Form von Darlehen zur Stützung der Konjunktur in der Wirtschaft ankommt. Wir haben es hier also mit einer strukturell ähnlichen Situation zu tun, die in der Exportwirtschaft gerade mit weniger liquiden Staaten Gang und Gäbe ist. Wer ein Kraftwerk in die Türkei oder nach Lateinamerika oder Afrika verkaufen möchte, muss in der Regel auch ein Finanzierungskonzept gleich mitliefern, zu dem Bankverbindungen und Hermes-Kredite z. B. gehören.
Betrachten wir die Vorgänger-Version dieser Art Liquiditätshilfen aus dem TLTRO-II Programm, dann sehen wir vor allem Banken in Italien, Spanien und Frankreich als deren intensivste Nutznießer: Auf italienische Geldhäuser entfielen Anfang 2019 noch ausstehende Langfristkredite in Höhe von annähernd 240 Mrd. Euro, spanische Institute werden mit rund 167 Mrd. Euro aufgeführt, Banken aus Frankreich mit etwa 112 Mrd. Euro. Für Institute in Deutschland ergibt sich ein Kreditvolumen von etwa 88 Mrd. Euro. Nach einer früheren Analyse des spanischen Bankhauses BBVA steht für einen Großteil der TLTRO-II-Gelder die Rückzahlung im Juni 2020 an. Und im Juni 2019 wurden die bereits sehr günstigen Bedingungen für Langzeitkredite, nun auf zwei Jahre begrenzt, was aber keine substanzielle Verschlechterung ist, durch das TLTRO-III Programm fortgeführt mit der Begründung unsicherer Märkte durch Brexit, Handelskonflikt und europa-interne Schwierigkeiten, vor allem in Italien.
Damit greift die EZB den Banken mit sichtbar großzügigen Zinskonditionen für die neuen Langfristkredite unter die Arme und verfolgt ein geldpolitisches Ziel, mit diesen speziellen Liquiditätsspritzen die Kreditvergabe im Währungsraum zu beflügeln und großzügig Darlehn an die Wirtschaft zu vergeben. Die neuen EZB-Darlehn dienen aber zuerst der Anschlussfinanzierung der noch ausstehenden Langfristkredite, von denen aktuell die oben genannten von Banken in Italien, Spanien und Frankreich prolongiert werden müssen. Aber damit nicht getan, denn zwei Punkte sind hierbei zu bedenken.
Erstens ist das eigentliche Ziel des neuen Kreditprogramms eine Abmilderung des sog. Klippeneffektes2, der sich durch die Fälligkeit von über 50% des gesamten letzten Programms, davon die Hälfte in lediglich zwei Ländern, Italien und Spanien, zum gleichen Zeitpunkt ergibt. Wenn die Hälfte der Kredite zur Absicherung gegenüber stark gestiegener Ausfallwahrscheinlichkeit verwendet werden muss, darf die Stirn bereits mehr als Sorgenfalten zeigen.
Zweitens kommt dieses Programm zu einem falschen Zeitpunkt. Es käme richtig, würde die EZB im aktuellen „Bank Lending Survey“ eine Verknappung des Kreditangebots ausweisen; dem ist aber nicht so. Diese vierteljährliche, qualitative Umfrage zum vergangenen und erwarteten, zukünftigen Kreditvergabeverhalten der teilnehmenden Bankinstitute gegenüber dem privaten, nichtfinanziellen Sektor, sowie zur Nachfrageentwicklung insgesamt weist aber keine Dringlichkeit für die Auflage eines so schwergewichtigen Instruments der Geldpolitik aus.
Weder kann also als Voraussetzung für das TLTRO-III Programm eine prozyklische Krediteinschränkung herangezogen werden wie auch keine geldpolitische Begründung aus einer erkennbaren Eintrübung der Preisaussichten, sprich Inflation. Eher darf man für die nähere Zukunft von einer gleichbleibend niedrigen Inflationsrate im gesamten Eurogebiet ausgehen sowie von einer eher rückläufigen Kreditnachfrage der Privatwirtschaft aufgrund sich eintrübender Konjunkturaussichten, speziell für die Exportstaaten.
Wir haben es also wieder mit Entscheidungen der EZB zu tun, die sich nicht aus ihrem Mandat der Sicherung der Geldwertstabilität ableiten lassen. Die Abwehr von Klippeneffekten sowie eine künstliche Aufblähung der Liquidität privater Bankinstitute jedenfalls gehören nicht dazu. Warum also besteht die EZB weiter auf die dritte Auflage von Langfristkrediten?
Die kaum noch bemühte semantische Verschleierung der wahren Absichten der europäischen Geldpolitik deuten vernehmbar darauf hin, dass neben dem Ziel einer präventiven Bankenrettung nun die Stärkung des Wettbewerbs der überwiegend exportorientierten, europäischen Wirtschaft gegenüber China und den USA im Vordergrund steht. Mit der Stärkung des Wettbewerbs im Exportbereich wird zugleich auch eine Stärkung der EU-Staatengemeinschaft erreicht, also ein Selbstschutzmechanismus der Wirtschaftsgemeinschaft in Gang gesetzt.
Für die Vertreter der europäischen Exportwirtschaft sind dies gute Nachrichten, weiß sie doch nun, wo das Geld, das sie erwirtschaftet, herkommt. Käme es von mit Ausfällen an Kreditwürdigkeit bzw. Liquidität bedrohten Unternehmen, wäre die Lage sicherlich gefährlicher und schlüge sich sogleich auf das Investitionsverhalten und die Arbeitsmärkte nieder. Nun aber vertraut die Exportwirtschaft nicht mehr nur ihrer eigenen Wettbewerbsfähigkeit, sondern erhält massive Unterstützung durch die Regierungen der Eurozone, indem sie die Binnennachfrage in Europa künstlich hochhält. Ginge es mit rein marktwirtschaftlichen Mechanismen rechtens zu, wäre die Eurozone längst auseinandergebrochen und die gesunden Exportwirtschaften im Euro verloren; das gesamte Experiment Europa müsste wohl rückabgewickelt werden, wobei niemand sagen kann, wie dies gehen könnte, ist schon der Brexit zu einem scheinbar unlösbaren Problem geworden.
So sind die 27 plus 1 Staaten der EU in einer Art Zwangsgemeinschaft gefangen, ohne, dass direkt Zwang ausgeübt wurde und gefangen wie in einem goldenen Käfig, denn außerhalb der EU wäre das Leben für alle einzelnen Volkswirtschaften erheblich schwieriger, was Großbritannien langsam zu begreifen beginnt. TLTRO-III ist nichts weniger, als ein künstliches Investitionsprogramm für den Kauf von Gütern innerhalb der EU mittels Notenbank-Darlehn. Eine Begründung dieses Programmes durch eine bedrohliche Krisensituation ist im engeren Sinne nicht gegeben, ebenso wenig ist es legitimiert durch die Wettbewerbssituation zwischen China, den USA und Europa. Die EZB-Darlehn haben überdies noch den Charakter einer indirekten Zwangsanleihe, da die Bürger der Eurozone in direkter, die Bürger der EU ohne den Euro in einer Art indirekter Haftung stehen.
Die Haftungsmodalitäten differenzieren sich recht einfach darin, dass eine Form der Haftung sich aus der Verwendung der Darlehnsströme ergibt, die andere aus deren Saldierung. Die Target-2 Salden nehmen dabei den unrühmlichen Part ein, nicht nur ohne Zustimmung der haftenden Steuerzahler anzuwachsen und als eine Art Ewigkeitsschuld auf die folgenden Generationen überschrieben werden, sondern die haftenden Bürger auch in völliger Ungewissheit darüber lassen, was im Falle einer trotz gegenteilig beteuernden Bekenntnissen, dass dies immer weniger wahrscheinlich würde, eintretenden Insolvenz von Banken des Eurosystems mit der Haftungssumme passiert. Bedenkt man die Ansteckungsgefahr im Euro-Bankensystem, dann ist es hoch wahrscheinlich, wenn ein großes Institut in Schieflage geraten sollte, schnell ein Dominoeffekt eintritt, wie wir ihn in der Krise im Interbankenhandel gesehen haben. Allein deshalb ist die Gefahr der Insolvenz eines einzelnen Instituts plus Ansteckungsgefahr auf viele Institute nicht zu unterschätzen, weil ja die Target-Forderungen zum großen Teil aus Refinanzierungskrediten bestehen, die den Banken der Euro-Krisenländer gewährt worden sind.
Da also die Krisenstaaten nicht direkt auf den Finanzmärkten ihre Staatsfinanzierungen sicherstellen konnten, hat sich ein Schattenmarkt der Staatenfinanzierung, eine Form der indirekten Finanzierung aufgebaut, deren Forderungen sich in den Target-2 Salden akkumuliert haben. In diesem durch die Gelddurchreichungen von der EZB über die nationalen Notenbanken und Geschäftsbanken geschaffenen Schattenmarkt der Inter-Staaten-Finanzierung sind die Bürger in eine Haftungsgemeinschaft gezwungen worden, die gleichsam als ein Nebenprodukt der parlamentarischen Absegnungen der Stabilisierungsmechanismen der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion in den Alltag der Bürger gesetzt worden ist.
Und dabei haben die Regierungen zweitens noch ein anderes Grundprinzip, neben dem No-Bail-Out Prinzip, außer Kraft gesetzt, nämlich das Grundprinzip der vertraglichen Haftung, im Sinne einer nationalen Amtshaftung, die nun in die Form einer Staatshaftung übergegangen ist. Was immer auch mit den Geldern der EZB in den Ländern geschieht, Europas Bürger haften dafür und nicht die Bürger des einzelnen Mitgliedsstaates. Die Target-2 Salden sind wie vollgeschriebene Bierdeckel, auf die verschiedene Gäste der Kneipe haben anschreiben lassen und für die im Falle der privaten Insolvenz eines Tages jene Gäste zur Kasse gebeten werden, die dann – zufällig – in der Gastwirtschaft auf ein Bierchen zu Besuch sind. Und wie in diesem Beispiel, in dem der Wirt seine zahlungsunfähigen Gäste nicht mit einem Bier oder einem Glas Wasser bewirtet hat, sondern die Gäste mit allem bediente, was sie sich wünschten, so ist es auch mit den EZB-Darlehn.
Die EZB lässt wie der Wirt einfach anschreiben, ohne, wie etwa ein normales Pfandhaus echte, marktgängige Gegenwerte für den Bierkonsum einzubehalten. Was also haben die Bürger der Eurozone für die Darlehn ihrer Regierungen bekommen? Bleiben wir im Blick auf das Rechtsverhältnis fokussiert, dann haben sie nichts bekommen. Es liegen nirgendwo marktgängige Vermögenswerte im Rechtsanspruch der geldgebenden Bürger und deshalb kann es auch nicht wie in einem Pfandleihhaus einen Zins geben, den die Bürger für die Zeit der Nicht-Liquidierung dieser Vermögenswerte erheben könnten. Es gab eine kurze Zeit sogar die Überlegung, die Empfängerstaaten könnten doch als Pfänder ein paar der schönen Urlaubsinseln oder das Pantheon verpfänden; was für ein Genius war dort am Werke?
Wir haben bereits darauf verwiesen, dass die EZB-Darlehn wie alle Rettungsschirme ein Problem nicht lösen, das Verwendungsproblem. Europas Bürger stehen zwar in einer Form der unfreiwilligen Haftungsgemeinschaft zusammen für die miserablen Haushaltsführungen und wirtschafts- sowie fiskalpolitischen Unzulänglichkeiten ihrer Regierungen ein, können aber nicht sicher sein, dass die Haftungssummen auch vernünftig genutzt, sinnvoll eingesetzt werden. Würde die EZB parlamentarisch kontrolliert, hätte sie wohl sich mit der Erfüllung ihres eigentlichen Zwecks der geldpolitischen Steuerung zufriedengeben müssen. Wir können die Target-2 Salden zwar dahingehend betrachten, dass sie die Geldströme bilanzieren, die sich daraus ergeben, dass die Krisenstaaten ihre Leistungsbilanzdefizite mit den anderen Staaten der Eurozone durch Kredite bzw. Darlehn aus dem Euroraum refinanzieren. Aber in diesen Salden sind auch die Refinanzierungssummen enthalten, die mit Teilen der Eurozonen-Darlehn auch die Zahlungsbilanzdefizite der Krisenstaaten mit Staaten außerhalb der Eurozone ausgeglichen werden; es bleibt also nicht alles in der Familie wie bei Muttern.
Da die Target-Forderungen jene Gelder bilanzieren, die Staaten der Eurozone gegen öffentliche und private Institute des Eurosystems halten, ohne diese genau differenzieren zu können, besonders in Hinblick auf die Verwendung großer Teile dieser Gelder, ist zwar die Haftung der Bürger eindeutig, aber nicht der Sinn dieser Rettungs- bzw. Stabilisierungsmechanismen. Bei einer Privatinsolvenz muss der Bürger alle seine Einnahmen offenlegen, die ab einer gewissen Höhe mit den Überweisungen aus den Sozialkassen verrechnet werden; nicht so im Euro-[Staats]gebiet. Es liegt nicht wie damals im Bretton-Woods-System Gold als Sicherheit für die Schulden der Staaten in Fort Knox oder anderen Tresoren; nichts liegt mehr irgendwo.
Heute bestimmen sich die Wechselkurse der Währungen, also deren Werte, allein durch Angebot und Nachfrage auf den Märkten. Konnte früher im Bretton-Woods-System z.B. Frankreich darauf bestehen, sein Gold in Sicherheit zu bringen, welches in der amerikanischen Schatzkammer lag und einen Teil der amerikanischen Ausgaben für Güterkäufe und weltweite Handelsgeschäfte sowie die Finanzierung des Vietnamkriegs usw. bewährte, so ist dies heute als politischer Eingriff in die Staatensouveränität nicht mehr möglich. Allein die Finanzmärkte sagen heute auf eine eigene Art und Weise, ob sie sich an der Finanzierung und Refinanzierung staatlicher Politik beteiligen, in welcher Höhe, oder gar nicht. Für die Regierungen sind also die weltweiten Finanzmärkte ein Fortschritt in Richtung Autonomie, da keine andere Regierung durch Abzug von Gold der Politik einer Regierung widersprechen, oder, wie im Falle von Deutschland, durch Zusicherung des Nicht-Abzugs von seinen Goldreserven, Teil ausländischer Regierungspolitik bleibt. Die Goldreserven sind heute nicht mehr als eine Art „Notgroschen“ für den Staat und für die Ausgabe von Gedenkmünzen nützlich. Auch sein Wert ist Teil der sog Commodities und bestimmt sich durch Angebot und Nachfrage auf den Finanzmärkten, speziell dem sog. Gold-Spot Markt.
Mit dem Ende des Bretton-Woods-System kam auch das Ende des direkten politischen Eingriffs einer Regierung in die Politik einer anderen Regierung. 1968 beendete der französische Präsident Charles De Gaulle nicht nur den Goldstandard der Währungen, als er gegen die Politik der USA in Indochina protestierend die französischen Goldreserven per U-Boot nach Paris holen ließ. Danach etablierte sich langsam der Dollar-Kurs als weltweiter Währungsreferenzkurs und entmachtete alle anderen Währungen. Der Satz: Geld ist Macht hat also allenfalls noch einen Sinn, meint man damit den US-Dollar. Aber auch eine amerikanische Regierung kann nicht tun und lassen, was sie will.
Denn ihr politisches Handeln muss auch den Dollarkurs im Auge habe, speziell die wichtigsten Währungsrelationen, die die amerikanischen Bürger nicht nur in einer Form der weltweiten Wirtschaftsgemeinschaft bedeuten, sondern auch in einer Art Haftungsgemeinschaft, die im Falle der USA als eine Art privilegierter Haftungsgemeinschaft bezeichnet werden darf.
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[title]Begriffe – Anmerkungen – Titel – Autoren[/title]
TLTRO-III – Klippeneffekten – Schattenmarkt der Staatenfinanzierung – Staatshaftung
1 Siehe: Bundesfinanzministerium
2 Vom Klippen-Effekt spricht man vor allem bei der Herabstufung der Kreditwürdigkeit durch die Ratingagenturen. Hier hat die Herabstufung um nur wenig Prozentpunkte häufig gravierende Folgen. Obwohl sich eine Ratingnote von AAA zu AA+ nur um 0,01 Prozent in der Ausfallwahrscheinlichkeit unterscheidet, können die Folgen für einen Schuldner wesentlich schwerwiegender sein. So kann eine solche geringfügige Herabstufung zu starken Anleiheverkäufen von Versicherungen und Pensionsfonds führen da sie nur Papiere über „investment grade“ in ihren Depots halten dürfen.
3 Deutschland besitzt die zweitgrößten Goldreserven der Welt. Im Dezember 2017 umfasste der Goldschatz etwa 270.000 Barren mit einem Gesamtgewicht von etwa 3374 Tonnen. Mehr Gold halten nur die USA vor. Ihre Goldreserven lagen zuletzt bei 8134 Tonnen.
Ende 2016 waren die deutschen Goldreserven etwa 119,3 Milliarden Euro Wert. Damit stellte der Goldbestand zwei Drittel der deutschen Währungsreserven. Der Rest entfällt laut der Bundesbank auf Devisenreserven und Forderungen gegenüber dem Internationalen Währungsfonds (IWF).
Laut Mitteilung des Finanzinstituts lagert gut die Hälfte des Goldes in Tresoren der Bundesbank in Deutschland.
Etwa 13 Prozent lagern im Tresor der Bank of England. London ist der wichtigste Handelsplatz für das Edelmetall. Das Depot in Paris wurde auch infolge der Euro-Einführung aufgelöst. Die letzten Goldbestände wurden 2017 nach Frankfurt am Main überführt.
Die Bundesbank holte in den vergangenen Jahren 111 Tonnen Gold von New York zurück auf deutschen Boden. Damit wurde das Ziel umgesetzt, bis 2020 die Hälfte der Goldreserven in Deutschland zu verwahren.
1968 erreichten die deutschen Goldreserven ihren Höchststand mit 4034 Tonnen. Das Gold stammte vor allem von der FED, der Bank of England und der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich in Basel, die innerhalb der Europäischen Zahlungsunion als Abrechnungsstelle diente.
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